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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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Grundschema der Anschauungsweise einer ganzen Zeit, das objectivste
Bild des Styls, wie er auch die andern Künste durchdringt, darstelle,
daß diese überhaupt auf ihrer Grundlage sich entwickeln, wie dieß in
ihrem Begriff als Urkunst (§. 560) liegt und wie es die Geschichte zeigt.
Dieser Widerspruch läßt sich nur so lösen: das moderne Zeitalter ist in
verschiedenen Kunstformen schon productiv aufgetreten selbst in dem Sinne
der Entwicklung eines eigenen großen Styls, doch sind dieß mehr punc-
tuelle Ansätze, es fehlt noch der Styl im Sinne gemeinsamen Schwungs;
eine Zusammenfassung der vereinzelten Kräfte zu diesem gemeinsamen
Schwung setzt voraus, daß erst die Zerrissenheit der Geister einem ge-
meinsamen Gefühle, einer kräftigen, herrschenden Grundstimmung weiche,
daß diese einen Baustyl erzeuge und dieser Baustyl den andern Künsten,
wie es sein soll, ihre Unterlage gebe. Nun müßte aber dieses Grund-
gefühl ein religiöses sein, um eine neue Baukunst zu erzeugen. Das
moderne Ideal ist aber ein rein weltliches, es hat sich von der zweiten
Stoffwelt abgelöst (§. 466). Gerade auf diesem schwierigen Puncte
können wir jetzt auf eine Bemerkung zu §. 574, 2. zurückweisen. Dort
haben wir gesagt, die Baukunst besitze in der Individualitätslosigkeit ihrer
Formen die Fähigkeit, der Verehrung eines nicht mythisch vorgestellten
allgemeinen Geistes zu dienen. Hier entsteht denn die Frage, ob nicht
im modernen Geiste die unentwickelten Keime einer neuen Religion liegen,
welche keiner zweiten Stoffwelt bedürfte und doch Religion wäre, welche,
wenn sie einmal zur Reife gelangte, eine Baukunst zu schaffen fähig wäre,
die zugleich Allem, was die moderne Zeit von Styl in den andern Kün-
sten erzeugt hat, jene ihm allerdings noch fehlende Einheit, Gemeinsam-
keit gäbe. Die Lücke, welche in der Geschichte der Baukunst bei dem
modernen Ideal eintritt, kann nur mit einer Zurückverweisung auf diesen
Punct ausgefüllt werden; ein Zielpunct wird dieses Hindeuten auf eine
dunkle Zukunft insofern immer noch heißen können, als in rein künstleri-
scher Beziehung sich wenigstens so viel errathen läßt, daß diese Zukunft
irgendwie auf eine Synthese der dagewesenen Hauptgegensätze des archi-
tektonischen Styls hinarbeiten muß, wie wir solche am Ende dieses ge-
schichtlichen Ueberblicks, freilich ohne die Möglichkeit näherer Bestimmung,
berühren werden.


Grundſchema der Anſchauungsweiſe einer ganzen Zeit, das objectivſte
Bild des Styls, wie er auch die andern Künſte durchdringt, darſtelle,
daß dieſe überhaupt auf ihrer Grundlage ſich entwickeln, wie dieß in
ihrem Begriff als Urkunſt (§. 560) liegt und wie es die Geſchichte zeigt.
