Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

Bild:
<< vorherige Seite

meinen ist sie, wie dieser Völkergeist, dualistisch durch ebenso streng ver-
ständiges (§. 555), als dunkel in die Natur versenktes (§. 558) Wesen,
sie ist symbolisch (§. 561), erhaben und höchst conservativ (§. 560). Jene
Versenkung in die Natur ist wesentlich auf das Unorganische, Landschaft-
liche bezogen und auch in dieser Beziehung ist in §. 426 gesagt, daß die
orientalische Phantasie auf die unorganische Schönheit (und organische bis
zur thierischen) beschränkt sei. Wie die Baukunst in der ästhetischen Bil-
dung des Geistes analog ist dem Momente, wo in der Natur die indi-
viduenbildende Concentration beginnt mit der Axen-Anschießung des
Krystalls, so entspricht der Anfang der Bildung der Menschheit überhaupt
demselben Vorgang in der Natur und ist ebendaher unter den Künsten
wesentlich auf jene gewiesen. Allein es verhält sich hier wie mit der
Frage, ob der Begriff des Erhabenen darum, weil die orientalische Phan-
tasie wesentlich eine erhabene war, erst in der Darstellung dieses geschicht-
lichen Ideals, wie Hegel gethan, aufzuführen sei: was zu verneinen ist,
weil ein Völkergeist, der durch das Primitive seiner Bildung vorzüglich
auf ein Moment im Schönen gewiesen ist, eben dieses in mangelhafterer
Form zum Ausdruck bringen wird, als ein Volksgeist von entwickelter
Bildung, der die Momente des Schönen frei umfaßt. Ebenso wird jener
Geist eine Kunstgattung, auf die er, weil sie selbst Vieles noch nicht aus-
drücken kann, gerade durch seine Unfreiheit und das Helldunkel seiner
Anschauung gewiesen ist, mangelhafter ausbilden, als ein solcher, der mit
geklärtem Gesichtskreise die verschiedensten Kunstgattungen frei ausbildet
und nur je der vorliegenden Aufgabe gemäß sich auf eine derselben be-
schränkt. Dort wird der scheinbare Widerspruch entstehen, daß der dunkel
suchende Geist gerade in der Kunstform, welche dieser seiner Stufe
entspricht, zu viel wird sagen und ausdrücken wollen, ja Alles; denn in
seinem Helldunkel schlummert eingehüllt doch der ganze Geist und er
schüttet ihn ganz in die einzige Kunstform, in der er sich leichter bewegt,
während die andern zwar nicht der Anbauung entbehren, aber doch zurück-
bleiben. Die Scheidung der Künste ist noch nicht ernstlich eingetreten, die
Baukunst muß für die andern vicariren, jedenfalls, wie sich sogleich zeigen
wird, für die Plastik. -- Es ist nur noch zu bemerken, daß wir mit den
Erscheinungen der Baukunst im Orient die frühesten monumentalen Ver-
suche anderer Völker, nordeuropäischer und amerikanischer, hier zusammen-
zufassen um so mehr berechtigt sind, da alle primitiven Kunstformen auf
die gemeinsame Völkerwiege in Asien zurückweisen.

2. Die symbolische Bedeutung der Baukunst wird wesentlich beschränkt
durch den in §. 555 vorangeschickten Begriff der Theilung in Inneres
und Aeußeres, der Aufgabe, einen anderweitig zu erfüllenden Raum nur
zu umschließen. Hegel hat das Verdienst, zuerst als unreife orientalische

