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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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ungeheuern Stufenbau hervorzuheben: sie bezeichnet zunächst diesen Bau
als einseitigen Außenbau und dadurch ebensogut wie der bloße Innenbau
des Grottentempels das verborgene Wesen des Gottes oder Geistes, der
im obern Heiligthum des Belusthurms gar keine Bildsäule hatte, während
ebenda das Tempelgemach im untersten Geschoße mit der Bildsäule des
Gottes auch noch in keinem Verhältniß zur Größe des Ganzen stand.
Dieser Hochbau ist aber ebensosehr bloßer Kraftbau; die Stockwerke
tragen einander in Wirklichkeit, aber alle zusammen scheinen einer unge-
heuern Last entgegenzustreben, die nicht oder in unverhältnißmäßiger Klein-
heit da ist, das Streben athmet sich vielmehr in der Verjüngung des Keils
von selbst, ohne Widerstand aus. Säulen treten nicht auf, denn es ist
nichts zu tragen, es wäre denn richtig, daß die kleinen obern Tempel-
häuser in Niniveh und Babylon Anten-Tempel mit zwei Säulen waren,
was aber nicht zum Wesen dieses Baus als eines Ganzen gehört. Man
kann ohne Widerspruch mit der Ableitung dieser Form aus dem Tumulus
die Auffassung Sempers (die vier Elemente der Baukunst S. 70 ff.) ver-
binden, welcher den Thurm als Mittelpunct eines ganzen Terrassensystems
anschaut, dessen einzelne Absätze oder Etagen (denn in den Stockwerken
nimmt er durchgängig Wohnungen an) den Knechten und Untersaßen, dem
Fremdenverkehr, lagernden Caravannen, Bazar, Staatsgeschäften, Unter-
richt, Gymnastik dienten, worauf höher der öffentliche Palast des Herrschers
(Audienz- und Gerichtshof), dann sein Privatpavillon folgt und endlich
erst die hohe, ebenfalls terrassirte Pyramide mit dem "Grabmal des Stamm-
herrn, der dem unterjochten Volk zum Gott aufgedrungen ward": das
Ganze ein Ausdruck des erobernden Satrapendespotismus, eine lagerartige
Gruppirung, ein Bild des Subordinationsprinzips. Der Begriff der auf-
ragenden Kraft steigert sich in dieser Auffassung zu dem einer systematisch
dargestellten kriegerischen Despotenkraft. Mit dem Terrassensysteme ver-
bindet sich nun allerdings ein reicher Palast-Styl, in Persien, wie die Reste
von Tschil-Minar zeigen, in einer Mäßigung und künstlerischen Durch-
führung des Einzelnen, welche sich weit über den mit Alabasterplatten
getäfelten, im Wesentlichen jedenfalls säulenlosen Ziegelbau Assyriens er-
erhebt. Man sieht, daß hier die Fortschritte nicht am (Grab-)Tempel,
sondern, dem realen persischen Geist (§. 431, 2.) entsprechend, am Palaste
geschehen. Der Säulen-getragene Saal spielt eine Hauptrolle. Die Säule
hat den Schaft zur Freiheit entwickelt und zwar in vollem Gegensatz gegen
Indien: er ist nicht nur cannelirt, geschwellt, verjüngt, sondern steigt
sehr schlank zu bedeutender Höhe auf, wodurch ein Ausdruck des Ueber-
gewichts der Kraft über die Last auch hier sich geltend macht. Basis und
Kapitell ist entwickelt; an jener entspricht die große fallende Welle unter
dem Pfühle mit Riemen, der schon an das Griechische erinnert, nicht dem

ungeheuern Stufenbau hervorzuheben: ſie bezeichnet zunächſt dieſen Bau
als einſeitigen Außenbau und dadurch ebenſogut wie der bloße Innenbau
des Grottentempels das verborgene Weſen des Gottes oder Geiſtes, der
im obern Heiligthum des Belusthurms gar keine Bildſäule hatte, während
ebenda das Tempelgemach im unterſten Geſchoße mit der Bildſäule des
Gottes auch noch in keinem Verhältniß zur Größe des Ganzen ſtand.
