Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
Mittelschiffs fordern aber eine Ergänzung durch das stärkere Widerlager
Mittelſchiffs fordern aber eine Ergänzung durch das ſtärkere Widerlager <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <div n="8"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0154" n="314"/> Mittelſchiffs fordern aber eine Ergänzung durch das ſtärkere Widerlager<lb/> der Seitenſchiffe, und dieſe wird durch die Strebebögen hergeſtellt, welche<lb/> von dem das Dachgeſimſe des Seitenſchiffs überragenden Strebepfeiler<lb/> hinaufſpringen zu dem des Mittelſchiffs. Dieſe Bögen ſtellen die Wechſel-<lb/> beziehung zwiſchen dem Gewölbe der Seitenſchiffe und des Oberſchiffs<lb/> ebenſo im Aeußern her und dar, wie im Innern die aufſchießende Halb-<lb/> ſäule, und es erzeugt ſich das Bild jener allſeitigen Vermittlung, welche<lb/> ein weiterer Grundzug des gothiſchen Styls iſt und die wir ſogleich auf<lb/> einem andern Puncte noch inniger ausgedrückt finden. Ehe wir nämlich<lb/> weiter gehen, müſſen wir, weil hier die Grundzüge des Styls zuſammen-<lb/> zuſtellen ſind, einen Theil der Einzelgliederung ſogleich jetzt beiziehen.<lb/> Die aufgeführten Momente erſcheinen zunächſt ſtructiv bedingt; da aber<lb/> der ganze Fortſchritt kein äußerlich nothwendiger, ſondern ein geiſtig ge-<lb/> wollter iſt, ſo legt ſich die errungene Freiheit als ein ſichtbarer Geiſt<lb/> auch in die Anſchauung, jedoch nicht ohne jene Kunſtformen, deren Be-<lb/> deutung wir von §. 572 her kennen. Sie ſollen zeigen, daß der Trag-<lb/> Pfeiler jetzt noch weniger zu leiſten hat, daß die Laſt nicht ſich über ihn<lb/> herlegt, ſondern in ihn gleichſam niederfließt, oder umgekehrt; jenes<lb/> lebendige Herüber und Hinüber, das ſchon im romaniſchen Bau ſich durch<lb/> die Rippenbildungen an Quer-Längen- und Kreuz-Gurten ſich darſtellte,<lb/> ſoll noch beſtimmteren Ausdruck finden. Der Pfeiler wird daher höher,<lb/> ſchlanker; er bedarf keines eckigen Mauerſtücks mehr zu ſeinem Kerne, er<lb/> kann wieder (unverjüngte) Säule ſein; die Rippen, die von dieſer Stütze<lb/> auslaufen, dürfen nicht, wie im romaniſchen Styl, als er zufolge jener<lb/> ſich entwickelnden Wechſelſpannung des Kreuzgewölbes wieder zur Säule<lb/> griff, häufig geſchah, auf Conſolen auflagern, ſondern ſie müſſen, wenn<lb/> höher belebte Form entſtehen ſoll, dem Säulenkern wie früher dem Pfei-<lb/> lerkern von unten angelegt ſein und aufſteigend in das Gewölbe und<lb/> die es einſpannenden Gurte ſich veräſten. Um nun dieſen Wechſelübertritt<lb/> zwiſchen Kraft und Laſt noch kräftiger auszuſprechen, werden zwiſchen<lb/> dieſen Rundſtäben tiefe Hohlkehlen in den Säulenkern ſo eingeſchnitten,<lb/> daß ſeine Rundung nicht mehr convex hervortritt und die Rundſtäbe nicht<lb/> mehr angelegt, ſondern als Ausſproſſungen Einer Maſſe erſcheinen. Die<lb/> eingezogene und ausgeſchweifte Geſtalt erſcheint nun dem Auge als ein-<lb/> gezeichnet in ein übereckgeſtelltes Viereck: ein Moment, auf das wir zu-<lb/> rückkommen werden. Die tiefe Kehle ſpricht die ſtraffſte Zuſammenfaſſung<lb/> des Körpers aus, der ſeine Tragkraft entwickeln ſoll, und die Leiſtung<lb/> der Kraft, die nun, je ſchlanker das Ganze, deſto energiſcher erſcheinen<lb/> muß, ſchwellt die Rundſtäbe zu der belebteren Birnenform aus. Dieſe<lb/> Formen mit ihren Kehlen laufen denn durch das Kapitell hindurch fort<lb/> in die verſchiedenen Gurten, an denen nun kein Reſt von eckig ſchwerer<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [314/0154]