meinen iſt ſie, wie dieſer Völkergeiſt, dualiſtiſch durch ebenſo ſtreng ver-
ſtändiges (§. 555), als dunkel in die Natur verſenktes (§. 558) Weſen,
ſie iſt ſymboliſch (§. 561), erhaben und höchſt conſervativ (§. 560). Jene
Verſenkung in die Natur iſt weſentlich auf das Unorganiſche, Landſchaft-
liche bezogen und auch in dieſer Beziehung iſt in §. 426 geſagt, daß die
orientaliſche Phantaſie auf die unorganiſche Schönheit (und organiſche bis
zur thieriſchen) beſchränkt ſei. Wie die Baukunſt in der äſthetiſchen Bil-
dung des Geiſtes analog iſt dem Momente, wo in der Natur die indi-
viduenbildende Concentration beginnt mit der Axen-Anſchießung des
Kryſtalls, ſo entſpricht der Anfang der Bildung der Menſchheit überhaupt
demſelben Vorgang in der Natur und iſt ebendaher unter den Künſten
weſentlich auf jene gewieſen. Allein es verhält ſich hier wie mit der
Frage, ob der Begriff des Erhabenen darum, weil die orientaliſche Phan-
taſie weſentlich eine erhabene war, erſt in der Darſtellung dieſes geſchicht-
lichen Ideals, wie Hegel gethan, aufzuführen ſei: was zu verneinen iſt,
weil ein Völkergeiſt, der durch das Primitive ſeiner Bildung vorzüglich
auf ein Moment im Schönen gewieſen iſt, eben dieſes in mangelhafterer
Form zum Ausdruck bringen wird, als ein Volksgeiſt von entwickelter
Bildung, der die Momente des Schönen frei umfaßt. Ebenſo wird jener
Geiſt eine Kunſtgattung, auf die er, weil ſie ſelbſt Vieles noch nicht aus-
drücken kann, gerade durch ſeine Unfreiheit und das Helldunkel ſeiner
Anſchauung gewieſen iſt, mangelhafter ausbilden, als ein ſolcher, der mit
geklärtem Geſichtskreiſe die verſchiedenſten Kunſtgattungen frei ausbildet
und nur je der vorliegenden Aufgabe gemäß ſich auf eine derſelben be-
ſchränkt. Dort wird der ſcheinbare Widerſpruch entſtehen, daß der dunkel
ſuchende Geiſt gerade in der Kunſtform, welche dieſer ſeiner Stufe
entſpricht, zu viel wird ſagen und ausdrücken wollen, ja Alles; denn in
ſeinem Helldunkel ſchlummert eingehüllt doch der ganze Geiſt und er
ſchüttet ihn ganz in die einzige Kunſtform, in der er ſich leichter bewegt,
während die andern zwar nicht der Anbauung entbehren, aber doch zurück-
bleiben. Die Scheidung der Künſte iſt noch nicht ernſtlich eingetreten, die
Baukunſt muß für die andern vicariren, jedenfalls, wie ſich ſogleich zeigen
wird, für die Plaſtik. — Es iſt nur noch zu bemerken, daß wir mit den
Erſcheinungen der Baukunſt im Orient die früheſten monumentalen Ver-
ſuche anderer Völker, nordeuropäiſcher und amerikaniſcher, hier zuſammen-
zufaſſen um ſo mehr berechtigt ſind, da alle primitiven Kunſtformen auf
die gemeinſame Völkerwiege in Aſien zurückweiſen.

2. Die ſymboliſche Bedeutung der Baukunſt wird weſentlich beſchränkt
durch den in §. 555 vorangeſchickten Begriff der Theilung in Inneres
und Aeußeres, der Aufgabe, einen anderweitig zu erfüllenden Raum nur
zu umſchließen. Hegel hat das Verdienſt, zuerſt als unreife orientaliſche

