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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852.

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soll die Zahl acht in den Pfeilern, in den Länge-Maaßen der ganzen
Kirche herrschen; ist er dreiseitig aus dem Sechsecke construirt, die Sechs;
ist er fünfseitig, die Fünf; ist er siebenseitig, die Sieben. Auch auf die
Gestaltung der Fenster und Ornamente soll die Grundzahl Einfluß ge-
habt haben u. s. w. Diese Zahlen werden dann mystisch gedeutet. So
Stieglitz (Gesch. d. Bauk. S. 538 ff.), Hoffstadt (Goth. ABCBuch
S. V ff.), der jedoch sonst sein großes Verdienst in der Erforschung
des geometrischen Elements im gothischen Styl hat. Wir verweisen übri-
gens auch hier auf Schnaases Kritik dieser Ansichten (Gesch. d. bild. Künste
Bd. IV, Abth. 1 S. 287 ff.). Die Annahme einer Grundfigur für das
Ganze des gothischen Gebäudes gehört zunächst nicht hieher, wo nur von
Zahlenverhältnissen die Rede ist, doch fällt die Behauptung des Durch-
gehens der übereinander gelegten Quadrate (Quadratur, Achtort, Achtuhr)
oder Dreiecke (Triangulatur) durch das Ganze in diese Kategorie der
äußerlich mathematischen Fixirung des Schönen; auch diesen Punct dürfen
wir der kunstgeschichtlichen Kritik überweisen (vergl. Schnaase a. a. O.
S. 319 ff.). -- Fassen wir aber, was von der Proportion in §. 567
allgemein gesagt ist, mit dem Satze zu §. 568, 1., wonach ein bestimmtes
Gesetz der Proportion im Unterschiede der Länge von der Breite und
Höhe sich hervorstellte, zusammen und fragen nun, ob das Gesetz des
Rhythmus in den Tactschlägen seiner Athmung nicht weitere Bestimmungen
begründe, so ist die Antwort, daß solche in einem gegebenen Style, doch
ebenfalls mit einem großen Spielraume für die individuelle Erfindung,
sich entwickeln werden. So ist in der gothischen Kirche die Einheit, von
welcher die ungefähre Bestimmung der Verhältnisse des Grundrisses aus-
geht, in dem Quadrate gegeben, das in der Vierung des Kreuzes liegt;
es wiederholt sich einfach in jedem Querschiffe, mehrfach, gewöhnlich drei-
mal im Mittelschiffe des Langhauses, theilt sich in Hälften im Seiten-
schiffe, so daß je zwei halbgroße Quadrate jedem ganzen des Hauptschiffes
zur Seite liegen. In der Pfeiler-Reihe drückt sich dieses Verhältniß da-
durch aus, daß der Abstand zwischen zwei Pfeilern die Breite der Seiten-
schiffe, zwischen drei die des Mittelschiffes, also des Grundquadrats dar-
stellt. Nach der Chorseite wiederholt sich das Quadrat einfach und der
polygone Chor-Abschluß legt sich an dieses Quadrat so, daß sein Radius
die Hälfte der Breite desselben beträgt. So kehrt theils ganz, theils
zur Hälfte getheilt das Grundmaaß wieder und stellt sich ein Rhythmus
zählbarer Maaße im Grundrisse dar (s. Schnaase a. a. O. S. 128. 129).
Doch auch dieß ist nur das Durchschnittsverhältniß, modificirt sich ver-
schieden in der Wirklichkeit und so sind wir von allen Seiten von dem
Berechenbaren zum Unberechenbaren der Schönheit geführt.


ſoll die Zahl acht in den Pfeilern, in den Länge-Maaßen der ganzen
Kirche herrſchen; iſt er dreiſeitig aus dem Sechsecke conſtruirt, die Sechs;
iſt er fünfſeitig, die Fünf; iſt er ſiebenſeitig, die Sieben. Auch auf die
Geſtaltung der Fenſter und Ornamente ſoll die Grundzahl Einfluß ge-
habt haben u. ſ. w. Dieſe Zahlen werden dann myſtiſch gedeutet. So
Stieglitz (Geſch. d. Bauk. S. 538 ff.), Hoffſtadt (Goth. ABCBuch
S. V ff.), der jedoch ſonſt ſein großes Verdienſt in der Erforſchung
des geometriſchen Elements im gothiſchen Styl hat. Wir verweiſen übri-
gens auch hier auf Schnaaſes Kritik dieſer Anſichten (Geſch. d. bild. Künſte
Bd. IV, Abth. 1 S. 287 ff.). Die Annahme einer Grundfigur für das
Ganze des gothiſchen Gebäudes gehört zunächſt nicht hieher, wo nur von
Zahlenverhältniſſen die Rede iſt, doch fällt die Behauptung des Durch-
gehens der übereinander gelegten Quadrate (Quadratur, Achtort, Achtuhr)
oder Dreiecke (Triangulatur) durch das Ganze in dieſe Kategorie der
äußerlich mathematiſchen Fixirung des Schönen; auch dieſen Punct dürfen
wir der kunſtgeſchichtlichen Kritik überweiſen (vergl. Schnaaſe a. a. O.
S. 319 ff.). — Faſſen wir aber, was von der Proportion in §. 567
allgemein geſagt iſt, mit dem Satze zu §. 568, 1., wonach ein beſtimmtes
Geſetz der Proportion im Unterſchiede der Länge von der Breite und
Höhe ſich hervorſtellte, zuſammen und fragen nun, ob das Geſetz des
Rhythmus in den Tactſchlägen ſeiner Athmung nicht weitere Beſtimmungen
begründe, ſo iſt die Antwort, daß ſolche in einem gegebenen Style, doch
ebenfalls mit einem großen Spielraume für die individuelle Erfindung,
ſich entwickeln werden. So iſt in der gothiſchen Kirche die Einheit, von
welcher die ungefähre Beſtimmung der Verhältniſſe des Grundriſſes aus-
geht, in dem Quadrate gegeben, das in der Vierung des Kreuzes liegt;
es wiederholt ſich einfach in jedem Querſchiffe, mehrfach, gewöhnlich drei-
mal im Mittelſchiffe des Langhauſes, theilt ſich in Hälften im Seiten-
ſchiffe, ſo daß je zwei halbgroße Quadrate jedem ganzen des Hauptſchiffes
zur Seite liegen. In der Pfeiler-Reihe drückt ſich dieſes Verhältniß da-
durch aus, daß der Abſtand zwiſchen zwei Pfeilern die Breite der Seiten-
ſchiffe, zwiſchen drei die des Mittelſchiffes, alſo des Grundquadrats dar-
ſtellt. Nach der Chorſeite wiederholt ſich das Quadrat einfach und der
polygone Chor-Abſchluß legt ſich an dieſes Quadrat ſo, daß ſein Radius
die Hälfte der Breite deſſelben beträgt. So kehrt theils ganz, theils
zur Hälfte getheilt das Grundmaaß wieder und ſtellt ſich ein Rhythmus
zählbarer Maaße im Grundriſſe dar (ſ. Schnaaſe a. a. O. S. 128. 129).
Doch auch dieß iſt nur das Durchſchnittsverhältniß, modificirt ſich ver-
ſchieden in der Wirklichkeit und ſo ſind wir von allen Seiten von dem
Berechenbaren zum Unberechenbaren der Schönheit geführt.


