Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.moralischen Welt, wenn Bös und Gut unmittelbar aneinandergerückt moraliſchen Welt, wenn Bös und Gut unmittelbar aneinandergerückt <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <pb facs="#f0048" n="36"/> <hi rendition="#et">moraliſchen Welt, wenn Bös und Gut unmittelbar aneinandergerückt<lb/> wird, ebenſo, denn das Böſe enthält die guten Kräfte gegen ihre Beſtimmung<lb/> gedreht in ſich. Wir verweilen auch hier nicht bei den einzelnen Künſten,<lb/> nicht bei dem Gegenſatze der Hauptlinien in der Baukunſt: dem Antagonismus<lb/> der Hauptformen und Bewegungen, des Feſten und Weichen, der Wölbungen<lb/> und Flächen, der ſcharfen Winkel und Bogenlinien (Feuerbach D. vatican.<lb/> Apollo S. 59.) in der plaſtiſchen Darſtellung des einzelnen Körpers,<lb/> der Charaktere, Leidenſchaften, Formen in der Gruppe, überſpringen das<lb/> für dieſen Satz beſonders fruchtbare Feld der Malerei, deuten in der<lb/> Muſik nur auf die vollen Diſſonanzen der Tonleiter, das gleichzeitige<lb/> Ertönen der entgengeſetzten Hauptſtimmen und verſchiedenen Melodien<lb/> hin und faßen nur die größere poetiſche Compoſition wieder genauer ins<lb/> Auge, und zwar an den ſchon gebrauchten Beiſpielen. Man ſehe, wie<lb/> in Romeo und Julie die Gegenſätze der Liebe und des Haßes, der Freuden<lb/> des Feſtes und der Schauder der Todtengruft zum vollen Gegenſtoß wie<lb/> das hellſte Licht und das tiefſte Schwarz aneinandergerückt ſind, wie ferner<lb/> die Perſonen einander in vielfachem vollem Contraſte gegenüberſtehen,<lb/> ſowohl von beiden Seiten, als innerhalb der einzelnen Seite, denn nicht<lb/> nur die beiden Häuſer, alſo insbeſondere Romeo dieſſeits, Capulet und<lb/> Tybalt jenſeits, ſondern auch die Charaktere in denſelben ſtehen ſich<lb/> gegenüber: Julie iſt durch die Amme, dann durch ihre Eltern, und zwar<lb/> mehr durch die Mutter, als den Vater, endlich durch den wilden Tybalt<lb/> wie ein Diamant durch dunkle Farbe gehoben, dann ſteht der ächten Liebe noch<lb/> die Erwerbung des Mädchens vermittelſt Elternzwangs durch Paris entgegen.<lb/> In Richard <hi rendition="#aq">III:</hi> dieſer ſelbſt und die unſchuldigen Kinder Eduards, dann<lb/> Richmond (voller, unmittelbar auch ſceniſch zuſammengerückter Contraſt<lb/> vorzüglich in der Geiſterſcene.) In Macbeth: dieſer mit ſeiner Gattinn<lb/> und der gnadenreiche Duncan, der biedere Banquo, Schmaus und<lb/> furchtbare Geſpenſter-Erſcheinung. Im König Lear: Cordelia und ihre<lb/> Schweſtern, Edgar und Edmund, Kent und Oswald. Man denke ferner<lb/> an Othello und Jago, Desdemona und Emilie, und ſehe, wie hier<lb/> nicht nur Ehrlichkeit, Offenheit einer großen Seele und Argliſt, Adel der<lb/> Liebe und Gemeinheit, ſondern überhaupt der edeln, ächten Ehe die<lb/> ſchmutzige, die jeden Flecken und Verdacht unverſehrt erträgt, gegenüber<lb/> geworfen iſt; man denke an den unentſchloßenen Hamlet und den<lb/> entſchloßenen Laertes. Aus der neuern Poeſie wählen wir Göthes Fauſt,<lb/> weil in dieſem Werke gerade die fruchtbarſten Contraſte nicht im Stoffe<lb/> gegeben waren, ſondern ganz dem Dichter gehören; ſo iſt Wagner in<lb/> der Sage durchaus nicht das, was er im Gedicht iſt; die Folie, die<lb/> durch vollen Gegenſatz den Geiſt des Helden in doppelt helles Licht ſetzt;<lb/> Marthe und mit ihr der Contraſt gegen Gretchen iſt in derſelben gar<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [36/0048]
moraliſchen Welt, wenn Bös und Gut unmittelbar aneinandergerückt
wird, ebenſo, denn das Böſe enthält die guten Kräfte gegen ihre Beſtimmung
gedreht in ſich. Wir verweilen auch hier nicht bei den einzelnen Künſten,
nicht bei dem Gegenſatze der Hauptlinien in der Baukunſt: dem Antagonismus
der Hauptformen und Bewegungen, des Feſten und Weichen, der Wölbungen
und Flächen, der ſcharfen Winkel und Bogenlinien (Feuerbach D. vatican.
