Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
Gegensätze, sich zu Accorden auflösende Dissonanzen entwickelt, an ver-
Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0057" n="45"/> Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver-<lb/> ſchiedene Stimmen, Töne vertheilt, ſie wechſelnd und wieder ſammelnd<lb/> beſchäftigt, ſo daß hier die Bewegung pauſirt, zurückbleibt, während ſie<lb/> dort fortſchreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor-<lb/> geeilten ſich in einen Knoten, wie in ein ſtarkes, deutlich bindendes Gelenk<lb/> zuſammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Diſſonanzen, Tren-<lb/> nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und<lb/> ſo fort, bis der Grundgedanke völlig erſchöpft im Schluße alle Töne und<lb/> Tonreihen in Eins verſammelt. Nun ſtellen die bildenden Künſte zwar<lb/> ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur ſelbſt die<lb/> Geſtalt nicht von Ewigkeit da war, ſondern ſich werdend baut, wie der<lb/> Künſtler ſein räumliches Werk aus dem Nichts erſt heraufführt, ſo reißt<lb/> der lebendig Schauende das fertige Werk gleichſam erſt wieder ein, um<lb/> es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß,<lb/> thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, ſie ſcheinen in dieſer belebten<lb/> Strömung zu klingen, kurz es iſt Muſik darin. Nur Ein Beiſpiel geben<lb/> wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus dieſem Gebiet, indem wir die<lb/> ſchon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer-<lb/> bach (D. vatic. Apollo S. 63) ſagt: „mit der Heftigkeit im Angeſichte<lb/> des Laokoon contraſtirt der mildere Ausdruck ſeiner beiden Söhne. An<lb/> ihnen bricht ſich der Schrei des Entſetzens, und die Gruppe wird ſtatt<lb/> eines gellenden Uniſono der harmoniſche Dreiklang der griechiſchen Plaſtik.“<lb/> Wir fügen zu dieſen claſſiſchen Worten noch Folgendes (zum Theil nach<lb/> Göthe „Ueber Laokoon“ W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerſt<lb/> mit aufſteigendem Blick, ſo hat man in den beiden Söhnen zunächſt den<lb/> ſchon erwähnten milden Contraſt: der jüngere, tödtlich gebiſſen, ſinkt, den<lb/> rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zuſammen, der ältere rechts iſt<lb/> noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken:<lb/> in dieſem iſt ein <hi rendition="#g">Ruhepunct</hi> gegeben, wir athmen einen Augenblick<lb/> auf, es iſt ein Zuſchauer in der Gruppe ſelbſt, eine freiere, befreiende<lb/> Mitte. Zu dem Vater ſtehen beide in einem doppelten Verhältniß: in<lb/> dem des Contraſts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem<lb/> der Vorbereitung; in ihm iſt nämlich vereinigt, was in ihnen<lb/> getheilt iſt: eigene äußerſte Noth und Mitleiden, er wollte ſich ſelbſt und<lb/> den Kindern helfen und erhält ſo eben den tödtlichen Biß in die Hüfte;<lb/> zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend ſo eben erliegt.<lb/> So iſt in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchſten Spitze zuſam-<lb/> mengefaßt, aber von dieſem Aeußerſten ſteigt Blick und Herz wieder<lb/> abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der<lb/> Schrecken zu ſuchen. Dieſer Rhythmus iſt aber zugleich ein Rhythmus<lb/> der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [45/0057]
Gegenſätze, ſich zu Accorden auflöſende Diſſonanzen entwickelt, an ver-
ſchiedene Stimmen, Töne vertheilt, ſie wechſelnd und wieder ſammelnd
beſchäftigt, ſo daß hier die Bewegung pauſirt, zurückbleibt, während ſie
dort fortſchreitet, dann das Zurückgebliebene nachrückt und mit dem Vor-
geeilten ſich in einen Knoten, wie in ein ſtarkes, deutlich bindendes Gelenk
zuſammenfaßt, dann eine neue Theilung mit neuen Diſſonanzen, Tren-
nungen beginnt, um eine höhere, reichere Vereinigung vorzubereiten, und
ſo fort, bis der Grundgedanke völlig erſchöpft im Schluße alle Töne und
Tonreihen in Eins verſammelt. Nun ſtellen die bildenden Künſte zwar
ein ruhendes Bild vor das Auge, allein wie in der Natur ſelbſt die
Geſtalt nicht von Ewigkeit da war, ſondern ſich werdend baut, wie der
Künſtler ſein räumliches Werk aus dem Nichts erſt heraufführt, ſo reißt
der lebendig Schauende das fertige Werk gleichſam erſt wieder ein, um
es neu aufzubauen. Die Formen, Farben, Lichter kommen in Fluß,
thauen auf, um noch einmal zu gerinnen, ſie ſcheinen in dieſer belebten
Strömung zu klingen, kurz es iſt Muſik darin. Nur Ein Beiſpiel geben
wir, um nicht zu viel vorzugreifen, aus dieſem Gebiet, indem wir die
ſchon mehrfach erwähnte Laokoongruppe noch einmal aufnehmen. Feuer-
bach (D. vatic. Apollo S. 63) ſagt: „mit der Heftigkeit im Angeſichte
des Laokoon contraſtirt der mildere Ausdruck ſeiner beiden Söhne. An
ihnen bricht ſich der Schrei des Entſetzens, und die Gruppe wird ſtatt
eines gellenden Uniſono der harmoniſche Dreiklang der griechiſchen Plaſtik.“
Wir fügen zu dieſen claſſiſchen Worten noch Folgendes (zum Theil nach
Göthe „Ueber Laokoon“ W. B. 38): betrachtet man die Gruppe zuerſt
mit aufſteigendem Blick, ſo hat man in den beiden Söhnen zunächſt den
ſchon erwähnten milden Contraſt: der jüngere, tödtlich gebiſſen, ſinkt, den
rechten Arm noch hilfeflehend erhoben, zuſammen, der ältere rechts iſt
noch frei genug, um voll Schreck und Mitleid zum Vater aufzublicken:
in dieſem iſt ein Ruhepunct gegeben, wir athmen einen Augenblick
auf, es iſt ein Zuſchauer in der Gruppe ſelbſt, eine freiere, befreiende
Mitte. Zu dem Vater ſtehen beide in einem doppelten Verhältniß: in
dem des Contraſts, wie ihn Feuerbach bezeichnet, zugleich aber in dem
der Vorbereitung; in ihm iſt nämlich vereinigt, was in ihnen
getheilt iſt: eigene äußerſte Noth und Mitleiden, er wollte ſich ſelbſt und
den Kindern helfen und erhält ſo eben den tödtlichen Biß in die Hüfte;
zugleich Streben und Leiden, indem er mächtig arbeitend ſo eben erliegt.
So iſt in ihm Alles, was die Gruppe bewegt, zur höchſten Spitze zuſam-
mengefaßt, aber von dieſem Aeußerſten ſteigt Blick und Herz wieder
abwärts zu den Söhnen, um in dem rührenden Anblick Milderung der
Schrecken zu ſuchen. Dieſer Rhythmus iſt aber zugleich ein Rhythmus
der Linien: der Vater erhebt den rechten Arm, wie der jüngere Sohn;
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