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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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jeder seiner Formen das ganze Verfahren in Anlage, äußerer Größe,
technischer Form sich verändert, wie dieß eben in der Poesie der Fall ist.
Dennoch sind die Anklänge merklich: episch im engern Sinn, innerhalb
des allgemeinen epischen Charakters der Bildnerkunst, sind alle plastischen
Darstellungen, worin der Mensch als Naturkind in seinen anthropologi-
schen Unterschieden, oder als Kind der Sitte, der Gewohnheit, als wir-
kend in Massen, überhaupt als zuständliches Wesen erscheint. Episch ist
der Affect selbst des Charakters, sofern nur sein Thun mehr naiv, na-
tional ist, in gemeinschaftlichen Formen der Bildung und des Wollens
sich ungetheilt bewegt, als zu der schneidenden Spitze der That in einem
tiefen Prinzipien-Conflict sich zusammenfaßt. Was das Verhältniß zu
der Kunstform betrifft, so verbindet sich das Epische vorzüglich mit dem
Relief. Lyrisch sind solche Werke, worin die Bildnerkunst, so weit sie es
vermag, vertiefte Empfindungs-Momente irgend einer Art oder Einkehr des
Gemüths in sich darstellt: die sinnenden Musen, der träumerische Apollino, die
Abschiednehmenden Ehegatten so vieler Grabsteine, die mehrfach vorhandene
tief elegische Reliefgruppe: Orpheus von Eurydice scheidend in der Un-
terwelt, die Amor- und Psyche-Gruppe auf dem Capitol, die Ildefonso-
Gruppe, Orestes und Elektra in Villa Ludovisi; Beispiele, die wir zum
Theil in anderem Zusammenhang schon angeführt haben. Dieser Zusam-
menhang war die Lehre von der Composition; dem Ausdruck der lyri-
schen Stimmung sagt mehr die Statue, die Gruppe von nur zwei Fi-
guren, das quadratische Relief, als die figurenreiche Gruppe, das lang-
gezogene Relief und das Giebelfeld zu. Dramatisch in verschiedenen Stu-
fen ist die Darstellung eines ernsten, nicht blos kriegerischen, sondern sitt-
lichen, in scharfer Schneide des Moments ausbrechenden Conflicts, so-
wohl der That, als der Leiden, die daraus fließen. Unter den Kunst-
formen entspricht dieser Aufgabe am meisten die freie Sculptur, weniger,
doch immer noch das Giebelfeld, am wenigsten das Relief; auch die ein-
zelne Statue kann einen solchen Moment darstellen, wie der vaticanische
Apollo, am meisten aber findet dieses Gebiet seinen Ausdruck in der rei-
cheren, geschlossenen Gruppe; der Laokoon und die Gruppe des farnesi-
schen Stiers gehören hieher; Giebelfeld: die Niobidengruppe. Es erhellt
jedoch aus dem Wesen der Bildnerkunst, daß sie nur vereinzelt und in
bedingter Weise diesen Boden straff spannender Bewegtheit betreten kann;
das Lyrische ist ebenfalls niedergehalten durch den wesentlich bestimmenden
Ausdruck der Objectivität; das Epische bleibt der herrschende Grundton.

2. Noch sind zwei andere Weisen, worin sich die Grundbestimmende
Art der Phantasie mit andern Arten verbindet, hervorzuheben. Dabei
handelt es sich auch von jenen nähern Unterschieden der Phantasie, welche
innerhalb der bildenden auftreten und die großen Zweige derselben,

jeder ſeiner Formen das ganze Verfahren in Anlage, äußerer Größe,
techniſcher Form ſich verändert, wie dieß eben in der Poeſie der Fall iſt.
Dennoch ſind die Anklänge merklich: epiſch im engern Sinn, innerhalb
des allgemeinen epiſchen Charakters der Bildnerkunſt, ſind alle plaſtiſchen
Darſtellungen, worin der Menſch als Naturkind in ſeinen anthropologi-
ſchen Unterſchieden, oder als Kind der Sitte, der Gewohnheit, als wir-
kend in Maſſen, überhaupt als zuſtändliches Weſen erſcheint. Epiſch iſt
der Affect ſelbſt des Charakters, ſofern nur ſein Thun mehr naiv, na-
tional iſt, in gemeinſchaftlichen Formen der Bildung und des Wollens
ſich ungetheilt bewegt, als zu der ſchneidenden Spitze der That in einem
tiefen Prinzipien-Conflict ſich zuſammenfaßt. Was das Verhältniß zu
der Kunſtform betrifft, ſo verbindet ſich das Epiſche vorzüglich mit dem
Relief. Lyriſch ſind ſolche Werke, worin die Bildnerkunſt, ſo weit ſie es
vermag, vertiefte Empfindungs-Momente irgend einer Art oder Einkehr des
Gemüths in ſich darſtellt: die ſinnenden Muſen, der träumeriſche Apollino, die
Abſchiednehmenden Ehegatten ſo vieler Grabſteine, die mehrfach vorhandene
tief elegiſche Reliefgruppe: Orpheus von Eurydice ſcheidend in der Un-
terwelt, die Amor- und Pſyche-Gruppe auf dem Capitol, die Ildefonſo-
Gruppe, Oreſtes und Elektra in Villa Ludoviſi; Beiſpiele, die wir zum
Theil in anderem Zuſammenhang ſchon angeführt haben. Dieſer Zuſam-
menhang war die Lehre von der Compoſition; dem Ausdruck der lyri-
ſchen Stimmung ſagt mehr die Statue, die Gruppe von nur zwei Fi-
guren, das quadratiſche Relief, als die figurenreiche Gruppe, das lang-
gezogene Relief und das Giebelfeld zu. Dramatiſch in verſchiedenen Stu-
fen iſt die Darſtellung eines ernſten, nicht blos kriegeriſchen, ſondern ſitt-
lichen, in ſcharfer Schneide des Moments ausbrechenden Conflicts, ſo-
wohl der That, als der Leiden, die daraus fließen. Unter den Kunſt-
formen entſpricht dieſer Aufgabe am meiſten die freie Sculptur, weniger,
doch immer noch das Giebelfeld, am wenigſten das Relief; auch die ein-
zelne Statue kann einen ſolchen Moment darſtellen, wie der vaticaniſche
Apollo, am meiſten aber findet dieſes Gebiet ſeinen Ausdruck in der rei-
cheren, geſchloſſenen Gruppe; der Laokoon und die Gruppe des farneſi-
ſchen Stiers gehören hieher; Giebelfeld: die Niobidengruppe. Es erhellt
jedoch aus dem Weſen der Bildnerkunſt, daß ſie nur vereinzelt und in
bedingter Weiſe dieſen Boden ſtraff ſpannender Bewegtheit betreten kann;
das Lyriſche iſt ebenfalls niedergehalten durch den weſentlich beſtimmenden
Ausdruck der Objectivität; das Epiſche bleibt der herrſchende Grundton.

