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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

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liches und Geistiges. Das derb Feste der Form wird denn jetzt zum
Ausdruck der Charakterfestigkeit, der sittlichen Gediegenheit, das Gemessene
zum Gestrengen der Würde, das Schwere zur innern Gewichtigkeit, die
Schärfe der farblosen Form zu der männlichen Bestimmtheit, die nicht
ins Unbestimmte zerfährt, sich verflüchtigt, das unbewegt Bewegte zur
ehrfurchtgebietenden Selbstbeherrschung; die Schwere aber ist es nament-
lich, die wir noch genauer ins Auge fassen müssen. Wir haben in §. 600
gesehen, wie sie, zunächst dem Materiale angehörig, unwillkürlich auf
die dargestellte Gestalt so übertragen wird, daß diese als ihres physischen
Schwerpuncts vollkommen mächtig erscheinen muß; sie wird nun unwill-
kürlich noch tiefer hineingetragen und bedeutet das sichere, nimmer wan-
kende Ruhen im sittlichen Centrum des Lebens. Jetzt vereinigt die Bild-
nerkunst zwei Einheiten, während sie vorher nur Eine Einheit, die des
Seelen- und Sinnenlebens, darstellte; die zweite Einheit ist die der Ein-
zelperson mit der Gesammtperson, mit dem sittlich Allgemeinen, dem
Guten. Diese zweite Einheit muß aber auch eine naive sein, denn sie
erhält ihre Bedeutung durch die erste. Wo aller Geist Naturbestimmtheit
hat, sich affirmativ zu seiner Sinnlichkeit verhält, muß auch das Ethische
den Charakter der völligen Flüssigkeit, Oeffnung für das umgebende Men-
schenleben, der Gemeinsamkeit tragen. Es handelt sich also von einer
Welt, worin das Gute selbst sich nicht vereinzelt, wo die Subjectivität nicht
jene Ausbildung gewonnen hat, daß sie mit dem zugespitzten Bewußtsein
des Fürsichseins dem Leben der Gesellschaft und des Staates, in welchem
alles Gute durch Vereinigung der Kräfte sich erwirkt, zunächst isolirt ge-
genübersteht und nur nach schwerem Kampf diese Isolirung opfert, dem
Allgemeinen als reines Organ sich hergibt, aber auch in dieser Versöh-
nung noch das unterscheidende Bewußtsein des nun in der Hingebung
selbst befriedigten Ich bewahrt; von einer Welt vielmehr, in welcher, wer
irgend gut, edel, geistig bedeutend, groß ist, im Oeffentlichen und Allge-
meinen, im Geschichtlichen, im Ganzen einfach lebt und athmet, wie in
seiner unentbehrlichen Luft. Das Schwere ist, dieß im Allgemeinen zu
bezeichnen, ohne in eine bestimmte Epoche der geschichtlichen Schönheit
und des Ideals zu gerathen, was hieher noch nicht gehört; wir können
nur sagen: in der Bildnerkunst muß der Charakter dieses Gepräge so ge-
wiß tragen, daß, wären auch solche Menschen in der Geschichte nicht
möglich, sie doch in dieser Kunst wirklich sein müßten. Es sind substan-
tielle
Menschen (vergl. die treffend einfache Darstellung Hegels a. a.
O. II, 366--369). Der substantielle Mensch hat nun, wie es im Tausche
der Liebe geschieht, wo das Herz im Opfer sich verdoppelt wiedergewinnt,
indem er sich dem Ganzen ohne Rückbehalt hingab, dieses Ganze in sich
herübergenommen, sein inneres Charaktergesetz ist das zum innern der

