Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
die Enge des Spielraums, der in einer Kunst dem Häßlichen gelassen
die Enge des Spielraums, der in einer Kunſt dem Häßlichen gelaſſen <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0105" n="431"/> die Enge des Spielraums, der in einer Kunſt dem Häßlichen gelaſſen<lb/> iſt, welche ſo beſchränkte Mittel beſitzt, es äſthetiſch aufzulöſen. Nun<lb/> ſind wir an der Stelle angekommen, wo ſich zeigen muß, was jenes<lb/> Qualitative iſt, wodurch die an ſich ganz zuläſſige Darſtellung des ſchlecht-<lb/> hin Momentanen (§. 613) und der heftigſten Bewegung (§. 622) zum<lb/> unplaſtiſch Häßlichen wird: es iſt ein Aeußerſtes der Leidenſchaft, d. h.<lb/> derjenige Grad, worin die Seele völlig aus ihrem Centrum geriſſen, alſo<lb/> jene Gediegenheit, jenes ſichere Inſichruhen, jener ethiſche Schwerpunct<lb/> eines ſubſtantiellen Charakters (vergl. §. 605) verloren und an die Stelle<lb/> jenes Beiſichbleibens im Einlaſſen in Anderes das Verlorenſein ſeiner<lb/> ſelbſt getreten iſt. Verboten iſt nicht das Augenblickliche an ſich, ſondern<lb/> das, deſſen Anblick nur einen Augenblick erträglich iſt. Da erſt entſteht<lb/> ein Widerſpruch zwiſchen dem abſolut Flüchtigen und der Feßlung im dauern-<lb/> den Material. Im Aeußern muß ſich der abſolute Affect als ein Krampf<lb/> der Verzerrung darſtellen: ſtatt einer „vielſtimmigen Harmonie der Kräfte,<lb/> ſtatt einer nie endenden Kreisbewegung ein einziger ſchreiender Laut,<lb/> etwas Maskenartiges; die Züge werden leblos und ſtarr und in der<lb/> Haltung der ganzen Geſtalt, in jeder Gebärde erſcheint die Bewegung<lb/> nur wie das Zucken, die Ruhe wie die Erſtarrung eines willenloſen<lb/> Krampfes“ (Feuerbach a. a. O. S. 60. 61). Wo nun der Moment<lb/> eines höchſten Ausbruchs ſo beſchaffen iſt, da iſt natürlich die nächſte<lb/> Auskunft, ihn überhaupt zu vermeiden und den Augenblick <hi rendition="#g">vorher</hi> oder<lb/><hi rendition="#g">nachher</hi> zu wählen; <hi rendition="#g">hier</hi> erſt hat dieſe Vorſchrift, die wir zu §. 613<lb/> als eine vorzeitige auftreten ſehen, ihre Geltung. In Griechenland ver-<lb/> fuhr auch der Maler, plaſtiſch keuſch, gerne nach ihr: die Medea des<lb/> Malers Timomachus kämpft noch mit ſich und zieht das Kindermordende<lb/> Schwert unentſchloſſen halb aus der Scheide, ſein Ajax <hi rendition="#g">hat</hi> die ent-<lb/> ehrende That gethan; um ſo gewiſſer der Bildhauer: eine Niobe iſt ſchon<lb/> da angekommen, wo ihr die vom Mythus erzählte Verſteinerung mit<lb/> löſender Geiſter-Hand das Letzte, Aeußerſte der Verzweiflung abnimmt,<lb/> Laokoon hat wohl einen Augenblick vorher krampfhafter gerungen und<lb/> die Rondaniniſche Meduſe iſt todt. Allein in der That iſt es mit dieſer<lb/> Auskunft noch nicht gethan; gerade in dieſen drei Beiſpielen ſehen wir<lb/> einen Moment gewählt, welcher dem Aeußerſten, Verzerrenden eines<lb/> ſchrecklichen Affects noch ſo nahe liegt, daß der Künſtler, wenn dieſe<lb/> Werke dennoch ſchön ſind, offenbar dieß Heiligthum der Grazie durch<lb/> andere Mittel zu retten gewußt hat, als durch das äußerliche der Wahl<lb/> des Moments. Iſt nun dieß zugegeben, ſo kann ja die Löſung der<lb/> Schwierigkeit überhaupt nicht im Stoffe liegen, wir müſſen die wahre<lb/> Auskunft im Kunſtſtyle ſuchen; ſeines Zaubers mächtig mag nun der<lb/> Künſtler jenen äußerlichen Ausweg geradezu ganz aufgeben, und er thut<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [431/0105]
die Enge des Spielraums, der in einer Kunſt dem Häßlichen gelaſſen
iſt, welche ſo beſchränkte Mittel beſitzt, es äſthetiſch aufzulöſen. Nun
ſind wir an der Stelle angekommen, wo ſich zeigen muß, was jenes
Qualitative iſt, wodurch die an ſich ganz zuläſſige Darſtellung des ſchlecht-
hin Momentanen (§. 613) und der heftigſten Bewegung (§. 622) zum
unplaſtiſch Häßlichen wird: es iſt ein Aeußerſtes der Leidenſchaft, d. h.
