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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851.

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diese Ausläufer eines Kunstwerks vom innern Quellpuncte des Ganzen,
also von dem Schöpfungsacte der Phantasie aus bestimmt sein, allein hier
trifft die Kunst auf eine Region, wo das ästhetische Kriterium mit jenem
eigenthümlichen Prüfungsorgane sich mischt, das in der geselligen Welt
in der Sphäre des Angenehmen und Schicklichen, wie sie sich mit dem
Schönen secundär verbindet, entwickelt und gebildet wird. Dieß ist dann
ein geschichtlich bestimmtes Element, man kann es sich am besten deutlich
machen an dem Beispiele Shakespeares und seiner Zeit: er und sie hatten
unendlich mehr, als Geschmack, allein es war die Epoche der Schnörkel
der renaissance (zwar noch sehr verschieden vom Rokoko), wie in Bau-
kunst und Geräthen, so in der Dichtung; diese Schnörkel fehlen bei
Shakespeare nicht, sie gefielen ihm und seiner Zeit: das war Geschmack
und zwar hier ein schlechter. Negativ aber dehnt wohl auch ein Solcher,
der Geschmack und Phantasie keineswegs verwechselt, den Geschmacks-
begriff ungleich weiter aus, so daß er selbst die der idealen Erfindung
näher liegenden Gegenden eines Kunstwerks, sofern er sie als verfehlt
bezeichnen will, unter ihn befaßt. Dieß geschieht nun entweder nur in
ganz ungenauer Bezeichnungsweise, oder es geschieht mit dem Vorbehalte,
daß jene höheren Seiten allerdings eigentlich unendlich hoch über der
bloßen Geschmacksfrage stehen, daß aber die Verletzungen der ästhetischen
Gesetze nebenher auch Verletzungen des Geschmacks sind. Wenn man
nämlich fragt, was denn eigentlich geschmacklos und abgeschmackt sei, so
weiß man nichts zu nennen, wofür nicht das ästhetische Urtheil ein anderes
Wort hätte: Verstöße gegen die Grundgesetze einer Kunst (z. B. einen
schiefen Thurm), grobe Compositionsfehler (unmäßige Ausbildung und
Hervorhebung untergeordneter Theile, unsinnige Motivirung und dergl.),
verschrobene Formen, Fall aus dem höchsten Schwung in die Prosa,
häßliche, falsche Grazie, Schwulst statt des Erhabenen, gesuchten Witz:
alles dieß nennen wir geschmackswidrig, während es doch weit mehr,
nämlich ästhetisches Vergehen ist, aber wir nennen es so, weil es zum
Unschönen auch noch unangenehm ist und Maaßbegriffe verletzt, die
sich in der Gesellschaft ausgebildet haben. Wir stellen uns, wenn wir
ästhetische Fehler als Geschmacksfehler bezeichnen, vor, als führe sich das
Kunstwerk als Mitglied in eine gute Gesellschaft von geläutertem und
feinem Gefühle ein, und jene Fehler erscheinen uns nun so, wie wenn
diese Person durch Unpaßendes im Anzuge, durch barocke Reden und Ge-
bärden jenes Gefühl verletzte. Es ist also jedenfalls eine Uebertragung
des Forums: der Künstler wird vor zwei Gerichtshöfen verurtheilt; und
dieß mag hingehen, wenn man sich dieser Dopplung bewußt ist; wo man
sie aber verwechselt und das Geschmacksforum für identisch mit dem Schön-
heitsforum hält, da handelt man ebenso, wie Einer, der die Plastik vom

dieſe Ausläufer eines Kunſtwerks vom innern Quellpuncte des Ganzen,
alſo von dem Schöpfungsacte der Phantaſie aus beſtimmt ſein, allein hier
trifft die Kunſt auf eine Region, wo das äſthetiſche Kriterium mit jenem
eigenthümlichen Prüfungsorgane ſich miſcht, das in der geſelligen Welt
in der Sphäre des Angenehmen und Schicklichen, wie ſie ſich mit dem
Schönen ſecundär verbindet, entwickelt und gebildet wird. Dieß iſt dann
ein geſchichtlich beſtimmtes Element, man kann es ſich am beſten deutlich
machen an dem Beiſpiele Shakespeares und ſeiner Zeit: er und ſie hatten
unendlich mehr, als Geſchmack, allein es war die Epoche der Schnörkel
der renaissance (zwar noch ſehr verſchieden vom Rokoko), wie in Bau-
kunſt und Geräthen, ſo in der Dichtung; dieſe Schnörkel fehlen bei
Shakespeare nicht, ſie gefielen ihm und ſeiner Zeit: das war Geſchmack
und zwar hier ein ſchlechter. Negativ aber dehnt wohl auch ein Solcher,
der Geſchmack und Phantaſie keineswegs verwechſelt, den Geſchmacks-
begriff ungleich weiter aus, ſo daß er ſelbſt die der idealen Erfindung
näher liegenden Gegenden eines Kunſtwerks, ſofern er ſie als verfehlt
bezeichnen will, unter ihn befaßt. Dieß geſchieht nun entweder nur in
ganz ungenauer Bezeichnungsweiſe, oder es geſchieht mit dem Vorbehalte,
daß jene höheren Seiten allerdings eigentlich unendlich hoch über der
bloßen Geſchmacksfrage ſtehen, daß aber die Verletzungen der äſthetiſchen
Geſetze nebenher auch Verletzungen des Geſchmacks ſind. Wenn man
nämlich fragt, was denn eigentlich geſchmacklos und abgeſchmackt ſei, ſo
weiß man nichts zu nennen, wofür nicht das äſthetiſche Urtheil ein anderes
Wort hätte: Verſtöße gegen die Grundgeſetze einer Kunſt (z. B. einen
ſchiefen Thurm), grobe Compoſitionsfehler (unmäßige Ausbildung und
Hervorhebung untergeordneter Theile, unſinnige Motivirung und dergl.),
verſchrobene Formen, Fall aus dem höchſten Schwung in die Proſa,
häßliche, falſche Grazie, Schwulſt ſtatt des Erhabenen, geſuchten Witz:
alles dieß nennen wir geſchmackswidrig, während es doch weit mehr,
nämlich äſthetiſches Vergehen iſt, aber wir nennen es ſo, weil es zum
Unſchönen auch noch unangenehm iſt und Maaßbegriffe verletzt, die
ſich in der Geſellſchaft ausgebildet haben. Wir ſtellen uns, wenn wir
äſthetiſche Fehler als Geſchmacksfehler bezeichnen, vor, als führe ſich das
Kunſtwerk als Mitglied in eine gute Geſellſchaft von geläutertem und
feinem Gefühle ein, und jene Fehler erſcheinen uns nun ſo, wie wenn
dieſe Perſon durch Unpaßendes im Anzuge, durch barocke Reden und Ge-
bärden jenes Gefühl verletzte. Es iſt alſo jedenfalls eine Uebertragung
des Forums: der Künſtler wird vor zwei Gerichtshöfen verurtheilt; und
dieß mag hingehen, wenn man ſich dieſer Dopplung bewußt iſt; wo man
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heitsforum hält, da handelt man ebenſo, wie Einer, der die Plaſtik vom

