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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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zuerst nach dem Gesetze des Umfangs-Maaßes (§. 495. 496) oder der
Oekonomie so durchzubilden, daß nach der Seite der architektonischen Auf-
gabe und der in ihr enthaltenen Idee nichts fehlt und nichts müßig liegt, nach
der structiven Seite alle Theile zu Momenten des wechselwirkenden Ganzen,
d. h. zu Gliedern werden.

Wir haben nun die Composition als die Herstellung der Einheit in
der Vielheit zu betrachten und fassen sie hier von Anfang an als
Rhythmusbildend auf, denn hier ist der Rhythmus Alles: d. h. er hat
nicht, wie in andern Künsten, Individuen zu ordnen, welche auch außer
dieser Ordnung etwas für sich wären; der Theil eines Gebäudes (z. B.
die Säule) kann ein Individuum genannt werden, aber nie in dem Sinne,
wie z. B. eine einzelne menschliche Gestalt in einer plastischen Gruppe,
einem Gemälde, Gedichte von mehreren Figuren, Charakteren, denn er ist
außer seiner Beziehung zum Ganzen nichts, existirt als Einzelwesen in
der Natur gar nicht. Das ganze Geheimniß der Schönheit liegt also
im Verhältniß, was in der Darstellung des allgemeinen Wesens der
Baukunst hinreichend dargethan ist. Indem wir nun den dort (§. 557)
schon aufgestellten Begriff des Rhythmus, wie alle jene ersten allgemeinen
Bestimmungen zergliedern, nehmen wir die einzelnen Pflichten der Com-
position der Reihe nach auf, wie sie in §. 495 ff. aufgestellt sind, und
nennen die erste, welche das Maaß zu bestimmen hat, wodurch das Zu-
viel und das Zuwenig abgeschnitten wird, die der Oekonomie, denn
obwohl diese erste Aufgabe der Composition in der Anwendung auf
sämmtliche Künste so heißen kann, so gilt doch der Name schon seiner
Etymologie nach im strengsten Sinne der Baukunst. Beiläufig ist
der Begriff schon zu §. 556 aufgeführt, wir fassen ihn jetzt ge-
nauer. Die Oekonomie ist nicht blos Sparsamkeit, man verstehe denn
darunter mehr, als eine blos negative Thätigkeit, nämlich jene Weisheit
des Haushalts, die am rechten Orte reichlich ausgibt um am andern
wenig oder nichts ausgeben zu müssen, während die Thorheit durch ein
Zuwenig am falschen Ort zu einem Zuviel am andern genöthigt wird.
Diese Pflicht oder Tugend bezieht sich nun zunächst auf den gegebenen
Bauzweck, der aber nachgewiesener Maßen mit der Idee zusammenfällt,
weil eben ein an sich idealer Zweck vorausgesetzt ist. Was dem Gottes-
dienst abgeht, das fehlt dem Ausdrucke der Gottheit, was leer und müßig
steht als ein todter Ueberfluß, dient weder diesem noch jenem. Die
Glockenthürme, die dem Pantheon zu Rom aufgesetzt sind, erscheinen als
ein rein störender Ueberfluß an einem antiken Tempel und sind zugleich
zu wenig für den christlichen Begriff des Glockenthurms, der mit diesem
antiken Gebäude unvereinbar ist; dieß fällt selbst abgesehen von ihren

zuerſt nach dem Geſetze des Umfangs-Maaßes (§. 495. 496) oder der
Oekonomie ſo durchzubilden, daß nach der Seite der architektoniſchen Auf-
gabe und der in ihr enthaltenen Idee nichts fehlt und nichts müßig liegt, nach
der ſtructiven Seite alle Theile zu Momenten des wechſelwirkenden Ganzen,
d. h. zu Gliedern werden.