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <div n="8">
                      <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0108" n="268"/>
meinen i&#x017F;t &#x017F;ie, wie die&#x017F;er Völkergei&#x017F;t, duali&#x017F;ti&#x017F;ch durch eben&#x017F;o &#x017F;treng ver-<lb/>
&#x017F;tändiges (§. 555), als dunkel in die Natur ver&#x017F;enktes (§. 558) We&#x017F;en,<lb/>
&#x017F;ie i&#x017F;t &#x017F;ymboli&#x017F;ch (§. 561), erhaben und höch&#x017F;t con&#x017F;ervativ (§. 560). Jene<lb/>
Ver&#x017F;enkung in die Natur i&#x017F;t we&#x017F;entlich auf das Unorgani&#x017F;che, Land&#x017F;chaft-<lb/>
liche bezogen und auch in die&#x017F;er Beziehung i&#x017F;t in §. 426 ge&#x017F;agt, daß die<lb/>
orientali&#x017F;che Phanta&#x017F;ie auf die unorgani&#x017F;che Schönheit (und organi&#x017F;che bis<lb/>
zur thieri&#x017F;chen) be&#x017F;chränkt &#x017F;ei. Wie die Baukun&#x017F;t in der ä&#x017F;theti&#x017F;chen Bil-<lb/>
dung des Gei&#x017F;tes analog i&#x017F;t dem Momente, wo in der Natur die indi-<lb/>
viduenbildende Concentration beginnt mit der Axen-An&#x017F;chießung des<lb/>
Kry&#x017F;talls, &#x017F;o ent&#x017F;pricht der Anfang der Bildung der Men&#x017F;chheit überhaupt<lb/>
dem&#x017F;elben Vorgang in der Natur und i&#x017F;t ebendaher unter den Kün&#x017F;ten<lb/>
we&#x017F;entlich auf jene gewie&#x017F;en. Allein es verhält &#x017F;ich hier wie mit der<lb/>
Frage, ob der Begriff des Erhabenen darum, weil die orientali&#x017F;che Phan-<lb/>
ta&#x017F;ie we&#x017F;entlich eine erhabene war, er&#x017F;t in der Dar&#x017F;tellung die&#x017F;es ge&#x017F;chicht-<lb/>
lichen Ideals, wie Hegel gethan, aufzuführen &#x017F;ei: was zu verneinen i&#x017F;t,<lb/>
weil ein Völkergei&#x017F;t, der durch das Primitive &#x017F;einer Bildung vorzüglich<lb/>
auf ein Moment im Schönen gewie&#x017F;en i&#x017F;t, eben die&#x017F;es in mangelhafterer<lb/>
Form zum Ausdruck bringen wird, als ein Volksgei&#x017F;t von entwickelter<lb/>
Bildung, der die Momente des Schönen frei umfaßt. Eben&#x017F;o wird jener<lb/>
Gei&#x017F;t eine Kun&#x017F;tgattung, auf die er, weil &#x017F;ie &#x017F;elb&#x017F;t Vieles noch nicht aus-<lb/>
drücken kann, gerade durch &#x017F;eine Unfreiheit und das Helldunkel &#x017F;einer<lb/>
An&#x017F;chauung gewie&#x017F;en i&#x017F;t, mangelhafter ausbilden, als ein &#x017F;olcher, der mit<lb/>
geklärtem Ge&#x017F;ichtskrei&#x017F;e die ver&#x017F;chieden&#x017F;ten Kun&#x017F;tgattungen frei ausbildet<lb/>
und nur je der vorliegenden Aufgabe gemäß &#x017F;ich auf eine der&#x017F;elben be-<lb/>
&#x017F;chränkt. Dort wird der &#x017F;cheinbare Wider&#x017F;pruch ent&#x017F;tehen, daß der dunkel<lb/>
&#x017F;uchende Gei&#x017F;t gerade in der Kun&#x017F;tform, welche die&#x017F;er &#x017F;einer Stufe<lb/>
ent&#x017F;pricht, zu viel wird &#x017F;agen und ausdrücken wollen, ja Alles; denn in<lb/>
&#x017F;einem Helldunkel &#x017F;chlummert eingehüllt doch der ganze Gei&#x017F;t und er<lb/>
&#x017F;chüttet ihn ganz in die einzige Kun&#x017F;tform, in der er &#x017F;ich leichter bewegt,<lb/>
während die andern zwar nicht der Anbauung entbehren, aber doch zurück-<lb/>
bleiben. Die Scheidung der Kün&#x017F;te i&#x017F;t noch nicht ern&#x017F;tlich eingetreten, die<lb/>
Baukun&#x017F;t muß für die andern vicariren, jedenfalls, wie &#x017F;ich &#x017F;ogleich zeigen<lb/>
wird, für die Pla&#x017F;tik. &#x2014; Es i&#x017F;t nur noch zu bemerken, daß wir mit den<lb/>
Er&#x017F;cheinungen der Baukun&#x017F;t im Orient die frühe&#x017F;ten monumentalen Ver-<lb/>
&#x017F;uche anderer Völker, nordeuropäi&#x017F;cher und amerikani&#x017F;cher, hier zu&#x017F;ammen-<lb/>
zufa&#x017F;&#x017F;en um &#x017F;o mehr berechtigt &#x017F;ind, da alle primitiven Kun&#x017F;tformen auf<lb/>