liches und Geiſtiges. Das derb Feſte der Form wird denn jetzt zum
Ausdruck der Charakterfeſtigkeit, der ſittlichen Gediegenheit, das Gemeſſene
zum Geſtrengen der Würde, das Schwere zur innern Gewichtigkeit, die
Schärfe der farbloſen Form zu der männlichen Beſtimmtheit, die nicht
ins Unbeſtimmte zerfährt, ſich verflüchtigt, das unbewegt Bewegte zur
ehrfurchtgebietenden Selbſtbeherrſchung; die Schwere aber iſt es nament-
lich, die wir noch genauer ins Auge faſſen müſſen. Wir haben in §. 600
geſehen, wie ſie, zunächſt dem Materiale angehörig, unwillkürlich auf
die dargeſtellte Geſtalt ſo übertragen wird, daß dieſe als ihres phyſiſchen
Schwerpuncts vollkommen mächtig erſcheinen muß; ſie wird nun unwill-
kürlich noch tiefer hineingetragen und bedeutet das ſichere, nimmer wan-
kende Ruhen im ſittlichen Centrum des Lebens. Jetzt vereinigt die Bild-
nerkunſt zwei Einheiten, während ſie vorher nur Eine Einheit, die des
Seelen- und Sinnenlebens, darſtellte; die zweite Einheit iſt die der Ein-
zelperſon mit der Geſammtperſon, mit dem ſittlich Allgemeinen, dem
Guten. Dieſe zweite Einheit muß aber auch eine naive ſein, denn ſie
erhält ihre Bedeutung durch die erſte. Wo aller Geiſt Naturbeſtimmtheit
hat, ſich affirmativ zu ſeiner Sinnlichkeit verhält, muß auch das Ethiſche
den Charakter der völligen Flüſſigkeit, Oeffnung für das umgebende Men-
ſchenleben, der Gemeinſamkeit tragen. Es handelt ſich alſo von einer
Welt, worin das Gute ſelbſt ſich nicht vereinzelt, wo die Subjectivität nicht
jene Ausbildung gewonnen hat, daß ſie mit dem zugeſpitzten Bewußtſein
des Fürſichſeins dem Leben der Geſellſchaft und des Staates, in welchem
alles Gute durch Vereinigung der Kräfte ſich erwirkt, zunächſt iſolirt ge-
genüberſteht und nur nach ſchwerem Kampf dieſe Iſolirung opfert, dem
Allgemeinen als reines Organ ſich hergibt, aber auch in dieſer Verſöh-
nung noch das unterſcheidende Bewußtſein des nun in der Hingebung
ſelbſt befriedigten Ich bewahrt; von einer Welt vielmehr, in welcher, wer
irgend gut, edel, geiſtig bedeutend, groß iſt, im Oeffentlichen und Allge-
meinen, im Geſchichtlichen, im Ganzen einfach lebt und athmet, wie in
ſeiner unentbehrlichen Luft. Das Schwere iſt, dieß im Allgemeinen zu
bezeichnen, ohne in eine beſtimmte Epoche der geſchichtlichen Schönheit
und des Ideals zu gerathen, was hieher noch nicht gehört; wir können
nur ſagen: in der Bildnerkunſt muß der Charakter dieſes Gepräge ſo ge-
wiß tragen, daß, wären auch ſolche Menſchen in der Geſchichte nicht
möglich, ſie doch in dieſer Kunſt wirklich ſein müßten. Es ſind ſubſtan-
tielle
Menſchen (vergl. die treffend einfache Darſtellung Hegels a. a.
O. II, 366—369). Der ſubſtantielle Menſch hat nun, wie es im Tauſche
der Liebe geſchieht, wo das Herz im Opfer ſich verdoppelt wiedergewinnt,
indem er ſich dem Ganzen ohne Rückbehalt hingab, dieſes Ganze in ſich
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[363/0037] liches und Geiſtiges. Das derb Feſte der Form wird denn jetzt zum Ausdruck der Charakterfeſtigkeit, der ſittlichen Gediegenheit, das Gemeſſene zum Geſtrengen der Würde, das Schwere zur innern Gewichtigkeit, die Schärfe der farbloſen Form zu der männlichen Beſtimmtheit, die nicht ins Unbeſtimmte zerfährt, ſich verflüchtigt, das unbewegt Bewegte zur ehrfurchtgebietenden Selbſtbeherrſchung; die Schwere aber iſt es nament- lich, die wir noch genauer ins Auge faſſen müſſen. Wir haben in §. 600 geſehen, wie ſie, zunächſt dem Materiale angehörig, unwillkürlich auf die dargeſtellte Geſtalt ſo übertragen wird, daß dieſe als ihres phyſiſchen Schwerpuncts vollkommen mächtig erſcheinen muß; ſie wird nun unwill- kürlich noch tiefer hineingetragen und bedeutet das ſichere, nimmer wan- kende Ruhen im ſittlichen Centrum des Lebens. Jetzt vereinigt die Bild- nerkunſt zwei Einheiten, während ſie vorher nur Eine Einheit, die des Seelen- und Sinnenlebens, darſtellte; die zweite Einheit iſt die der Ein- zelperſon mit der Geſammtperſon, mit dem ſittlich Allgemeinen, dem Guten. Dieſe zweite Einheit muß aber auch eine naive ſein, denn ſie erhält ihre Bedeutung durch die erſte. Wo aller Geiſt Naturbeſtimmtheit hat, ſich affirmativ zu ſeiner Sinnlichkeit verhält, muß auch das Ethiſche den Charakter der völligen Flüſſigkeit, Oeffnung für das umgebende Men- ſchenleben, der Gemeinſamkeit tragen. Es handelt ſich alſo von einer Welt, worin das Gute ſelbſt ſich nicht vereinzelt, wo die Subjectivität nicht jene Ausbildung gewonnen hat, daß ſie mit dem zugeſpitzten Bewußtſein des Fürſichſeins dem Leben der Geſellſchaft und des Staates, in welchem alles Gute durch Vereinigung der Kräfte ſich erwirkt, zunächſt iſolirt ge- genüberſteht und nur nach ſchwerem Kampf dieſe Iſolirung opfert, dem Allgemeinen als reines Organ ſich hergibt, aber auch in dieſer Verſöh- nung noch das unterſcheidende Bewußtſein des nun in der Hingebung ſelbſt befriedigten Ich bewahrt; von einer Welt vielmehr, in welcher, wer irgend gut, edel, geiſtig bedeutend, groß iſt, im Oeffentlichen und Allge- meinen, im Geſchichtlichen, im Ganzen einfach lebt und athmet, wie in ſeiner unentbehrlichen Luft. Das Schwere iſt, dieß im Allgemeinen zu bezeichnen, ohne in eine beſtimmte Epoche der geſchichtlichen Schönheit und des Ideals zu gerathen, was hieher noch nicht gehört; wir können nur ſagen: in der Bildnerkunſt muß der Charakter dieſes Gepräge ſo ge- wiß tragen, daß, wären auch ſolche Menſchen in der Geſchichte nicht möglich, ſie doch in dieſer Kunſt wirklich ſein müßten. Es ſind ſubſtan- tielle Menſchen (vergl. die treffend einfache Darſtellung Hegels a. a. O. II, 366—369). Der ſubſtantielle Menſch hat nun, wie es im Tauſche der Liebe geſchieht, wo das Herz im Opfer ſich verdoppelt wiedergewinnt, indem er ſich dem Ganzen ohne Rückbehalt hingab, dieſes Ganze in ſich herübergenommen, ſein inneres Charaktergeſetz iſt das zum innern der

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 363. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/37>, abgerufen am 22.12.2024.