Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
wesentlich andere Anschauung auch ein wesentlich anderes Material fordert
weſentlich andere Anſchauung auch ein weſentlich anderes Material fordert <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0164" n="152"/> weſentlich andere Anſchauung auch ein weſentlich anderes Material fordert<lb/> und dadurch eine ſelbſtändig neue Kunſt bildet. So ſcheidet ſich zunächſt<lb/> die Malerei, da ſie nur den Schein der wirklichen Körperlichkeit auf<lb/> eine Fläche vermittelſt eines Materials legt, das nach ſeiner Körperlichkeit<lb/> eigentlich gar nicht in Betracht kommt, von der Baukunſt und Plaſtik<lb/> als eine ſelbſtändige Kunſt ab. Baukunſt und Plaſtik haben in gewiſſem<lb/> Sinn ihr Material gemein: den ſchweren, in ſeiner wirklichen Ausdehnung<lb/> geltenden Körper; die Baukunſt als Kunſt des meſſenden Sehens bildet<lb/> ihn abſtract geometriſch, die Plaſtik als Kunſt des taſtenden Sehens,<lb/> deſſen Gegenſtand die Welt der individuellen, organiſchen Oberflächen iſt,<lb/> ſchafft ihn zur ſchönen, leiblich gediegenen Erſcheinung der Seele um;<lb/> jenes iſt ſtrenge, dieſes ſubjectiv beſeelte Objectivität; die Malerei aber,<lb/> eben weil ſie einen bloßen Schein von Ausdehnung auf die Fläche wirft,<lb/> liegt der reinen Subjectivität der Muſik näher und bezeichnet den Ueber-<lb/> gang der bildenden Kunſt in dieſe Form. Hier ſtellt alſo die Plaſtik<lb/> offenbar die Mitte dar, während im ganzen Syſtem der Künſte das Sub-<lb/> jectiv-Objective den Schlußpunct bildet; der Grund davon liegt in der<lb/> eben genannten Bedeutung der Muſik ausgeſprochen: es iſt die Stellung<lb/> der bildenden Kunſt auf der erſten Stufe des Syſtems, ihr Hinausweiſen,<lb/> Hinaufdringen zur ſubjectiven Kunſtform, was hier die ſtreng objective<lb/> Kunſt voran, die ſubjectiv-objective in die Mitte, die ſubjective (innerhalb<lb/> des objectiven Gebiets) an die Grenze ſtellt. Warum die Muſik in ſo be-<lb/> deutende Unterſchiede nicht auseinanderfällt, läßt ſich aus ihrer ſubjectiven<lb/> Natur bereits erratben. Die Poeſie wiederholt als die Kunſt der ganzen<lb/> ſich in ſich ſelbſt bewegenden Phantaſie in Epos, Lyrik, Drama die ganze<lb/> Stufenfolge der Künſte in ſich, ebenhiemit aber das ganze Syſtem der<lb/> Aeſthetik, denn das Epos iſt objectiv und entſpricht der bildenden Kunſt<lb/> und im Syſteme dem Naturſchönen, die lyriſche Dichtung ſubjectiv und<lb/> entſpricht der Muſik und im Syſteme der Phantaſie, das Drama ſubjectiv-<lb/> objectiv und entſpricht der Poeſie ſelbſt und im Syſteme der Kunſt.<lb/> Hiemit beſtätigt ſich die Schlußbemerkung zu §. 537, daß die Bewegung<lb/> der Rückkehr des Syſtems in ſich noch tiefer dringen werde. Aber in<lb/> dem geiſtig flüſſigen Elemente dieſer höchſten Kunſtform, die kein Material<lb/> im gewöhnlichen Sinne mehr hat, werden dieſe Arten nicht zu ſelbſtän-<lb/> digen Kunſtformen; wenn wir ſie bloße Zweige nennen, ſo iſt damit der<lb/> Uebergang zu der folgenden Untereintheilung der Künſte mit dem Vorbehalte<lb/> gegeben, daß keine Kunſt einen ſo bedeutenden Formen-Unterſchied entwickeln<lb/> werde, wie dieſe, daß alſo die Zweige der andern Künſte nicht die bedeu-<lb/> tende Stellung einnehmen, wodurch ſie dem entſprächen, was in anderem<lb/> Gebiete in der Form von ſelbſtändigen Künſten auftritt, wie dieß bei<lb/> den Arten der Poeſie der Fall iſt. Es zeigt ſich hier eine intereſſante<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [152/0164]
