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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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und zugleich das eigentliche Ornament umfaßt. Die Grenze zwischen den
Gliedern und dem bloßen Ornament kann vorerst im Allgemeinen nicht
näher bestimmt werden, als dahin: das Ornament verrichtet entschieden
keine structive Function, das Glied kann fungiren oder auch nicht,
einmal angewandt fungirt es theilweise, aber seine Anwendung ist an sich
structiv nicht nothwendig. Mehr darüber später. Da nun dieser Theil
des Baues theils keine, theils zweifelhafte und untergeordnete structive
Dienste verrichtet, also gegenüber der Beziehung äußerer Zweckmäßigkeit
als ein Ueberfluß erscheint, ein reiner Schein der Oberfläche, der dem
nackten Körper des Baues übergeworfen wird, so ist es herkömmlich, ihn
allein als die rein ästhetische Seite des Ganzen anzusehen und jenem
nackten Körper, der nun Kernform heißt, diese Schaale als Kunst-
form
gegenüberzustellen. So aber wirft man offenbar die Architektur als
Kunst ganz unter die blos anhängenden Künste, wohin doch vielmehr
gerade nur die gemeine, dem gewöhnlichen Wohnbedürfniß dienende gehört,
in welcher sich freilich der Schmuck nur so ansetzt, wie an einen Tisch
oder Stuhl. Eben was wir im vorhergehenden und im gegenwärtigen
Paragraphen auseinandergesetzt haben, beweist, daß die Kernform selbst
schon Kunstform ist: die von der Idee des Innern, dem der Bau zur
würdigen Umschließung werden soll, begeisterte Phantasie hat das Bild
des Ganzen geschaffen und structiv so durchgegliedert, daß die Bedingungen
der Schwere selbst, überwunden in dem entwickelten Sinne, zum Ausdruck
ihrer Idee dienen mußten. Es ist auch bereits hervorgehoben, daß
der ästhetische Ueberfluß schon im Plane des Ganzen, in ganzen,
wesentlichen Hauptheilen (namentlich der Säulenhalle) seine Stelle findet.
Sagt man nun, dieß Ganze würde dennoch nackt und todt erscheinen
ohne die decorative Gliederung, welche eben jenem innern Leben erst seinen
Ausdruck gibt, so ist die Antwort einfach diese, daß gerade, weil dieses
Ganze mit seinen wesentlichen Structur-Theilen das Geheimniß der Schön-
heit schon in sich trägt, das decorative Heraustreten dieses Geheimnisses
in der Conception desselben schon organisch mitempfangen sein muß und
nur in wissenschaftlicher Trennung für sich betrachtet wird. Die
Kernform verhält sich zu ihrer Schaale organisch: sie sind trennbar,
aber sie sind miteinander gewachsen, wie in jeder Frucht. Der sinnvoll
Anschauende muß auch dem von der Decoration entblösten Kerne an-
sehen, daß er ein künstlerisches Werk ist, wie er dieß dem blos angelegten
Gemälde ansieht, und die fehlende oder weggedachte Decoration muß
seiner Phantasie auf's Neue innerlich aus dem nackten Kern heraus-
wachsen.


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und zugleich das eigentliche Ornament umfaßt. Die Grenze zwiſchen den
Gliedern und dem bloßen Ornament kann vorerſt im Allgemeinen nicht
näher beſtimmt werden, als dahin: das Ornament verrichtet entſchieden
keine ſtructive Function, das Glied kann fungiren oder auch nicht,
einmal angewandt fungirt es theilweiſe, aber ſeine Anwendung iſt an ſich
ſtructiv nicht nothwendig. Mehr darüber ſpäter. Da nun dieſer Theil
des Baues theils keine, theils zweifelhafte und untergeordnete ſtructive
Dienſte verrichtet, alſo gegenüber der Beziehung äußerer Zweckmäßigkeit
als ein Ueberfluß erſcheint, ein reiner Schein der Oberfläche, der dem
nackten Körper des Baues übergeworfen wird, ſo iſt es herkömmlich, ihn
allein als die rein äſthetiſche Seite des Ganzen anzuſehen und jenem
nackten Körper, der nun Kernform heißt, dieſe Schaale als Kunſt-
form
gegenüberzuſtellen. So aber wirft man offenbar die Architektur als
Kunſt ganz unter die blos anhängenden Künſte, wohin doch vielmehr
gerade nur die gemeine, dem gewöhnlichen Wohnbedürfniß dienende gehört,
in welcher ſich freilich der Schmuck nur ſo anſetzt, wie an einen Tiſch
oder Stuhl. Eben was wir im vorhergehenden und im gegenwärtigen
Paragraphen auseinandergeſetzt haben, beweist, daß die Kernform ſelbſt
ſchon Kunſtform iſt: die von der Idee des Innern, dem der Bau zur
würdigen Umſchließung werden ſoll, begeiſterte Phantaſie hat das Bild
des Ganzen geſchaffen und ſtructiv ſo durchgegliedert, daß die Bedingungen
der Schwere ſelbſt, überwunden in dem entwickelten Sinne, zum Ausdruck
ihrer Idee dienen mußten. Es iſt auch bereits hervorgehoben, daß
der äſthetiſche Ueberfluß ſchon im Plane des Ganzen, in ganzen,
weſentlichen Hauptheilen (namentlich der Säulenhalle) ſeine Stelle findet.
