Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
Sanctuarium und dieses war ein Schlupfwinkel für den Gott, häufig so, 2. Die griechische Kunst steht auf den Schultern der orientalischen, Vischer's Aesthetik. 3. Band. 19
Sanctuarium und dieſes war ein Schlupfwinkel für den Gott, häufig ſo, 2. Die griechiſche Kunſt ſteht auf den Schultern der orientaliſchen, Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 19
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Sanctuarium und dieſes war ein Schlupfwinkel für den Gott, häufig ſo,
daß er ſelbſt hier nicht zu finden war.
2. Die griechiſche Kunſt ſteht auf den Schultern der orientaliſchen,
ſie iſt eine freie, ſchöpferiſche, organiſche Umbildung derſelben, ſetzt ſie
zur Vorſtufe, zum bloßen Stoff herab. Wie weit dieß ſo zu verſtehen
ſei, daß die Griechen ſelbſt mit orientaliſchen Formen begannen, wieweit
ſo, daß die Uebergangsſtufen auf den Vermittlungswegen, namentlich in
Kleinaſien (auch Phönizien mag dabei gerade in der Baukunſt wichtiger gewe-
ſen ſein, als wir wiſſen) ſich ausbildeten, wieweit ſo, daß ſolche Uebergangsfor-
men überhaupt nicht anzunehmen ſind, ſondern der griechiſche Geiſt mit Einem
Wurf das ihm bekannte Bild vorclaſſiſcher Kunſt umſchuf, darauf können
wir hier nicht eingehen. Der griechiſche Tempelbau erſcheint nach allen
Seiten als eine ſolche organiſche Umbildung. Sein auf ſtarken Stufen
ſich erhebender Unterbau iſt der ſchon in Perſien bedeutend gemäßigte
aſſyriſch-ägyptiſche Terraſſenthurm, degradirt, eingeſchmolzen zur großen,
den Bau wie ein Anathema hinanhaltenden Tafel (vgl. Bötticher a. a. O.
B. I, S. 123); die Stufen ſind nicht zum Steigen, dieſer Zweck erfor-
derte kleinere Zwiſchenſtufen; daraus erhellt deutlich jene Reminiſcenz oder
vielmehr Umbildung einer vorausgehenden unorganiſch maſſenhaften Form.
Jenes kleine Haus, das auf dem Cyrus-Grabmal und wohl auf allen
aſſyriſch-perſiſchen Stufenthürmen (wie auf den mexikaniſchen Teocalli)
ſtand, iſt, wie es ſoll, in der entſprechenden Größe zur Hauptſache gewor-
den; ſehen wir, mit dem Bilde des griechiſchen Tempels in der Phan-
taſie, einen ſolchen Stufenthurm an, ſo meinen wir, wir müſſen ihn von
oben zuſammendrücken, damit die Träger, die Stufen, nicht mehr in dieſem
Mißverhältniß aufgebäumter Größe zum Getragenen, dem Tempelhaus,
ſtehen. Der einſeitige Hochbau hat hiemit aufgehört. Aber darum iſt
nicht der einſeitige ägyptiſche Langbau eingetreten, denn das Oblongum
des Tempelhauſes iſt nicht platt gedeckt, ſondern jenes aus der Zuſammen-
neigung zweier ſchräger Linien gebildete Dach, das als zuſpitzende Wieder-
holung der pyramidalen Bewegung des ganzen Terraſſenbaus ſich über
das mehrmals erwähnte kleine Haus, das er trug, breitete, gibt jetzt der
Decke den Abſchluß, der ihr im ägyptiſchen Tempel in ſo ſtörender Weiſe
mangelt. Die Pyramide iſt, wie ſie ſoll, ein bloßes Moment geworden.
Aber dieſes Dach iſt nicht Walmdach wie an den Teocalli Mexiko’s, ſon-
dern hat die Form angenommen, die ſich auch in Perſien, bei dem Cyrus-
Grabmal, findet: es iſt Giebeldach, hat alſo die reichere Symmetrie zwei
verſchiedener Seitenpaare, deren eines das Vorn- und Hinten, das andere
die Nebenſeiten darſtellt. Zugleich aber geſchieht der weitere Hauptſchritt
einer neuen Organiſation: das Tempelhaus wird zum Magnet, an den
jene Theile anſchießen, die in Indien den freiſtehenden Tempel äußerlich
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