Dieſer Hochbau iſt aber ebenſoſehr bloßer Kraftbau; die Stockwerke
tragen einander in Wirklichkeit, aber alle zuſammen ſcheinen einer unge-
heuern Laſt entgegenzuſtreben, die nicht oder in unverhältnißmäßiger Klein-
heit da iſt, das Streben athmet ſich vielmehr in der Verjüngung des Keils
von ſelbſt, ohne Widerſtand aus. Säulen treten nicht auf, denn es iſt
nichts zu tragen, es wäre denn richtig, daß die kleinen obern Tempel-
häuſer in Niniveh und Babylon Anten-Tempel mit zwei Säulen waren,
was aber nicht zum Weſen dieſes Baus als eines Ganzen gehört. Man
kann ohne Widerſpruch mit der Ableitung dieſer Form aus dem Tumulus
die Auffaſſung Sempers (die vier Elemente der Baukunſt S. 70 ff.) ver-
binden, welcher den Thurm als Mittelpunct eines ganzen Terraſſenſyſtems
anſchaut, deſſen einzelne Abſätze oder Etagen (denn in den Stockwerken
nimmt er durchgängig Wohnungen an) den Knechten und Unterſaßen, dem
Fremdenverkehr, lagernden Caravannen, Bazar, Staatsgeſchäften, Unter-
richt, Gymnaſtik dienten, worauf höher der öffentliche Palaſt des Herrſchers
(Audienz- und Gerichtshof), dann ſein Privatpavillon folgt und endlich
erſt die hohe, ebenfalls terraſſirte Pyramide mit dem „Grabmal des Stamm-
herrn, der dem unterjochten Volk zum Gott aufgedrungen ward“: das
Ganze ein Ausdruck des erobernden Satrapendeſpotismus, eine lagerartige
Gruppirung, ein Bild des Subordinationsprinzips. Der Begriff der auf-
ragenden Kraft ſteigert ſich in dieſer Auffaſſung zu dem einer ſyſtematiſch
dargeſtellten kriegeriſchen Deſpotenkraft. Mit dem Terraſſenſyſteme ver-
bindet ſich nun allerdings ein reicher Palaſt-Styl, in Perſien, wie die Reſte
von Tſchil-Minar zeigen, in einer Mäßigung und künſtleriſchen Durch-
führung des Einzelnen, welche ſich weit über den mit Alabaſterplatten
getäfelten, im Weſentlichen jedenfalls ſäulenloſen Ziegelbau Aſſyriens er-
erhebt. Man ſieht, daß hier die Fortſchritte nicht am (Grab-)Tempel,
ſondern, dem realen perſiſchen Geiſt (§. 431, 2.) entſprechend, am Palaſte
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hat den Schaft zur Freiheit entwickelt und zwar in vollem Gegenſatz gegen
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ſehr ſchlank zu bedeutender Höhe auf, wodurch ein Ausdruck des Ueber-
gewichts der Kraft über die Laſt auch hier ſich geltend macht. Baſis und
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[278/0118] ungeheuern Stufenbau hervorzuheben: ſie bezeichnet zunächſt dieſen Bau als einſeitigen Außenbau und dadurch ebenſogut wie der bloße Innenbau des Grottentempels das verborgene Weſen des Gottes oder Geiſtes, der im obern Heiligthum des Belusthurms gar keine Bildſäule hatte, während ebenda das Tempelgemach im unterſten Geſchoße mit der Bildſäule des Gottes auch noch in keinem Verhältniß zur Größe des Ganzen ſtand. Dieſer Hochbau iſt aber ebenſoſehr bloßer Kraftbau; die Stockwerke tragen einander in Wirklichkeit, aber alle zuſammen ſcheinen einer unge- heuern Laſt entgegenzuſtreben, die nicht oder in unverhältnißmäßiger Klein- heit da iſt, das Streben athmet ſich vielmehr in der Verjüngung des Keils von ſelbſt, ohne Widerſtand aus. Säulen treten nicht auf, denn es iſt nichts zu tragen, es wäre denn richtig, daß die kleinen obern Tempel- häuſer in Niniveh und Babylon Anten-Tempel mit zwei Säulen waren, was aber nicht zum Weſen dieſes Baus als eines Ganzen gehört. Man kann ohne Widerſpruch mit der Ableitung dieſer Form aus dem Tumulus die Auffaſſung Sempers (die vier Elemente der Baukunſt S. 70 ff.) ver- binden, welcher den Thurm als Mittelpunct eines ganzen Terraſſenſyſtems anſchaut, deſſen einzelne Abſätze oder Etagen (denn in den Stockwerken nimmt er durchgängig Wohnungen an) den Knechten und Unterſaßen, dem Fremdenverkehr, lagernden Caravannen, Bazar, Staatsgeſchäften, Unter- richt, Gymnaſtik dienten, worauf höher der öffentliche Palaſt des Herrſchers (Audienz- und Gerichtshof), dann ſein Privatpavillon folgt und endlich erſt die hohe, ebenfalls terraſſirte Pyramide mit dem „Grabmal des Stamm- herrn, der dem unterjochten Volk zum Gott aufgedrungen ward“: das Ganze ein Ausdruck des erobernden Satrapendeſpotismus, eine lagerartige Gruppirung, ein Bild des Subordinationsprinzips. Der Begriff der auf- ragenden Kraft ſteigert ſich in dieſer Auffaſſung zu dem einer ſyſtematiſch dargeſtellten kriegeriſchen Deſpotenkraft. Mit dem Terraſſenſyſteme ver- bindet ſich nun allerdings ein reicher Palaſt-Styl, in Perſien, wie die Reſte von Tſchil-Minar zeigen, in einer Mäßigung und künſtleriſchen Durch- führung des Einzelnen, welche ſich weit über den mit Alabaſterplatten getäfelten, im Weſentlichen jedenfalls ſäulenloſen Ziegelbau Aſſyriens er- erhebt. Man ſieht, daß hier die Fortſchritte nicht am (Grab-)Tempel, ſondern, dem realen perſiſchen Geiſt (§. 431, 2.) entſprechend, am Palaſte geſchehen. Der Säulen-getragene Saal ſpielt eine Hauptrolle. Die Säule hat den Schaft zur Freiheit entwickelt und zwar in vollem Gegenſatz gegen Indien: er iſt nicht nur cannelirt, geſchwellt, verjüngt, ſondern ſteigt ſehr ſchlank zu bedeutender Höhe auf, wodurch ein Ausdruck des Ueber- gewichts der Kraft über die Laſt auch hier ſich geltend macht. Baſis und Kapitell iſt entwickelt; an jener entſpricht die große fallende Welle unter dem Pfühle mit Riemen, der ſchon an das Griechiſche erinnert, nicht dem

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 278. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/118>, abgerufen am 24.11.2024.