derjenige Grad, worin die Seele völlig aus ihrem Centrum geriſſen, alſo
jene Gediegenheit, jenes ſichere Inſichruhen, jener ethiſche Schwerpunct
eines ſubſtantiellen Charakters (vergl. §. 605) verloren und an die Stelle
jenes Beiſichbleibens im Einlaſſen in Anderes das Verlorenſein ſeiner
ſelbſt getreten iſt. Verboten iſt nicht das Augenblickliche an ſich, ſondern
das, deſſen Anblick nur einen Augenblick erträglich iſt. Da erſt entſteht
ein Widerſpruch zwiſchen dem abſolut Flüchtigen und der Feßlung im dauern-
den Material. Im Aeußern muß ſich der abſolute Affect als ein Krampf
der Verzerrung darſtellen: ſtatt einer „vielſtimmigen Harmonie der Kräfte,
ſtatt einer nie endenden Kreisbewegung ein einziger ſchreiender Laut,
etwas Maskenartiges; die Züge werden leblos und ſtarr und in der
Haltung der ganzen Geſtalt, in jeder Gebärde erſcheint die Bewegung
nur wie das Zucken, die Ruhe wie die Erſtarrung eines willenloſen
Krampfes“ (Feuerbach a. a. O. S. 60. 61). Wo nun der Moment
eines höchſten Ausbruchs ſo beſchaffen iſt, da iſt natürlich die nächſte
Auskunft, ihn überhaupt zu vermeiden und den Augenblick vorher oder
nachher zu wählen; hier erſt hat dieſe Vorſchrift, die wir zu §. 613
als eine vorzeitige auftreten ſehen, ihre Geltung. In Griechenland ver-
fuhr auch der Maler, plaſtiſch keuſch, gerne nach ihr: die Medea des
Malers Timomachus kämpft noch mit ſich und zieht das Kindermordende
Schwert unentſchloſſen halb aus der Scheide, ſein Ajax hat die ent-
ehrende That gethan; um ſo gewiſſer der Bildhauer: eine Niobe iſt ſchon
da angekommen, wo ihr die vom Mythus erzählte Verſteinerung mit
löſender Geiſter-Hand das Letzte, Aeußerſte der Verzweiflung abnimmt,
Laokoon hat wohl einen Augenblick vorher krampfhafter gerungen und
die Rondaniniſche Meduſe iſt todt. Allein in der That iſt es mit dieſer
Auskunft noch nicht gethan; gerade in dieſen drei Beiſpielen ſehen wir
einen Moment gewählt, welcher dem Aeußerſten, Verzerrenden eines
ſchrecklichen Affects noch ſo nahe liegt, daß der Künſtler, wenn dieſe
Werke dennoch ſchön ſind, offenbar dieß Heiligthum der Grazie durch
andere Mittel zu retten gewußt hat, als durch das äußerliche der Wahl
des Moments. Iſt nun dieß zugegeben, ſo kann ja die Löſung der
Schwierigkeit überhaupt nicht im Stoffe liegen, wir müſſen die wahre
Auskunft im Kunſtſtyle ſuchen; ſeines Zaubers mächtig mag nun der
Künſtler jenen äußerlichen Ausweg geradezu ganz aufgeben, und er thut
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