Apollo S. 59.) in der plaſtiſchen Darſtellung des einzelnen Körpers,
der Charaktere, Leidenſchaften, Formen in der Gruppe, überſpringen das
für dieſen Satz beſonders fruchtbare Feld der Malerei, deuten in der
Muſik nur auf die vollen Diſſonanzen der Tonleiter, das gleichzeitige
Ertönen der entgengeſetzten Hauptſtimmen und verſchiedenen Melodien
hin und faßen nur die größere poetiſche Compoſition wieder genauer ins
Auge, und zwar an den ſchon gebrauchten Beiſpielen. Man ſehe, wie
in Romeo und Julie die Gegenſätze der Liebe und des Haßes, der Freuden
des Feſtes und der Schauder der Todtengruft zum vollen Gegenſtoß wie
das hellſte Licht und das tiefſte Schwarz aneinandergerückt ſind, wie ferner
die Perſonen einander in vielfachem vollem Contraſte gegenüberſtehen,
ſowohl von beiden Seiten, als innerhalb der einzelnen Seite, denn nicht
nur die beiden Häuſer, alſo insbeſondere Romeo dieſſeits, Capulet und
Tybalt jenſeits, ſondern auch die Charaktere in denſelben ſtehen ſich
gegenüber: Julie iſt durch die Amme, dann durch ihre Eltern, und zwar
mehr durch die Mutter, als den Vater, endlich durch den wilden Tybalt
wie ein Diamant durch dunkle Farbe gehoben, dann ſteht der ächten Liebe noch
die Erwerbung des Mädchens vermittelſt Elternzwangs durch Paris entgegen.
In Richard III: dieſer ſelbſt und die unſchuldigen Kinder Eduards, dann
Richmond (voller, unmittelbar auch ſceniſch zuſammengerückter Contraſt
vorzüglich in der Geiſterſcene.) In Macbeth: dieſer mit ſeiner Gattinn
und der gnadenreiche Duncan, der biedere Banquo, Schmaus und
furchtbare Geſpenſter-Erſcheinung. Im König Lear: Cordelia und ihre
Schweſtern, Edgar und Edmund, Kent und Oswald. Man denke ferner
an Othello und Jago, Desdemona und Emilie, und ſehe, wie hier
nicht nur Ehrlichkeit, Offenheit einer großen Seele und Argliſt, Adel der
Liebe und Gemeinheit, ſondern überhaupt der edeln, ächten Ehe die
ſchmutzige, die jeden Flecken und Verdacht unverſehrt erträgt, gegenüber
geworfen iſt; man denke an den unentſchloßenen Hamlet und den
entſchloßenen Laertes. Aus der neuern Poeſie wählen wir Göthes Fauſt,
weil in dieſem Werke gerade die fruchtbarſten Contraſte nicht im Stoffe
gegeben waren, ſondern ganz dem Dichter gehören; ſo iſt Wagner in
der Sage durchaus nicht das, was er im Gedicht iſt; die Folie, die
durch vollen Gegenſatz den Geiſt des Helden in doppelt helles Licht ſetzt;
Marthe und mit ihr der Contraſt gegen Gretchen iſt in derſelben gar
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