Wir haben nun die Compoſition als die Herſtellung der Einheit in
der Vielheit zu betrachten und faſſen ſie hier von Anfang an als
Rhythmusbildend auf, denn hier iſt der Rhythmus Alles: d. h. er hat
nicht, wie in andern Künſten, Individuen zu ordnen, welche auch außer
dieſer Ordnung etwas für ſich wären; der Theil eines Gebäudes (z. B.
die Säule) kann ein Individuum genannt werden, aber nie in dem Sinne,
wie z. B. eine einzelne menſchliche Geſtalt in einer plaſtiſchen Gruppe,
einem Gemälde, Gedichte von mehreren Figuren, Charakteren, denn er iſt
außer ſeiner Beziehung zum Ganzen nichts, exiſtirt als Einzelweſen in
der Natur gar nicht. Das ganze Geheimniß der Schönheit liegt alſo
im Verhältniß, was in der Darſtellung des allgemeinen Weſens der
Baukunſt hinreichend dargethan iſt. Indem wir nun den dort (§. 557)
ſchon aufgeſtellten Begriff des Rhythmus, wie alle jene erſten allgemeinen
Beſtimmungen zergliedern, nehmen wir die einzelnen Pflichten der Com-
poſition der Reihe nach auf, wie ſie in §. 495 ff. aufgeſtellt ſind, und
nennen die erſte, welche das Maaß zu beſtimmen hat, wodurch das Zu-
viel und das Zuwenig abgeſchnitten wird, die der Oekonomie, denn
obwohl dieſe erſte Aufgabe der Compoſition in der Anwendung auf
ſämmtliche Künſte ſo heißen kann, ſo gilt doch der Name ſchon ſeiner
Etymologie nach im ſtrengſten Sinne der Baukunſt. Beiläufig iſt
der Begriff ſchon zu §. 556 aufgeführt, wir faſſen ihn jetzt ge-
nauer. Die Oekonomie iſt nicht blos Sparſamkeit, man verſtehe denn
darunter mehr, als eine blos negative Thätigkeit, nämlich jene Weisheit
des Haushalts, die am rechten Orte reichlich ausgibt um am andern
wenig oder nichts ausgeben zu müſſen, während die Thorheit durch ein
Zuwenig am falſchen Ort zu einem Zuviel am andern genöthigt wird.
Dieſe Pflicht oder Tugend bezieht ſich nun zunächſt auf den gegebenen
Bauzweck, der aber nachgewieſener Maßen mit der Idee zuſammenfällt,
weil eben ein an ſich idealer Zweck vorausgeſetzt iſt. Was dem Gottes-
dienſt abgeht, das fehlt dem Ausdrucke der Gottheit, was leer und müßig
ſteht als ein todter Ueberfluß, dient weder dieſem noch jenem. Die
Glockenthürme, die dem Pantheon zu Rom aufgeſetzt ſind, erſcheinen als
ein rein ſtörender Ueberfluß an einem antiken Tempel und ſind zugleich
zu wenig für den chriſtlichen Begriff des Glockenthurms, der mit dieſem
antiken Gebäude unvereinbar iſt; dieß fällt ſelbſt abgeſehen von ihren

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[224/0064] zuerſt nach dem Geſetze des Umfangs-Maaßes (§. 495. 496) oder der Oekonomie ſo durchzubilden, daß nach der Seite der architektoniſchen Auf- gabe und der in ihr enthaltenen Idee nichts fehlt und nichts müßig liegt, nach der ſtructiven Seite alle Theile zu Momenten des wechſelwirkenden Ganzen, d. h. zu Gliedern werden. Wir haben nun die Compoſition als die Herſtellung der Einheit in der Vielheit zu betrachten und faſſen ſie hier von Anfang an als Rhythmusbildend auf, denn hier iſt der Rhythmus Alles: d. h. er hat nicht, wie in andern Künſten, Individuen zu ordnen, welche auch außer dieſer Ordnung etwas für ſich wären; der Theil eines Gebäudes (z. B. die Säule) kann ein Individuum genannt werden, aber nie in dem Sinne, wie z. B. eine einzelne menſchliche Geſtalt in einer plaſtiſchen Gruppe, einem Gemälde, Gedichte von mehreren Figuren, Charakteren, denn er iſt außer ſeiner Beziehung zum Ganzen nichts, exiſtirt als Einzelweſen in der Natur gar nicht. Das ganze Geheimniß der Schönheit liegt alſo im Verhältniß, was in der Darſtellung des allgemeinen Weſens der Baukunſt hinreichend dargethan iſt. Indem wir nun den dort (§. 557) ſchon aufgeſtellten Begriff des Rhythmus, wie alle jene erſten allgemeinen Beſtimmungen zergliedern, nehmen wir die einzelnen Pflichten der Com- poſition der Reihe nach auf, wie ſie in §. 495 ff. aufgeſtellt ſind, und nennen die erſte, welche das Maaß zu beſtimmen hat, wodurch das Zu- viel und das Zuwenig abgeſchnitten wird, die der Oekonomie, denn obwohl dieſe erſte Aufgabe der Compoſition in der Anwendung auf ſämmtliche Künſte ſo heißen kann, ſo gilt doch der Name ſchon ſeiner Etymologie nach im ſtrengſten Sinne der Baukunſt. Beiläufig iſt der Begriff ſchon zu §. 556 aufgeführt, wir faſſen ihn jetzt ge- nauer. Die Oekonomie iſt nicht blos Sparſamkeit, man verſtehe denn darunter mehr, als eine blos negative Thätigkeit, nämlich jene Weisheit des Haushalts, die am rechten Orte reichlich ausgibt um am andern wenig oder nichts ausgeben zu müſſen, während die Thorheit durch ein Zuwenig am falſchen Ort zu einem Zuviel am andern genöthigt wird. Dieſe Pflicht oder Tugend bezieht ſich nun zunächſt auf den gegebenen Bauzweck, der aber nachgewieſener Maßen mit der Idee zuſammenfällt, weil eben ein an ſich idealer Zweck vorausgeſetzt iſt. Was dem Gottes- dienſt abgeht, das fehlt dem Ausdrucke der Gottheit, was leer und müßig ſteht als ein todter Ueberfluß, dient weder dieſem noch jenem. Die Glockenthürme, die dem Pantheon zu Rom aufgeſetzt ſind, erſcheinen als ein rein ſtörender Ueberfluß an einem antiken Tempel und ſind zugleich zu wenig für den chriſtlichen Begriff des Glockenthurms, der mit dieſem antiken Gebäude unvereinbar iſt; dieß fällt ſelbſt abgeſehen von ihren

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 224. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/64>, abgerufen am 21.11.2024.