Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.
freien Stolzes; dieser gebietet ihm, sich suchen zu lassen, aber keineswegs
freien Stolzes; dieſer gebietet ihm, ſich ſuchen zu laſſen, aber keineswegs <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0071" n="59"/> freien Stolzes; dieſer gebietet ihm, ſich ſuchen zu laſſen, aber keineswegs<lb/> verbietet er ihm, ſich Aufgaben geben zu laßen, ſondern nur, ſolche Auf-<lb/> gaben anzunehmen, denen er nicht anſieht, daß das, zunächſt durch einen<lb/> fremden Willen gegebene, Motiv dem Genius zuſagt und ſich zu einem<lb/> eigenen, inneren erheben läßt. Darüber gibt eine kurze Meditation dem<lb/> Künſtler Licht und fühlt er, daß der Stoff ſeine Phantaſie als ein ihr<lb/> entſprechender erfaßt, ſo iſt es eben, als hätte er ihn ſelbſt entdeckt; die<lb/> Stelle der Entdeckung iſt nur eine andere geworden, er findet ihn, ſtatt<lb/> direct in der Welt des Naturſchönen, durch Vermittlung der Beſteller.<lb/> Doch wenn man auf eine andere Seite ſieht, nämlich auf die ſubjective der<lb/> Compoſition, ſo ſcheint die Beſtellung allerdings mehr Hemmendes zu enthal-<lb/> ten, als die kurze Andeutung zu §. 393 und die gegenwärtige Er-<lb/> wägung ausſagt; ſie gibt nämlich häufig nicht nur den Stoff, ſondern auch<lb/> einen allgemeinen Umriß der Compoſition, und zwar noch näher beſchränkt<lb/> durch die Bedingungen des Gottesdienſtes, des Locals, der Wandfläche,<lb/> Aufſtellung u. dgl. Allein wie zu §. 393 geſagt iſt: ein Gegebenes um-<lb/> bilden beweist mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag, ſo<lb/> wird dem ſchöpferiſchen Geiſte auch dieſe Feſſel zu einer Quelle erhöhter<lb/> Selbſtthätigkeit werden. Gerade die gegebenen Bedingungen werden von<lb/> ihm genöthigt, ſich in neue, fruchtbare Motive zu verwandeln, er kann<lb/> ihnen gegenüber dieß und jenes, was er bei völlig freier Regung gekonnt<lb/> hätte, nicht, aber er kann Anderes, er erzeugt gerade in dieſen Bedingungen<lb/> das individuelle Kunſtwerk. Welche fruchtbare Motive haben Baukünſtler<lb/> aus Schwierigkeiten des Orts und Bodens, Maler aus beſtimmten<lb/> architektoniſchen Flächen gezogen! Auch das Material kommt theilweiſe<lb/> vorläufig ſchon hier in Betracht, denn anderweitige Umſtände können ein<lb/> ſolches fordern, das der Kunſtweiſe an ſich weniger günſtig iſt, oder das<lb/> gewünſchte überhaupt nicht zur Hand ſein: auch dieſem Hinderniß entlockt<lb/> der ächte Künſtler Schönheitsquellen, er weiß z. B. Holz oder Backſtein,<lb/> wo ihm gewachſener Stein urſprünglich willkommener geweſen wäre, zu<lb/> neuen, bedeutenden Motiven zu benützen. Eine neue Schwierigkeit ſcheint<lb/> ſich jedoch aufzudrängen, wenn man erwägt, daß bei der Beſtellung das<lb/> Gegebenſein von außen nicht zu Ende iſt, nachdem der Künſtler den Auf-<lb/> trag ſammt ſeinen nähern Bedingungen angenommen hat. Nichts iſt<lb/> nämlich ſchaamhafter, heimlicher und will unbelauſchter ſein, als das Be-<lb/> wußtſein des Künſtlers in den Momenten von der Conception bis zum<lb/> Abſchluße der Compoſition des Kunſtwerks; gerade darin aber kann er<lb/> ſich gehemmt ſehen durch den Willen der Beſteller, deren Bewußtſein dem<lb/> ſeinigen während dieſes innern Prozeßes belauſchend, controlirend, über-<lb/> wachend gleichſam über die Schulter ins Blatt ſieht. Dieſe wirklich drü-<lb/> ckende Hemmung tritt jedoch in dem Zuſtande, von dem hier noch die<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [59/0071]
freien Stolzes; dieſer gebietet ihm, ſich ſuchen zu laſſen, aber keineswegs
verbietet er ihm, ſich Aufgaben geben zu laßen, ſondern nur, ſolche Auf-
gaben anzunehmen, denen er nicht anſieht, daß das, zunächſt durch einen
fremden Willen gegebene, Motiv dem Genius zuſagt und ſich zu einem
eigenen, inneren erheben läßt. Darüber gibt eine kurze Meditation dem
Künſtler Licht und fühlt er, daß der Stoff ſeine Phantaſie als ein ihr
entſprechender erfaßt, ſo iſt es eben, als hätte er ihn ſelbſt entdeckt; die
Stelle der Entdeckung iſt nur eine andere geworden, er findet ihn, ſtatt
direct in der Welt des Naturſchönen, durch Vermittlung der Beſteller.