die gemein&#x017F;ame Völkerwiege in A&#x017F;ien zurückwei&#x017F;en.</hi> </p><lb/>
                      <p> <hi rendition="#et">2. Die &#x017F;ymboli&#x017F;che Bedeutung der Baukun&#x017F;t wird we&#x017F;entlich be&#x017F;chränkt<lb/>
durch den in §. 555 vorange&#x017F;chickten Begriff der Theilung in Inneres<lb/>
und Aeußeres, der Aufgabe, einen anderweitig zu erfüllenden Raum nur<lb/>
zu um&#x017F;chließen. Hegel hat das Verdien&#x017F;t, zuer&#x017F;t als unreife orientali&#x017F;che<lb/></hi> </p>
                    </div>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[268/0108] meinen iſt ſie, wie dieſer Völkergeiſt, dualiſtiſch durch ebenſo ſtreng ver- ſtändiges (§. 555), als dunkel in die Natur verſenktes (§. 558) Weſen, ſie iſt ſymboliſch (§. 561), erhaben und höchſt conſervativ (§. 560). Jene Verſenkung in die Natur iſt weſentlich auf das Unorganiſche, Landſchaft- liche bezogen und auch in dieſer Beziehung iſt in §. 426 geſagt, daß die orientaliſche Phantaſie auf die unorganiſche Schönheit (und organiſche bis zur thieriſchen) beſchränkt ſei. Wie die Baukunſt in der äſthetiſchen Bil- dung des Geiſtes analog iſt dem Momente, wo in der Natur die indi- viduenbildende Concentration beginnt mit der Axen-Anſchießung des Kryſtalls, ſo entſpricht der Anfang der Bildung der Menſchheit überhaupt demſelben Vorgang in der Natur und iſt ebendaher unter den Künſten weſentlich auf jene gewieſen. Allein es verhält ſich hier wie mit der Frage, ob der Begriff des Erhabenen darum, weil die orientaliſche Phan- taſie weſentlich eine erhabene war, erſt in der Darſtellung dieſes geſchicht- lichen Ideals, wie Hegel gethan, aufzuführen ſei: was zu verneinen iſt, weil ein Völkergeiſt, der durch das Primitive ſeiner Bildung vorzüglich auf ein Moment im Schönen gewieſen iſt, eben dieſes in mangelhafterer Form zum Ausdruck bringen wird, als ein Volksgeiſt von entwickelter Bildung, der die Momente des Schönen frei umfaßt. Ebenſo wird jener Geiſt eine Kunſtgattung, auf die er, weil ſie ſelbſt Vieles noch nicht aus- drücken kann, gerade durch ſeine Unfreiheit und das Helldunkel ſeiner Anſchauung gewieſen iſt, mangelhafter ausbilden, als ein ſolcher, der mit geklärtem Geſichtskreiſe die verſchiedenſten Kunſtgattungen frei ausbildet und nur je der vorliegenden Aufgabe gemäß ſich auf eine derſelben be- ſchränkt. Dort wird der ſcheinbare Widerſpruch entſtehen, daß der dunkel ſuchende Geiſt gerade in der Kunſtform, welche dieſer ſeiner Stufe entſpricht, zu viel wird ſagen und ausdrücken wollen, ja Alles; denn in ſeinem Helldunkel ſchlummert eingehüllt doch der ganze Geiſt und er ſchüttet ihn ganz in die einzige Kunſtform, in der er ſich leichter bewegt, während die andern zwar nicht der Anbauung entbehren, aber doch zurück- bleiben. Die Scheidung der Künſte iſt noch nicht ernſtlich eingetreten, die Baukunſt muß für die andern vicariren, jedenfalls, wie ſich ſogleich zeigen wird, für die Plaſtik. — Es iſt nur noch zu bemerken, daß wir mit den Erſcheinungen der Baukunſt im Orient die früheſten monumentalen Ver- ſuche anderer Völker, nordeuropäiſcher und amerikaniſcher, hier zuſammen- zufaſſen um ſo mehr berechtigt ſind, da alle primitiven Kunſtformen auf die gemeinſame Völkerwiege in Aſien zurückweiſen. 2. Die ſymboliſche Bedeutung der Baukunſt wird weſentlich beſchränkt durch den in §. 555 vorangeſchickten Begriff der Theilung in Inneres und Aeußeres, der Aufgabe, einen anderweitig zu erfüllenden Raum nur zu umſchließen. Hegel hat das Verdienſt, zuerſt als unreife orientaliſche

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/108
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 268. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/108>, abgerufen am 21.11.2024.