Dieſer Widerſpruch läßt ſich nur ſo löſen: das moderne Zeitalter iſt in
verſchiedenen Kunſtformen ſchon productiv aufgetreten ſelbſt in dem Sinne
der Entwicklung eines eigenen großen Styls, doch ſind dieß mehr punc-
tuelle Anſätze, es fehlt noch der Styl im Sinne gemeinſamen Schwungs;
eine Zuſammenfaſſung der vereinzelten Kräfte zu dieſem gemeinſamen
Schwung ſetzt voraus, daß erſt die Zerriſſenheit der Geiſter einem ge-
meinſamen Gefühle, einer kräftigen, herrſchenden Grundſtimmung weiche,
daß dieſe einen Bauſtyl erzeuge und dieſer Bauſtyl den andern Künſten,
wie es ſein ſoll, ihre Unterlage gebe. Nun müßte aber dieſes Grund-
gefühl ein religiöſes ſein, um eine neue Baukunſt zu erzeugen. Das
moderne Ideal iſt aber ein rein weltliches, es hat ſich von der zweiten
Stoffwelt abgelöst (§. 466). Gerade auf dieſem ſchwierigen Puncte
können wir jetzt auf eine Bemerkung zu §. 574, 2. zurückweiſen. Dort
haben wir geſagt, die Baukunſt beſitze in der Individualitätsloſigkeit ihrer
Formen die Fähigkeit, der Verehrung eines nicht mythiſch vorgeſtellten
allgemeinen Geiſtes zu dienen. Hier entſteht denn die Frage, ob nicht
im modernen Geiſte die unentwickelten Keime einer neuen Religion liegen,
welche keiner zweiten Stoffwelt bedürfte und doch Religion wäre, welche,
wenn ſie einmal zur Reife gelangte, eine Baukunſt zu ſchaffen fähig wäre,
die zugleich Allem, was die moderne Zeit von Styl in den andern Kün-
ſten erzeugt hat, jene ihm allerdings noch fehlende Einheit, Gemeinſam-
keit gäbe. Die Lücke, welche in der Geſchichte der Baukunſt bei dem
modernen Ideal eintritt, kann nur mit einer Zurückverweiſung auf dieſen
Punct ausgefüllt werden; ein Zielpunct wird dieſes Hindeuten auf eine
dunkle Zukunft inſofern immer noch heißen können, als in rein künſtleri-
ſcher Beziehung ſich wenigſtens ſo viel errathen läßt, daß dieſe Zukunft
irgendwie auf eine Syntheſe der dageweſenen Hauptgegenſätze des archi-
tektoniſchen Styls hinarbeiten muß, wie wir ſolche am Ende dieſes ge-
ſchichtlichen Ueberblicks, freilich ohne die Möglichkeit näherer Beſtimmung,
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[266/0106] Grundſchema der Anſchauungsweiſe einer ganzen Zeit, das objectivſte Bild des Styls, wie er auch die andern Künſte durchdringt, darſtelle, daß dieſe überhaupt auf ihrer Grundlage ſich entwickeln, wie dieß in ihrem Begriff als Urkunſt (§. 560) liegt und wie es die Geſchichte zeigt. Dieſer Widerſpruch läßt ſich nur ſo löſen: das moderne Zeitalter iſt in verſchiedenen Kunſtformen ſchon productiv aufgetreten ſelbſt in dem Sinne der Entwicklung eines eigenen großen Styls, doch ſind dieß mehr punc- tuelle Anſätze, es fehlt noch der Styl im Sinne gemeinſamen Schwungs; eine Zuſammenfaſſung der vereinzelten Kräfte zu dieſem gemeinſamen Schwung ſetzt voraus, daß erſt die Zerriſſenheit der Geiſter einem ge- meinſamen Gefühle, einer kräftigen, herrſchenden Grundſtimmung weiche, daß dieſe einen Bauſtyl erzeuge und dieſer Bauſtyl den andern Künſten, wie es ſein ſoll, ihre Unterlage gebe. Nun müßte aber dieſes Grund- gefühl ein religiöſes ſein, um eine neue Baukunſt zu erzeugen. Das moderne Ideal iſt aber ein rein weltliches, es hat ſich von der zweiten Stoffwelt abgelöst (§. 466). Gerade auf dieſem ſchwierigen Puncte können wir jetzt auf eine Bemerkung zu §. 574, 2. zurückweiſen. Dort haben wir geſagt, die Baukunſt beſitze in der Individualitätsloſigkeit ihrer Formen die Fähigkeit, der Verehrung eines nicht mythiſch vorgeſtellten allgemeinen Geiſtes zu dienen. Hier entſteht denn die Frage, ob nicht im modernen Geiſte die unentwickelten Keime einer neuen Religion liegen, welche keiner zweiten Stoffwelt bedürfte und doch Religion wäre, welche, wenn ſie einmal zur Reife gelangte, eine Baukunſt zu ſchaffen fähig wäre, die zugleich Allem, was die moderne Zeit von Styl in den andern Kün- ſten erzeugt hat, jene ihm allerdings noch fehlende Einheit, Gemeinſam- keit gäbe. Die Lücke, welche in der Geſchichte der Baukunſt bei dem modernen Ideal eintritt, kann nur mit einer Zurückverweiſung auf dieſen Punct ausgefüllt werden; ein Zielpunct wird dieſes Hindeuten auf eine dunkle Zukunft inſofern immer noch heißen können, als in rein künſtleri- ſcher Beziehung ſich wenigſtens ſo viel errathen läßt, daß dieſe Zukunft irgendwie auf eine Syntheſe der dageweſenen Hauptgegenſätze des archi- tektoniſchen Styls hinarbeiten muß, wie wir ſolche am Ende dieſes ge- ſchichtlichen Ueberblicks, freilich ohne die Möglichkeit näherer Beſtimmung, berühren werden.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 266. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/106>, abgerufen am 21.11.2024.