Mittelſchiffs fordern aber eine Ergänzung durch das ſtärkere Widerlager
der Seitenſchiffe, und dieſe wird durch die Strebebögen hergeſtellt, welche
von dem das Dachgeſimſe des Seitenſchiffs überragenden Strebepfeiler
hinaufſpringen zu dem des Mittelſchiffs. Dieſe Bögen ſtellen die Wechſel-
beziehung zwiſchen dem Gewölbe der Seitenſchiffe und des Oberſchiffs
ebenſo im Aeußern her und dar, wie im Innern die aufſchießende Halb-
ſäule, und es erzeugt ſich das Bild jener allſeitigen Vermittlung, welche
ein weiterer Grundzug des gothiſchen Styls iſt und die wir ſogleich auf
einem andern Puncte noch inniger ausgedrückt finden. Ehe wir nämlich
weiter gehen, müſſen wir, weil hier die Grundzüge des Styls zuſammen-
zuſtellen ſind, einen Theil der Einzelgliederung ſogleich jetzt beiziehen.
Die aufgeführten Momente erſcheinen zunächſt ſtructiv bedingt; da aber
der ganze Fortſchritt kein äußerlich nothwendiger, ſondern ein geiſtig ge-
wollter iſt, ſo legt ſich die errungene Freiheit als ein ſichtbarer Geiſt
auch in die Anſchauung, jedoch nicht ohne jene Kunſtformen, deren Be-
deutung wir von §. 572 her kennen. Sie ſollen zeigen, daß der Trag-
Pfeiler jetzt noch weniger zu leiſten hat, daß die Laſt nicht ſich über ihn
herlegt, ſondern in ihn gleichſam niederfließt, oder umgekehrt; jenes
lebendige Herüber und Hinüber, das ſchon im romaniſchen Bau ſich durch
die Rippenbildungen an Quer-Längen- und Kreuz-Gurten ſich darſtellte,
ſoll noch beſtimmteren Ausdruck finden. Der Pfeiler wird daher höher,
ſchlanker; er bedarf keines eckigen Mauerſtücks mehr zu ſeinem Kerne, er
kann wieder (unverjüngte) Säule ſein; die Rippen, die von dieſer Stütze
auslaufen, dürfen nicht, wie im romaniſchen Styl, als er zufolge jener
ſich entwickelnden Wechſelſpannung des Kreuzgewölbes wieder zur Säule
griff, häufig geſchah, auf Conſolen auflagern, ſondern ſie müſſen, wenn
höher belebte Form entſtehen ſoll, dem Säulenkern wie früher dem Pfei-
lerkern von unten angelegt ſein und aufſteigend in das Gewölbe und
die es einſpannenden Gurte ſich veräſten. Um nun dieſen Wechſelübertritt
zwiſchen Kraft und Laſt noch kräftiger auszuſprechen, werden zwiſchen
dieſen Rundſtäben tiefe Hohlkehlen in den Säulenkern ſo eingeſchnitten,
daß ſeine Rundung nicht mehr convex hervortritt und die Rundſtäbe nicht
mehr angelegt, ſondern als Ausſproſſungen Einer Maſſe erſcheinen. Die
eingezogene und ausgeſchweifte Geſtalt erſcheint nun dem Auge als ein-
gezeichnet in ein übereckgeſtelltes Viereck: ein Moment, auf das wir zu-
rückkommen werden. Die tiefe Kehle ſpricht die ſtraffſte Zuſammenfaſſung
des Körpers aus, der ſeine Tragkraft entwickeln ſoll, und die Leiſtung
der Kraft, die nun, je ſchlanker das Ganze, deſto energiſcher erſcheinen
muß, ſchwellt die Rundſtäbe zu der belebteren Birnenform aus. Dieſe
Formen mit ihren Kehlen laufen denn durch das Kapitell hindurch fort
in die verſchiedenen Gurten, an denen nun kein Reſt von eckig ſchwerer
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