Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
es, eher erwarten, daß die Kunst, wenn sie nun den ersten Schritt thun 23*
es, eher erwarten, daß die Kunſt, wenn ſie nun den erſten Schritt thun 23*
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es, eher erwarten, daß die Kunſt, wenn ſie nun den erſten Schritt thun
ſoll, ihren eigentlichen Stoff, die Perſönlichkeit, zu ergreifen, vorerſt noch
in einem andern Gebiete zögernd verweile, in jenem nämlich, worin ſich
die Perſönlichkeit „erſt als eine werdende ankündigt“ (§. 240). Wir ha-
ben die landſchaftliche Natur als einen Wiederſchein perſönlicher Seelen-
ſtimmung gefaßt, die Bildnerkunſt überſpringt ſie und nur das Thierleben
nimmt ſie ſich als Vorſtufe des perſönlichen Lebens zum Stoffe. Die
zweite der aufgeſtellten Fragen ſammt dieſem weiteren Bedenken, das ſich
an ſie knüpft, wird ihre Beantwortung im Verlauf der Lehre von der
Bildnerkunſt und Malerei von ſelbſt finden; die erſte aber beantwortet
ſich aus dem Inhalte von §. 553. Die Kunſt bedarf, um in das Ge-
biet der wahren, vollen Einheit des Lebens einzutreten, eines Anſatzes,
eines feſten Puncts, von dem ſie ſich zur freien Schwingung abſtößt;
die Architektur iſt ihr Schwungbrett, um zur Plaſtik überzuſpringen, der
befeſtigte Theil des Schwungbretts iſt die Kernform der Architektur, dem
elaſtiſch ſchwebenden Theile deſſelben entſpricht die Decorations-Form, welche
ſchon den Uebergang in die Plaſtik ankündigt. Im Ornamente, dieſem
Hinüberblühen in die organiſche Form, verräth die Baukunſt das Reich
der reinen Verhältniſſe und Linien als die Grundlage alles organiſchen
Lebens und nachdem der Verrath geſchehen iſt, muß ſie nun der Kunſt,
welche das beſeelte organiſche Leben in Beſitz nimmt, wirklich Platz machen.
Dieſes Platzmachen iſt auch ein buchſtäbliches: die Baukunſt iſt ja nur
Umſchließung eines anderweitig zu erfüllenden innern Raumes, ihr Werk
wartet auf dieſe Erfüllung, ſie iſt der Vorläufer Johannes, der den Gott-
menſchen verkündigt. Es iſt derſelbe Uebergang, wie von der unorga-
niſchen zur höheren organiſchen Natur (das vegetabiliſche Leben als Theil
der landſchaftlichen Schönheit fällt nach der obigen Bemerkung aus). Dem
Urſtoffe der Erde wohnte ſchon der Keim des organiſchen Lebens inne,
die Nachbildung dieſes Lebens iſt die erſte, urſprüngliche Beſtimmung der
Kunſt; aber aus dem Urſtoffe ſchlugen ſich zuerſt die rohen, feſten Maſſen
nieder als Boden und Stätte für das Lebendige, in welchem der Einheits-
punct der Seele die unendlich verfeinerte Maſſe zu ſeinem Leibe bildet,
ebenſo ſchickt ſich die Kunſt den feſten, maſſigen Bau voran, worauf und
worein ſie das ideale Abbild des perſönlich organiſchen Lebens ſtellen wird. Die
Erde wartete auf ihren König, den Menſchen; der Tempel, das ideale
Abbild der Erde, das Bild der Erde, wie ſie wäre, wenn der Geiſt Got-
tes ihre zerſtreuten Maſſen in ein begrenztes, geſchloſſenes Ideal des
Raumes, in ein himmliſches Jeruſalem zuſammengeführt hätte, erwartet
das ideale Abbild des Menſchen, den Gott. Ja noch ehe er eintritt, ſtreckt
ſie im Ornament und ebenſo in der eigentlichen, an ihre Flächen gehef-
teten Plaſtik (das Relief bildet, wie wir ſehen werden, ebenſo ein Ver-
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