weſentlich andere Anſchauung auch ein weſentlich anderes Material fordert
und dadurch eine ſelbſtändig neue Kunſt bildet. So ſcheidet ſich zunächſt
die Malerei, da ſie nur den Schein der wirklichen Körperlichkeit auf
eine Fläche vermittelſt eines Materials legt, das nach ſeiner Körperlichkeit
eigentlich gar nicht in Betracht kommt, von der Baukunſt und Plaſtik
als eine ſelbſtändige Kunſt ab. Baukunſt und Plaſtik haben in gewiſſem
Sinn ihr Material gemein: den ſchweren, in ſeiner wirklichen Ausdehnung
geltenden Körper; die Baukunſt als Kunſt des meſſenden Sehens bildet
ihn abſtract geometriſch, die Plaſtik als Kunſt des taſtenden Sehens,
deſſen Gegenſtand die Welt der individuellen, organiſchen Oberflächen iſt,
ſchafft ihn zur ſchönen, leiblich gediegenen Erſcheinung der Seele um;
jenes iſt ſtrenge, dieſes ſubjectiv beſeelte Objectivität; die Malerei aber,
eben weil ſie einen bloßen Schein von Ausdehnung auf die Fläche wirft,
liegt der reinen Subjectivität der Muſik näher und bezeichnet den Ueber-
gang der bildenden Kunſt in dieſe Form. Hier ſtellt alſo die Plaſtik
offenbar die Mitte dar, während im ganzen Syſtem der Künſte das Sub-
jectiv-Objective den Schlußpunct bildet; der Grund davon liegt in der
eben genannten Bedeutung der Muſik ausgeſprochen: es iſt die Stellung
der bildenden Kunſt auf der erſten Stufe des Syſtems, ihr Hinausweiſen,
Hinaufdringen zur ſubjectiven Kunſtform, was hier die ſtreng objective
Kunſt voran, die ſubjectiv-objective in die Mitte, die ſubjective (innerhalb
des objectiven Gebiets) an die Grenze ſtellt. Warum die Muſik in ſo be-
deutende Unterſchiede nicht auseinanderfällt, läßt ſich aus ihrer ſubjectiven
Natur bereits erratben. Die Poeſie wiederholt als die Kunſt der ganzen
ſich in ſich ſelbſt bewegenden Phantaſie in Epos, Lyrik, Drama die ganze
Stufenfolge der Künſte in ſich, ebenhiemit aber das ganze Syſtem der
Aeſthetik, denn das Epos iſt objectiv und entſpricht der bildenden Kunſt
und im Syſteme dem Naturſchönen, die lyriſche Dichtung ſubjectiv und
entſpricht der Muſik und im Syſteme der Phantaſie, das Drama ſubjectiv-
objectiv und entſpricht der Poeſie ſelbſt und im Syſteme der Kunſt.
Hiemit beſtätigt ſich die Schlußbemerkung zu §. 537, daß die Bewegung
der Rückkehr des Syſtems in ſich noch tiefer dringen werde. Aber in
dem geiſtig flüſſigen Elemente dieſer höchſten Kunſtform, die kein Material
im gewöhnlichen Sinne mehr hat, werden dieſe Arten nicht zu ſelbſtän-
digen Kunſtformen; wenn wir ſie bloße Zweige nennen, ſo iſt damit der
Uebergang zu der folgenden Untereintheilung der Künſte mit dem Vorbehalte
gegeben, daß keine Kunſt einen ſo bedeutenden Formen-Unterſchied entwickeln
werde, wie dieſe, daß alſo die Zweige der andern Künſte nicht die bedeu-
tende Stellung einnehmen, wodurch ſie dem entſprächen, was in anderem
Gebiete in der Form von ſelbſtändigen Künſten auftritt, wie dieß bei
den Arten der Poeſie der Fall iſt. Es zeigt ſich hier eine intereſſante
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