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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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oben erwähnten senkrechten Gebilden, Obelisken u. dgl. Allein die letztern
Monumente sind zugleich dadurch merkwürdig, daß hier die Anfänge
structiver Gliederung, die Trennung und Verbindung von Last und Stütze,
Wand und Dach theils in übergelegten Steinbalken bei den Umkreisungen,
theils in Platten über Stützen ruhend bei den Altären, theils in wirk-
licher Zusammenschließung zu Steingemächern oder eigentlichen Tempel-
heiligthümern hervortreten (Dolmin, Cromlech). Die Kreis- und andern
Formen der Umfassungen waren sicher symbolisch, ob von astronomischer
Bedeutung ähnlich wie die siebenfachen, verschieden gefärbten, übereinander
aufsteigenden Ringmauern Ekbatana's, läßt sich nicht bestimmen. Sym-
bolische Bauwerke, deren unendliche Gemächer, Höfe, Irrgänge den Wan-
derer zum tiefsten Staunen hinreißen, waren auch die ägyptischen
Labyrinthe, das größte am See Möris, dessen unterer Theil Königsgräber
bildete und das Herodot mit so großer Bewunderung beschreibt. Die
Zwölfzahl der Höfe und die andern Zahlenverhältnisse bezogen sich gewiß
nicht blos auf die 12 Könige und die Zahl der Regierungsbezirke, son-
dern hatten zugleich astronomische Bedeutung. Sie wurden bekanntlich
in Griechenland nachgeahmt (Kreta). Aehnliche Beziehungen mögen auch
in den Verhältnissen anderer königlicher Grabdenkmäler Aegyptens, die
zugleich den Göttern geweiht waren, den sogenannten Memnonien
geherrscht haben (Osymandeum zu Theben). Das Mißverhältniß der
Schaale zum Kern ist nun aber gerade da in seiner ganzen Bestimmtheit
vorhanden, wo die Baukunst vom klaren Bauzweck geleitet ihre Haupt-
aufgaben, aber noch im Dienste der symbolischen Phantasie, löst. Die
Terrassenthürme Assyriens und Babyloniens, die Pagoden Indiens, die
Pyramiden, die Tempel Aegyptens haben ein im Verhältniß zur Bau-
masse so kleines Inneres, daß, wenn die äußeren Formen auch keinen in
eine bestimmte Formel faßbaren Sinn hatten, doch die gewaltige Erhebung
und Masse für sich schon nicht als bloßes Gewand, in welchem sich eine
innere Gliederbildung des Baus ausgeprägt hätte, den Zuschauer in eine
geheimnißvolle, ahnende, rathende Stimmung setzen sollten. Die Kleinheit
des Innern drückt im Allgemeinen immer aus, daß das Wesen des Gottes
ein verborgenes ist; gewöhnlich ist das Heiligthum dem Laien unzugäng-
lich und wo er hintritt, findet er nicht, was einem so langen, weitläufti-
gen Verweilen in den vorbereitenden äußern Architekturformen entspräche.
Es geht daraus eine logische Schwierigkeit in Beziehung auf den Unter-
schied von Innen- und Außenbau hervor, die wir kennen lernen werden.
Im indischen Grottentempel ist das Dunkel selbst symbolisch, ruft eine
dämmernde, bange Ahnung des verborgenen Gottes hervor. Endlich war
der eigentliche Tempelbau gerade da, wo er zur höchsten Ausbildung ge-
dieh, welche innerhalb dieser Vorstufe reifer, classischer Kunst, mit der wir

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oben erwähnten ſenkrechten Gebilden, Obelisken u. dgl. Allein die letztern
Monumente ſind zugleich dadurch merkwürdig, daß hier die Anfänge
ſtructiver Gliederung, die Trennung und Verbindung von Laſt und Stütze,
Wand und Dach theils in übergelegten Steinbalken bei den Umkreiſungen,
theils in Platten über Stützen ruhend bei den Altären, theils in wirk-
licher Zuſammenſchließung zu Steingemächern oder eigentlichen Tempel-
heiligthümern hervortreten (Dolmin, Cromlech). Die Kreis- und andern
Formen der Umfaſſungen waren ſicher ſymboliſch, ob von aſtronomiſcher
Bedeutung ähnlich wie die ſiebenfachen, verſchieden gefärbten, übereinander
aufſteigenden Ringmauern Ekbatana’s, läßt ſich nicht beſtimmen. Sym-
boliſche Bauwerke, deren unendliche Gemächer, Höfe, Irrgänge den Wan-
derer zum tiefſten Staunen hinreißen, waren auch die ägyptiſchen
Labyrinthe, das größte am See Möris, deſſen unterer Theil Königsgräber
bildete und das Herodot mit ſo großer Bewunderung beſchreibt. Die
Zwölfzahl der Höfe und die andern Zahlenverhältniſſe bezogen ſich gewiß
nicht blos auf die 12 Könige und die Zahl der Regierungsbezirke, ſon-
dern hatten zugleich aſtronomiſche Bedeutung. Sie wurden bekanntlich
in Griechenland nachgeahmt (Kreta). Aehnliche Beziehungen mögen auch
in den Verhältniſſen anderer königlicher Grabdenkmäler Aegyptens, die
zugleich den Göttern geweiht waren, den ſogenannten Memnonien
geherrſcht haben (Oſymandeum zu Theben). Das Mißverhältniß der
Schaale zum Kern iſt nun aber gerade da in ſeiner ganzen Beſtimmtheit
vorhanden, wo die Baukunſt vom klaren Bauzweck geleitet ihre Haupt-
aufgaben, aber noch im Dienſte der ſymboliſchen Phantaſie, löst. Die
Terraſſenthürme Aſſyriens und Babyloniens, die Pagoden Indiens, die
Pyramiden, die Tempel Aegyptens haben ein im Verhältniß zur Bau-
maſſe ſo kleines Inneres, daß, wenn die äußeren Formen auch keinen in
eine beſtimmte Formel faßbaren Sinn hatten, doch die gewaltige Erhebung
und Maſſe für ſich ſchon nicht als bloßes Gewand, in welchem ſich eine
innere Gliederbildung des Baus ausgeprägt hätte, den Zuſchauer in eine
geheimnißvolle, ahnende, rathende Stimmung ſetzen ſollten. Die Kleinheit
des Innern drückt im Allgemeinen immer aus, daß das Weſen des Gottes
ein verborgenes iſt; gewöhnlich iſt das Heiligthum dem Laien unzugäng-
lich und wo er hintritt, findet er nicht, was einem ſo langen, weitläufti-
gen Verweilen in den vorbereitenden äußern Architekturformen entſpräche.
