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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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die Umkehrung des Verhältnisses zwischen Kunst und Handwerk §. 514.
In der That aber ist der wahre Sinn dieser Umkehrung nicht der, daß
der Künstler, der nicht handwerksmäßiger Techniker ist, diesem seine Er-
findungen hinüberreicht und bei seiner Ausbildung akademisch mitwirkt,
sondern ein großer Theil der Talente, welche sich zur höheren Kunst
rechnen, müßte geradezu selbst technisch thätig werden in diesem Gebiete,
zu ihm, wenn man will, hinuntersteigen. Aber auch dieser Uebertritt, die
Bevölkerung des feineren Gewerkes mit Künstlern, würde, selbst in Massen
vollzogen, uns nicht in naher Zukunft zu dem führen, was uns fehlt,
einem Styl. Die tröstlichste Betrachtung der gegenwärtigen Zustände ist
die von Semper (Wissenschaft, Industrie und Kunst) ausgesprochene; er
faßt das nachahmende Formengemisch unserer Zeit als einen Zersetzungs-
prozeß aller traditionellen Typen durch ihre ornamentale Behandlung auf,
welche einer neuen originalen Stylbildung ebenso vorausgehen muß, wie
die fruchtbare Erde sich aus zerriebenen Schichten früherer Formationen,
aus verwesten Pflanzenwelten bildet. Im Ganzen und Großen ruht aber
die Hoffnung auf derselben Betrachtung wie die Hoffnung auf eine neue
Entwicklung der Baukunst.



Schnellpressendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.


die Umkehrung des Verhältniſſes zwiſchen Kunſt und Handwerk §. 514.
In der That aber iſt der wahre Sinn dieſer Umkehrung nicht der, daß
der Künſtler, der nicht handwerksmäßiger Techniker iſt, dieſem ſeine Er-
findungen hinüberreicht und bei ſeiner Ausbildung akademiſch mitwirkt,
ſondern ein großer Theil der Talente, welche ſich zur höheren Kunſt
rechnen, müßte geradezu ſelbſt techniſch thätig werden in dieſem Gebiete,
zu ihm, wenn man will, hinunterſteigen. Aber auch dieſer Uebertritt, die
Bevölkerung des feineren Gewerkes mit Künſtlern, würde, ſelbſt in Maſſen
vollzogen, uns nicht in naher Zukunft zu dem führen, was uns fehlt,
einem Styl. Die tröſtlichſte Betrachtung der gegenwärtigen Zuſtände iſt
die von Semper (Wiſſenſchaft, Induſtrie und Kunſt) ausgeſprochene; er
faßt das nachahmende Formengemiſch unſerer Zeit als einen Zerſetzungs-
prozeß aller traditionellen Typen durch ihre ornamentale Behandlung auf,
welche einer neuen originalen Stylbildung ebenſo vorausgehen muß, wie
die fruchtbare Erde ſich aus zerriebenen Schichten früherer Formationen,
aus verwesten Pflanzenwelten bildet. Im Ganzen und Großen ruht aber
die Hoffnung auf derſelben Betrachtung wie die Hoffnung auf eine neue
Entwicklung der Baukunſt.



Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.


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[338/0178] die Umkehrung des Verhältniſſes zwiſchen Kunſt und Handwerk §. 514. In der That aber iſt der wahre Sinn dieſer Umkehrung nicht der, daß der Künſtler, der nicht handwerksmäßiger Techniker iſt, dieſem ſeine Er- findungen hinüberreicht und bei ſeiner Ausbildung akademiſch mitwirkt, ſondern ein großer Theil der Talente, welche ſich zur höheren Kunſt rechnen, müßte geradezu ſelbſt techniſch thätig werden in dieſem Gebiete, zu ihm, wenn man will, hinunterſteigen. Aber auch dieſer Uebertritt, die Bevölkerung des feineren Gewerkes mit Künſtlern, würde, ſelbſt in Maſſen vollzogen, uns nicht in naher Zukunft zu dem führen, was uns fehlt, einem Styl. Die tröſtlichſte Betrachtung der gegenwärtigen Zuſtände iſt die von Semper (Wiſſenſchaft, Induſtrie und Kunſt) ausgeſprochene; er faßt das nachahmende Formengemiſch unſerer Zeit als einen Zerſetzungs- prozeß aller traditionellen Typen durch ihre ornamentale Behandlung auf, welche einer neuen originalen Stylbildung ebenſo vorausgehen muß, wie die fruchtbare Erde ſich aus zerriebenen Schichten früherer Formationen, aus verwesten Pflanzenwelten bildet. Im Ganzen und Großen ruht aber die Hoffnung auf derſelben Betrachtung wie die Hoffnung auf eine neue Entwicklung der Baukunſt. Schnellpreſſendruck der Buchdruckerei von J. C. Mäcken Sohn in Reutlingen.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 338. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/178>, abgerufen am 24.11.2024.