Sagt man nun, dieß Ganze würde dennoch nackt und todt erſcheinen
ohne die decorative Gliederung, welche eben jenem innern Leben erſt ſeinen
Ausdruck gibt, ſo iſt die Antwort einfach dieſe, daß gerade, weil dieſes
Ganze mit ſeinen weſentlichen Structur-Theilen das Geheimniß der Schön-
heit ſchon in ſich trägt, das decorative Heraustreten dieſes Geheimniſſes
in der Conception deſſelben ſchon organiſch mitempfangen ſein muß und
nur in wiſſenſchaftlicher Trennung für ſich betrachtet wird. Die
Kernform verhält ſich zu ihrer Schaale organiſch: ſie ſind trennbar,
aber ſie ſind miteinander gewachſen, wie in jeder Frucht. Der ſinnvoll
Anſchauende muß auch dem von der Decoration entblösten Kerne an-
ſehen, daß er ein künſtleriſches Werk iſt, wie er dieß dem blos angelegten
Gemälde anſieht, und die fehlende oder weggedachte Decoration muß
ſeiner Phantaſie auf’s Neue innerlich aus dem nackten Kern heraus-
wachſen.


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[191/0031] und zugleich das eigentliche Ornament umfaßt. Die Grenze zwiſchen den Gliedern und dem bloßen Ornament kann vorerſt im Allgemeinen nicht näher beſtimmt werden, als dahin: das Ornament verrichtet entſchieden keine ſtructive Function, das Glied kann fungiren oder auch nicht, einmal angewandt fungirt es theilweiſe, aber ſeine Anwendung iſt an ſich ſtructiv nicht nothwendig. Mehr darüber ſpäter. Da nun dieſer Theil des Baues theils keine, theils zweifelhafte und untergeordnete ſtructive Dienſte verrichtet, alſo gegenüber der Beziehung äußerer Zweckmäßigkeit als ein Ueberfluß erſcheint, ein reiner Schein der Oberfläche, der dem nackten Körper des Baues übergeworfen wird, ſo iſt es herkömmlich, ihn allein als die rein äſthetiſche Seite des Ganzen anzuſehen und jenem nackten Körper, der nun Kernform heißt, dieſe Schaale als Kunſt- form gegenüberzuſtellen. So aber wirft man offenbar die Architektur als Kunſt ganz unter die blos anhängenden Künſte, wohin doch vielmehr gerade nur die gemeine, dem gewöhnlichen Wohnbedürfniß dienende gehört, in welcher ſich freilich der Schmuck nur ſo anſetzt, wie an einen Tiſch oder Stuhl. Eben was wir im vorhergehenden und im gegenwärtigen Paragraphen auseinandergeſetzt haben, beweist, daß die Kernform ſelbſt ſchon Kunſtform iſt: die von der Idee des Innern, dem der Bau zur würdigen Umſchließung werden ſoll, begeiſterte Phantaſie hat das Bild des Ganzen geſchaffen und ſtructiv ſo durchgegliedert, daß die Bedingungen der Schwere ſelbſt, überwunden in dem entwickelten Sinne, zum Ausdruck ihrer Idee dienen mußten. Es iſt auch bereits hervorgehoben, daß der äſthetiſche Ueberfluß ſchon im Plane des Ganzen, in ganzen, weſentlichen Hauptheilen (namentlich der Säulenhalle) ſeine Stelle findet. Sagt man nun, dieß Ganze würde dennoch nackt und todt erſcheinen ohne die decorative Gliederung, welche eben jenem innern Leben erſt ſeinen Ausdruck gibt, ſo iſt die Antwort einfach dieſe, daß gerade, weil dieſes Ganze mit ſeinen weſentlichen Structur-Theilen das Geheimniß der Schön- heit ſchon in ſich trägt, das decorative Heraustreten dieſes Geheimniſſes in der Conception deſſelben ſchon organiſch mitempfangen ſein muß und nur in wiſſenſchaftlicher Trennung für ſich betrachtet wird. Die Kernform verhält ſich zu ihrer Schaale organiſch: ſie ſind trennbar, aber ſie ſind miteinander gewachſen, wie in jeder Frucht. Der ſinnvoll Anſchauende muß auch dem von der Decoration entblösten Kerne an- ſehen, daß er ein künſtleriſches Werk iſt, wie er dieß dem blos angelegten Gemälde anſieht, und die fehlende oder weggedachte Decoration muß ſeiner Phantaſie auf’s Neue innerlich aus dem nackten Kern heraus- wachſen. 13*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 191. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/31>, abgerufen am 21.11.2024.