Es geht daraus eine logiſche Schwierigkeit in Beziehung auf den Unter-
ſchied von Innen- und Außenbau hervor, die wir kennen lernen werden.
Im indiſchen Grottentempel iſt das Dunkel ſelbſt ſymboliſch, ruft eine
dämmernde, bange Ahnung des verborgenen Gottes hervor. Endlich war
der eigentliche Tempelbau gerade da, wo er zur höchſten Ausbildung ge-
dieh, welche innerhalb dieſer Vorſtufe reifer, claſſiſcher Kunſt, mit der wir

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[271/0111] oben erwähnten ſenkrechten Gebilden, Obelisken u. dgl. Allein die letztern Monumente ſind zugleich dadurch merkwürdig, daß hier die Anfänge ſtructiver Gliederung, die Trennung und Verbindung von Laſt und Stütze, Wand und Dach theils in übergelegten Steinbalken bei den Umkreiſungen, theils in Platten über Stützen ruhend bei den Altären, theils in wirk- licher Zuſammenſchließung zu Steingemächern oder eigentlichen Tempel- heiligthümern hervortreten (Dolmin, Cromlech). Die Kreis- und andern Formen der Umfaſſungen waren ſicher ſymboliſch, ob von aſtronomiſcher Bedeutung ähnlich wie die ſiebenfachen, verſchieden gefärbten, übereinander aufſteigenden Ringmauern Ekbatana’s, läßt ſich nicht beſtimmen. Sym- boliſche Bauwerke, deren unendliche Gemächer, Höfe, Irrgänge den Wan- derer zum tiefſten Staunen hinreißen, waren auch die ägyptiſchen Labyrinthe, das größte am See Möris, deſſen unterer Theil Königsgräber bildete und das Herodot mit ſo großer Bewunderung beſchreibt. Die Zwölfzahl der Höfe und die andern Zahlenverhältniſſe bezogen ſich gewiß nicht blos auf die 12 Könige und die Zahl der Regierungsbezirke, ſon- dern hatten zugleich aſtronomiſche Bedeutung. Sie wurden bekanntlich in Griechenland nachgeahmt (Kreta). Aehnliche Beziehungen mögen auch in den Verhältniſſen anderer königlicher Grabdenkmäler Aegyptens, die zugleich den Göttern geweiht waren, den ſogenannten Memnonien geherrſcht haben (Oſymandeum zu Theben). Das Mißverhältniß der Schaale zum Kern iſt nun aber gerade da in ſeiner ganzen Beſtimmtheit vorhanden, wo die Baukunſt vom klaren Bauzweck geleitet ihre Haupt- aufgaben, aber noch im Dienſte der ſymboliſchen Phantaſie, löst. Die Terraſſenthürme Aſſyriens und Babyloniens, die Pagoden Indiens, die Pyramiden, die Tempel Aegyptens haben ein im Verhältniß zur Bau- maſſe ſo kleines Inneres, daß, wenn die äußeren Formen auch keinen in eine beſtimmte Formel faßbaren Sinn hatten, doch die gewaltige Erhebung und Maſſe für ſich ſchon nicht als bloßes Gewand, in welchem ſich eine innere Gliederbildung des Baus ausgeprägt hätte, den Zuſchauer in eine geheimnißvolle, ahnende, rathende Stimmung ſetzen ſollten. Die Kleinheit des Innern drückt im Allgemeinen immer aus, daß das Weſen des Gottes ein verborgenes iſt; gewöhnlich iſt das Heiligthum dem Laien unzugäng- lich und wo er hintritt, findet er nicht, was einem ſo langen, weitläufti- gen Verweilen in den vorbereitenden äußern Architekturformen entſpräche. Es geht daraus eine logiſche Schwierigkeit in Beziehung auf den Unter- ſchied von Innen- und Außenbau hervor, die wir kennen lernen werden. Im indiſchen Grottentempel iſt das Dunkel ſelbſt ſymboliſch, ruft eine dämmernde, bange Ahnung des verborgenen Gottes hervor. Endlich war der eigentliche Tempelbau gerade da, wo er zur höchſten Ausbildung ge- dieh, welche innerhalb dieſer Vorſtufe reifer, claſſiſcher Kunſt, mit der wir 18*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 271. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/111>, abgerufen am 24.11.2024.