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[236/0076] ſoll die Zahl acht in den Pfeilern, in den Länge-Maaßen der ganzen Kirche herrſchen; iſt er dreiſeitig aus dem Sechsecke conſtruirt, die Sechs; iſt er fünfſeitig, die Fünf; iſt er ſiebenſeitig, die Sieben. Auch auf die Geſtaltung der Fenſter und Ornamente ſoll die Grundzahl Einfluß ge- habt haben u. ſ. w. Dieſe Zahlen werden dann myſtiſch gedeutet. So Stieglitz (Geſch. d. Bauk. S. 538 ff.), Hoffſtadt (Goth. ABCBuch S. V ff.), der jedoch ſonſt ſein großes Verdienſt in der Erforſchung des geometriſchen Elements im gothiſchen Styl hat. Wir verweiſen übri- gens auch hier auf Schnaaſes Kritik dieſer Anſichten (Geſch. d. bild. Künſte Bd. IV, Abth. 1 S. 287 ff.). Die Annahme einer Grundfigur für das Ganze des gothiſchen Gebäudes gehört zunächſt nicht hieher, wo nur von Zahlenverhältniſſen die Rede iſt, doch fällt die Behauptung des Durch- gehens der übereinander gelegten Quadrate (Quadratur, Achtort, Achtuhr) oder Dreiecke (Triangulatur) durch das Ganze in dieſe Kategorie der äußerlich mathematiſchen Fixirung des Schönen; auch dieſen Punct dürfen wir der kunſtgeſchichtlichen Kritik überweiſen (vergl. Schnaaſe a. a. O. S. 319 ff.). — Faſſen wir aber, was von der Proportion in §. 567 allgemein geſagt iſt, mit dem Satze zu §. 568, 1., wonach ein beſtimmtes Geſetz der Proportion im Unterſchiede der Länge von der Breite und Höhe ſich hervorſtellte, zuſammen und fragen nun, ob das Geſetz des Rhythmus in den Tactſchlägen ſeiner Athmung nicht weitere Beſtimmungen begründe, ſo iſt die Antwort, daß ſolche in einem gegebenen Style, doch ebenfalls mit einem großen Spielraume für die individuelle Erfindung, ſich entwickeln werden. So iſt in der gothiſchen Kirche die Einheit, von welcher die ungefähre Beſtimmung der Verhältniſſe des Grundriſſes aus- geht, in dem Quadrate gegeben, das in der Vierung des Kreuzes liegt; es wiederholt ſich einfach in jedem Querſchiffe, mehrfach, gewöhnlich drei- mal im Mittelſchiffe des Langhauſes, theilt ſich in Hälften im Seiten- ſchiffe, ſo daß je zwei halbgroße Quadrate jedem ganzen des Hauptſchiffes zur Seite liegen. In der Pfeiler-Reihe drückt ſich dieſes Verhältniß da- durch aus, daß der Abſtand zwiſchen zwei Pfeilern die Breite der Seiten- ſchiffe, zwiſchen drei die des Mittelſchiffes, alſo des Grundquadrats dar- ſtellt. Nach der Chorſeite wiederholt ſich das Quadrat einfach und der polygone Chor-Abſchluß legt ſich an dieſes Quadrat ſo, daß ſein Radius die Hälfte der Breite deſſelben beträgt. So kehrt theils ganz, theils zur Hälfte getheilt das Grundmaaß wieder und ſtellt ſich ein Rhythmus zählbarer Maaße im Grundriſſe dar (ſ. Schnaaſe a. a. O. S. 128. 129). Doch auch dieß iſt nur das Durchſchnittsverhältniß, modificirt ſich ver- ſchieden in der Wirklichkeit und ſo ſind wir von allen Seiten von dem Berechenbaren zum Unberechenbaren der Schönheit geführt.

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,1. Stuttgart, 1852, S. 236. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030201_1852/76>, abgerufen am 21.11.2024.