Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.
aus dem Vorherrschen der einen oder andern entstehenden Hauptrichtungen
aus dem Vorherrſchen der einen oder andern entſtehenden Hauptrichtungen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0059" n="219"/> aus dem Vorherrſchen der einen oder andern entſtehenden Hauptrichtungen<lb/> in der Darſtellung der geſchichtlichen Style nach ihrem geiſtigen Ausdruck<lb/> beſtimmter charakteriſirt werden. Die Bedeutung, die wir der Brechung<lb/> der einen Linie durch die andere, der Zuſammenſtellung im Winkel u. ſ. w.<lb/> beilegen, mag man ſich vorſtellig machen, indem man ſich erinnert, wie<lb/> wir die Symbolik der abſtracten Formen ſelbſt auf das reiche Leben des<lb/> Charakters übertragend, den unintereſſanten Menſchen flach nennen, von<lb/> dem in’s Unbeſtimmte zerfließenden Gemüthe ſagen, es fehlen ihm die<lb/> Ecken und Spitzen. Dieß iſt nun freilich ein Vergleichen mit ganz Ent-<lb/> legenem, analogiſirt man beſtimmter, ſo iſt es eine andere Linie, die an<lb/> den Geiſt gemahnt, wogegen dann die gerade und der Winkel als ſtreng<lb/> ſächlich erſcheint; immer jedoch bleibt die Umwendung von einer Linie in<lb/> die andere die erſte Beſtimmung des Unbeſtimmten, immer erſcheint dieſer<lb/> Abſtoß als ein entferntes Vorzeichen deſſen, was in unendlich höherem<lb/> Gebiete der Gegenſtoß von Ich und Nicht-Ich iſt. — Gehen wir nun<lb/> ſpeziell auf die verſchiedenen Linien ein, ſo bedarf die Ausſage des §.<lb/> über die Wirkung der wagrechten und ſenkrechten keiner weitern Aus-<lb/> führung, die Charakter-Unterſchiede des Styls, worin die eine oder andere<lb/> vorherrſcht, ſind ſo bekannt, daß wir uns ſchon hier darauf berufen dürfen.<lb/> Die unterſcheidende Bewegung und Zuſammenfaſſung tritt nun zunächſt in<lb/> der wagrechten Linie ein durch den rechten Winkel, der vierfach wieder-<lb/> holt das Viereck eines Grundriſſes bildet: ſie ſtößt ſich viermal ab und<lb/> kehrt ſo in ſich zurück. Da wir die Linien immer zugleich als Flächen<lb/> vor uns haben, ſo laſſen wir nun aus dem Zuſammentritt mit der ſenk-<lb/> rechten Linie ſogleich den von ſechs Vierecken umgrenzten Körper entſtehen,<lb/> den wir nur darum nicht mit ſeinem eigentlichen Namen Würfel nennen,<lb/> weil wir uns als herrſchende Form das Oblongum im Grundriſſe vor-<lb/> behalten müſſen, in welchem ein Unterſchied der Länge von der Breite<lb/> und Höhe auftritt, der in concreterem Zuſammenhang weiterhin aufzu-<lb/> faſſen iſt. Beide Linien, die wagrechte und ſenkrechte, ſind nun von der<lb/> doppelten Bewegung des Hin- und Zurückfließens ergriffen; das Auge<lb/> geht in die Tiefe, muß umwenden und zurückgehen, es ſteigt an Wänden<lb/> und Stützen auf, ſinkt wieder herab und ſteigt wieder auf: ein erſter, zu<lb/> relativem Abſchluß gelangender Bewegungsprozeß. Was nun die ſchräge<lb/> Linie betrifft, ſo macht ſich ihre zuſammenfaſſende Natur als Diagonale<lb/> in der Theilung des liegenden Vierecks geltend, noch wichtiger iſt der<lb/> Zuſammentritt zweier ſchräger Linien als Abſchluß nach oben im Giebel<lb/> (die geböſchten Mauern, Thüren Aegyptens ſind eine ſchon von unten be-<lb/> ginnende Neigung zu dieſem Zuſammentritt): hier ſteht ſie in der Mitte<lb/> zwiſchen Liegen und Aufſteigen, iſt daher wirklich vermittelnd und gibt in<lb/> dem ruhigeren oder bewegteren Abſchluß des ſtumpferen oder ſpitzeren<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [219/0059]
aus dem Vorherrſchen der einen oder andern entſtehenden Hauptrichtungen
in der Darſtellung der geſchichtlichen Style nach ihrem geiſtigen Ausdruck
beſtimmter charakteriſirt werden. Die Bedeutung, die wir der Brechung
der einen Linie durch die andere, der Zuſammenſtellung im Winkel u. ſ. w.
