Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.Die Momente, die hier auftreten, sind in abstracter Aufreihung alle Die Momente, die hier auftreten, ſind in abſtracter Aufreihung alle <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <pb facs="#f0069" n="229"/> <p> <hi rendition="#et">Die Momente, die hier auftreten, ſind in abſtracter Aufreihung alle<lb/> bereits dageweſen, in einem gewiſſen Sinne ſind ſie auch ſchon zuſammen-<lb/> gefaßt worden von §. 563 an; ſie treten aber jetzt in die neue Beziehung<lb/> der Compoſition, ſie ſtellen ſich unter den künſtleriſchen Begriff des Con-<lb/> traſts, der ſeiner Löſung zugeführt werden ſoll. Es iſt in §. 498 eine<lb/> milde Form des Contraſts (bloßer Unterſchied, Mannigfaltigkeit) und eine<lb/> ſtarke (voller Gegenſatz) unterſchieden worden. Alle Kunſt bewegt ſich in<lb/> dieſen Gegenſätzen, ein allgemeines äſthetiſches Geſetz gebietet jeder, ſie zu<lb/> entwickeln. Dabei hat aber jede ihre beſondere Aufgabe und aus dieſer<lb/> fließt für ſie die beſtimmtere Begründung deſſen, was an ſich ſchon das<lb/> äſthetiſche Gefühl überhaupt fordert. Dieß zeigt ſich ſogleich an den drei<lb/> Momenten, die wir als Formen der Belebung des Einförmigen zum<lb/> Mannigfaltigen unter dem Begriffe des milden Contraſts zu befaſſen haben.<lb/> So iſt denn die Form des Würfels an ſich ſchon leblos abſtract, es fehlt<lb/> ihr die Bewegung des Unterſchieds. Es iſt daher einer der wenigen<lb/> allgemeinen Sätze, die ſich über architektoniſche Proportion aufſtellen laſſen,<lb/> daß das Compoſitionsgeſetz die Verlängerung des Würfels zum Oblongum<lb/> fordert. Allein es liegt dabei ein beſtimmterer Zweck zu Grunde, der rein<lb/> im Geiſte dieſer Kunſt begründet iſt: das Oblongum ſoll einen Anlauf,<lb/> eine Bahn nach einem Ziele ausdrücken, wie ja ſein innerer Raum in<lb/> Wirklichkeit den Eintretenden hinanführt zum Götterbilde, zum Hochaltar.<lb/> Durch dieſes Vorherrſchen der Länge würde aber der Bau als träg an<lb/> der Erde hinlagernd erſcheinen, wenn nicht die Linie des Aufſchwungs,<lb/> die ſenkrechte, in einer, wenn nicht die Breite überbietenden, doch an ſich<lb/> bedeutenden Höhe zur Geltung käme; auch dieß iſt eine allgemein äſthe-<lb/> tiſche Forderung des Auges, deren Recht man dem ſtumpf abgeſchnittenen<lb/> ägyptiſchen Tempel gegenüber empfindlich genug fühlt, allein es iſt auch<lb/> poſitiv der Ausdruck religiöſen Aufſtrebens, der dieſes Verhältniß verlangt,<lb/> wobei man keineswegs unmittelbar an den gothiſchen Hochbau zu denken<lb/> hat, denn auch der griechiſche Tempel iſt kein ſo einſeitiger Langbau wie<lb/> der ägyptiſche. Eine weitere weſentliche Art der Einführung des beleben-<lb/> den milderen Contraſts iſt nun die Maſſentheilung und Raumöffnung. Die<lb/> erſtere bricht die Einförmigkeit der Flächen durch Gliederung und Orna-<lb/> ment, reduzirt als tieferer Grund der Sparſamkeit die Mauermaſſen und<lb/> geht ſo in die zweite, die Raumöffnung über, von der ſchon zu §. 563 geſagt<lb/> iſt, wie ſie aus äſthetiſchem Motive das Bedürfniß überſteigt. Das all-<lb/> gemein äſthetiſche Prinzip, welches die Belebung des Eintönigen durch<lb/> Contraſte des Mannigfaltigen gebietet, wirkt alſo in der Baukunſt in die-<lb/> ſer beſondern Weiſe der Maſſenbezwingung, deren beſtimmtere Formen<lb/> die Lehre vom Decorativen und die geſchichtliche Ueberſicht über die Haupt-<lb/> ſtyle zu zeigen hat. — Der ſtarke Contraſt tritt nun natürlich im vollen<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [229/0069]