Doch wenn man auf eine andere Seite ſieht, nämlich auf die ſubjective der
Compoſition, ſo ſcheint die Beſtellung allerdings mehr Hemmendes zu enthal-
ten, als die kurze Andeutung zu §. 393 und die gegenwärtige Er-
wägung ausſagt; ſie gibt nämlich häufig nicht nur den Stoff, ſondern auch
einen allgemeinen Umriß der Compoſition, und zwar noch näher beſchränkt
durch die Bedingungen des Gottesdienſtes, des Locals, der Wandfläche,
Aufſtellung u. dgl. Allein wie zu §. 393 geſagt iſt: ein Gegebenes um-
bilden beweist mehr Freiheit, als objectlos machen, was man mag, ſo
wird dem ſchöpferiſchen Geiſte auch dieſe Feſſel zu einer Quelle erhöhter
Selbſtthätigkeit werden. Gerade die gegebenen Bedingungen werden von
ihm genöthigt, ſich in neue, fruchtbare Motive zu verwandeln, er kann
ihnen gegenüber dieß und jenes, was er bei völlig freier Regung gekonnt
hätte, nicht, aber er kann Anderes, er erzeugt gerade in dieſen Bedingungen
das individuelle Kunſtwerk. Welche fruchtbare Motive haben Baukünſtler
aus Schwierigkeiten des Orts und Bodens, Maler aus beſtimmten
architektoniſchen Flächen gezogen! Auch das Material kommt theilweiſe
vorläufig ſchon hier in Betracht, denn anderweitige Umſtände können ein
ſolches fordern, das der Kunſtweiſe an ſich weniger günſtig iſt, oder das
gewünſchte überhaupt nicht zur Hand ſein: auch dieſem Hinderniß entlockt
der ächte Künſtler Schönheitsquellen, er weiß z. B. Holz oder Backſtein,
wo ihm gewachſener Stein urſprünglich willkommener geweſen wäre, zu
neuen, bedeutenden Motiven zu benützen. Eine neue Schwierigkeit ſcheint
ſich jedoch aufzudrängen, wenn man erwägt, daß bei der Beſtellung das
Gegebenſein von außen nicht zu Ende iſt, nachdem der Künſtler den Auf-
trag ſammt ſeinen nähern Bedingungen angenommen hat. Nichts iſt
nämlich ſchaamhafter, heimlicher und will unbelauſchter ſein, als das Be-
wußtſein des Künſtlers in den Momenten von der Conception bis zum
Abſchluße der Compoſition des Kunſtwerks; gerade darin aber kann er
ſich gehemmt ſehen durch den Willen der Beſteller, deren Bewußtſein dem
ſeinigen während dieſes innern Prozeßes belauſchend, controlirend, über-
wachend gleichſam über die Schulter ins Blatt ſieht. Dieſe wirklich drü-
ckende Hemmung tritt jedoch in dem Zuſtande, von dem hier noch die
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