beilegen, mag man ſich vorſtellig machen, indem man ſich erinnert, wie
wir die Symbolik der abſtracten Formen ſelbſt auf das reiche Leben des
Charakters übertragend, den unintereſſanten Menſchen flach nennen, von
dem in’s Unbeſtimmte zerfließenden Gemüthe ſagen, es fehlen ihm die
Ecken und Spitzen. Dieß iſt nun freilich ein Vergleichen mit ganz Ent-
legenem, analogiſirt man beſtimmter, ſo iſt es eine andere Linie, die an
den Geiſt gemahnt, wogegen dann die gerade und der Winkel als ſtreng
ſächlich erſcheint; immer jedoch bleibt die Umwendung von einer Linie in
die andere die erſte Beſtimmung des Unbeſtimmten, immer erſcheint dieſer
Abſtoß als ein entferntes Vorzeichen deſſen, was in unendlich höherem
Gebiete der Gegenſtoß von Ich und Nicht-Ich iſt. — Gehen wir nun
ſpeziell auf die verſchiedenen Linien ein, ſo bedarf die Ausſage des §.
über die Wirkung der wagrechten und ſenkrechten keiner weitern Aus-
führung, die Charakter-Unterſchiede des Styls, worin die eine oder andere
vorherrſcht, ſind ſo bekannt, daß wir uns ſchon hier darauf berufen dürfen.
Die unterſcheidende Bewegung und Zuſammenfaſſung tritt nun zunächſt in
der wagrechten Linie ein durch den rechten Winkel, der vierfach wieder-
holt das Viereck eines Grundriſſes bildet: ſie ſtößt ſich viermal ab und
kehrt ſo in ſich zurück. Da wir die Linien immer zugleich als Flächen
vor uns haben, ſo laſſen wir nun aus dem Zuſammentritt mit der ſenk-
rechten Linie ſogleich den von ſechs Vierecken umgrenzten Körper entſtehen,
den wir nur darum nicht mit ſeinem eigentlichen Namen Würfel nennen,
weil wir uns als herrſchende Form das Oblongum im Grundriſſe vor-
behalten müſſen, in welchem ein Unterſchied der Länge von der Breite
und Höhe auftritt, der in concreterem Zuſammenhang weiterhin aufzu-
faſſen iſt. Beide Linien, die wagrechte und ſenkrechte, ſind nun von der
doppelten Bewegung des Hin- und Zurückfließens ergriffen; das Auge
geht in die Tiefe, muß umwenden und zurückgehen, es ſteigt an Wänden
und Stützen auf, ſinkt wieder herab und ſteigt wieder auf: ein erſter, zu
relativem Abſchluß gelangender Bewegungsprozeß. Was nun die ſchräge
Linie betrifft, ſo macht ſich ihre zuſammenfaſſende Natur als Diagonale
in der Theilung des liegenden Vierecks geltend, noch wichtiger iſt der
Zuſammentritt zweier ſchräger Linien als Abſchluß nach oben im Giebel
(die geböſchten Mauern, Thüren Aegyptens ſind eine ſchon von unten be-
ginnende Neigung zu dieſem Zuſammentritt): hier ſteht ſie in der Mitte
zwiſchen Liegen und Aufſteigen, iſt daher wirklich vermittelnd und gibt in
dem ruhigeren oder bewegteren Abſchluß des ſtumpferen oder ſpitzeren
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