2. Noch ſind zwei andere Weiſen, worin ſich die Grundbeſtimmende
Art der Phantaſie mit andern Arten verbindet, hervorzuheben. Dabei
handelt es ſich auch von jenen nähern Unterſchieden der Phantaſie, welche
innerhalb der bildenden auftreten und die großen Zweige derſelben,

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[466/0140] jeder ſeiner Formen das ganze Verfahren in Anlage, äußerer Größe, techniſcher Form ſich verändert, wie dieß eben in der Poeſie der Fall iſt. Dennoch ſind die Anklänge merklich: epiſch im engern Sinn, innerhalb des allgemeinen epiſchen Charakters der Bildnerkunſt, ſind alle plaſtiſchen Darſtellungen, worin der Menſch als Naturkind in ſeinen anthropologi- ſchen Unterſchieden, oder als Kind der Sitte, der Gewohnheit, als wir- kend in Maſſen, überhaupt als zuſtändliches Weſen erſcheint. Epiſch iſt der Affect ſelbſt des Charakters, ſofern nur ſein Thun mehr naiv, na- tional iſt, in gemeinſchaftlichen Formen der Bildung und des Wollens ſich ungetheilt bewegt, als zu der ſchneidenden Spitze der That in einem tiefen Prinzipien-Conflict ſich zuſammenfaßt. Was das Verhältniß zu der Kunſtform betrifft, ſo verbindet ſich das Epiſche vorzüglich mit dem Relief. Lyriſch ſind ſolche Werke, worin die Bildnerkunſt, ſo weit ſie es vermag, vertiefte Empfindungs-Momente irgend einer Art oder Einkehr des Gemüths in ſich darſtellt: die ſinnenden Muſen, der träumeriſche Apollino, die Abſchiednehmenden Ehegatten ſo vieler Grabſteine, die mehrfach vorhandene tief elegiſche Reliefgruppe: Orpheus von Eurydice ſcheidend in der Un- terwelt, die Amor- und Pſyche-Gruppe auf dem Capitol, die Ildefonſo- Gruppe, Oreſtes und Elektra in Villa Ludoviſi; Beiſpiele, die wir zum Theil in anderem Zuſammenhang ſchon angeführt haben. Dieſer Zuſam- menhang war die Lehre von der Compoſition; dem Ausdruck der lyri- ſchen Stimmung ſagt mehr die Statue, die Gruppe von nur zwei Fi- guren, das quadratiſche Relief, als die figurenreiche Gruppe, das lang- gezogene Relief und das Giebelfeld zu. Dramatiſch in verſchiedenen Stu- fen iſt die Darſtellung eines ernſten, nicht blos kriegeriſchen, ſondern ſitt- lichen, in ſcharfer Schneide des Moments ausbrechenden Conflicts, ſo- wohl der That, als der Leiden, die daraus fließen. Unter den Kunſt- formen entſpricht dieſer Aufgabe am meiſten die freie Sculptur, weniger, doch immer noch das Giebelfeld, am wenigſten das Relief; auch die ein- zelne Statue kann einen ſolchen Moment darſtellen, wie der vaticaniſche Apollo, am meiſten aber findet dieſes Gebiet ſeinen Ausdruck in der rei- cheren, geſchloſſenen Gruppe; der Laokoon und die Gruppe des farneſi- ſchen Stiers gehören hieher; Giebelfeld: die Niobidengruppe. Es erhellt jedoch aus dem Weſen der Bildnerkunſt, daß ſie nur vereinzelt und in bedingter Weiſe dieſen Boden ſtraff ſpannender Bewegtheit betreten kann; das Lyriſche iſt ebenfalls niedergehalten durch den weſentlich beſtimmenden Ausdruck der Objectivität; das Epiſche bleibt der herrſchende Grundton. 2. Noch ſind zwei andere Weiſen, worin ſich die Grundbeſtimmende Art der Phantaſie mit andern Arten verbindet, hervorzuheben. Dabei handelt es ſich auch von jenen nähern Unterſchieden der Phantaſie, welche innerhalb der bildenden auftreten und die großen Zweige derſelben,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 466. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/140>, abgerufen am 22.12.2024.