Die Momente, die hier auftreten, ſind in abſtracter Aufreihung alle
bereits dageweſen, in einem gewiſſen Sinne ſind ſie auch ſchon zuſammen-
gefaßt worden von §. 563 an; ſie treten aber jetzt in die neue Beziehung
der Compoſition, ſie ſtellen ſich unter den künſtleriſchen Begriff des Con-
traſts, der ſeiner Löſung zugeführt werden ſoll. Es iſt in §. 498 eine
milde Form des Contraſts (bloßer Unterſchied, Mannigfaltigkeit) und eine
ſtarke (voller Gegenſatz) unterſchieden worden. Alle Kunſt bewegt ſich in
dieſen Gegenſätzen, ein allgemeines äſthetiſches Geſetz gebietet jeder, ſie zu
entwickeln. Dabei hat aber jede ihre beſondere Aufgabe und aus dieſer
fließt für ſie die beſtimmtere Begründung deſſen, was an ſich ſchon das
äſthetiſche Gefühl überhaupt fordert. Dieß zeigt ſich ſogleich an den drei
Momenten, die wir als Formen der Belebung des Einförmigen zum
Mannigfaltigen unter dem Begriffe des milden Contraſts zu befaſſen haben.
So iſt denn die Form des Würfels an ſich ſchon leblos abſtract, es fehlt
ihr die Bewegung des Unterſchieds. Es iſt daher einer der wenigen
allgemeinen Sätze, die ſich über architektoniſche Proportion aufſtellen laſſen,
daß das Compoſitionsgeſetz die Verlängerung des Würfels zum Oblongum
fordert. Allein es liegt dabei ein beſtimmterer Zweck zu Grunde, der rein
im Geiſte dieſer Kunſt begründet iſt: das Oblongum ſoll einen Anlauf,
eine Bahn nach einem Ziele ausdrücken, wie ja ſein innerer Raum in
Wirklichkeit den Eintretenden hinanführt zum Götterbilde, zum Hochaltar.
Durch dieſes Vorherrſchen der Länge würde aber der Bau als träg an
der Erde hinlagernd erſcheinen, wenn nicht die Linie des Aufſchwungs,
die ſenkrechte, in einer, wenn nicht die Breite überbietenden, doch an ſich
bedeutenden Höhe zur Geltung käme; auch dieß iſt eine allgemein äſthe-
tiſche Forderung des Auges, deren Recht man dem ſtumpf abgeſchnittenen
ägyptiſchen Tempel gegenüber empfindlich genug fühlt, allein es iſt auch
poſitiv der Ausdruck religiöſen Aufſtrebens, der dieſes Verhältniß verlangt,
wobei man keineswegs unmittelbar an den gothiſchen Hochbau zu denken
hat, denn auch der griechiſche Tempel iſt kein ſo einſeitiger Langbau wie
der ägyptiſche. Eine weitere weſentliche Art der Einführung des beleben-
den milderen Contraſts iſt nun die Maſſentheilung und Raumöffnung. Die
erſtere bricht die Einförmigkeit der Flächen durch Gliederung und Orna-
ment, reduzirt als tieferer Grund der Sparſamkeit die Mauermaſſen und
geht ſo in die zweite, die Raumöffnung über, von der ſchon zu §. 563 geſagt
iſt, wie ſie aus äſthetiſchem Motive das Bedürfniß überſteigt. Das all-
gemein äſthetiſche Prinzip, welches die Belebung des Eintönigen durch
Contraſte des Mannigfaltigen gebietet, wirkt alſo in der Baukunſt in die-
ſer beſondern Weiſe der Maſſenbezwingung, deren beſtimmtere Formen
die Lehre vom Decorativen und die geſchichtliche Ueberſicht über die Haupt-
ſtyle zu zeigen hat. — Der ſtarke Contraſt tritt nun natürlich im vollen
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