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[75/0087] dieſe Ausläufer eines Kunſtwerks vom innern Quellpuncte des Ganzen, alſo von dem Schöpfungsacte der Phantaſie aus beſtimmt ſein, allein hier trifft die Kunſt auf eine Region, wo das äſthetiſche Kriterium mit jenem eigenthümlichen Prüfungsorgane ſich miſcht, das in der geſelligen Welt in der Sphäre des Angenehmen und Schicklichen, wie ſie ſich mit dem Schönen ſecundär verbindet, entwickelt und gebildet wird. Dieß iſt dann ein geſchichtlich beſtimmtes Element, man kann es ſich am beſten deutlich machen an dem Beiſpiele Shakespeares und ſeiner Zeit: er und ſie hatten unendlich mehr, als Geſchmack, allein es war die Epoche der Schnörkel der renaissance (zwar noch ſehr verſchieden vom Rokoko), wie in Bau- kunſt und Geräthen, ſo in der Dichtung; dieſe Schnörkel fehlen bei Shakespeare nicht, ſie gefielen ihm und ſeiner Zeit: das war Geſchmack und zwar hier ein ſchlechter. Negativ aber dehnt wohl auch ein Solcher, der Geſchmack und Phantaſie keineswegs verwechſelt, den Geſchmacks- begriff ungleich weiter aus, ſo daß er ſelbſt die der idealen Erfindung näher liegenden Gegenden eines Kunſtwerks, ſofern er ſie als verfehlt bezeichnen will, unter ihn befaßt. Dieß geſchieht nun entweder nur in ganz ungenauer Bezeichnungsweiſe, oder es geſchieht mit dem Vorbehalte, daß jene höheren Seiten allerdings eigentlich unendlich hoch über der bloßen Geſchmacksfrage ſtehen, daß aber die Verletzungen der äſthetiſchen Geſetze nebenher auch Verletzungen des Geſchmacks ſind. Wenn man nämlich fragt, was denn eigentlich geſchmacklos und abgeſchmackt ſei, ſo weiß man nichts zu nennen, wofür nicht das äſthetiſche Urtheil ein anderes Wort hätte: Verſtöße gegen die Grundgeſetze einer Kunſt (z. B. einen ſchiefen Thurm), grobe Compoſitionsfehler (unmäßige Ausbildung und Hervorhebung untergeordneter Theile, unſinnige Motivirung und dergl.), verſchrobene Formen, Fall aus dem höchſten Schwung in die Proſa, häßliche, falſche Grazie, Schwulſt ſtatt des Erhabenen, geſuchten Witz: alles dieß nennen wir geſchmackswidrig, während es doch weit mehr, nämlich äſthetiſches Vergehen iſt, aber wir nennen es ſo, weil es zum Unſchönen auch noch unangenehm iſt und Maaßbegriffe verletzt, die ſich in der Geſellſchaft ausgebildet haben. Wir ſtellen uns, wenn wir äſthetiſche Fehler als Geſchmacksfehler bezeichnen, vor, als führe ſich das Kunſtwerk als Mitglied in eine gute Geſellſchaft von geläutertem und feinem Gefühle ein, und jene Fehler erſcheinen uns nun ſo, wie wenn dieſe Perſon durch Unpaßendes im Anzuge, durch barocke Reden und Ge- bärden jenes Gefühl verletzte. Es iſt alſo jedenfalls eine Uebertragung des Forums: der Künſtler wird vor zwei Gerichtshöfen verurtheilt; und dieß mag hingehen, wenn man ſich dieſer Dopplung bewußt iſt; wo man ſie aber verwechſelt und das Geſchmacksforum für identiſch mit dem Schön- heitsforum hält, da handelt man ebenſo, wie Einer, der die Plaſtik vom

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,1. Reutlingen u. a., 1851, S. 75. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik0301_1851/87>, abgerufen am 21.11.2024.