Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

erhabenen Charakter monumentalen Formen in der schöpferisch umgebil-
deten Technik niederlegt." Es ist nun zu zeigen, wie diese nachdrückliche
Geltung des Stylbegriffs von der bloßen Anwendung auf den einzelnen
Meister übergeht auf eine ganze Kunst, so daß sie die vorher indifferente
Bedeutung des Worts (§. 532) mit ihrer ganzen Emphase ausfüllt. Es
ist aber eben die Bildnerkunst, bei welcher dieser Uebergang eintritt wie bei
keiner andern, und dieß ist es, was aus dem Gesetze der directen Ideali-
sirung hier als erster, allgemeiner Satz sich ergibt. In jeder Kunstweise
wird nämlich der geniale Meister jene Eigenschaften entwickeln, Styl hat
Raphael, Michel Angelo, Mozart, Sophokles, Shakespeare, Göthe, wie
Phidias; aber in jeder andern der weiterhin darzustellenden Künste wer-
den dieselben auf Umwegen in Erscheinung treten, in der Bildnerkunst
dagegen, weil hier die einzelne Gestalt schön sein muß, auf Einen
Schlag; dort wird man sie aus Theilen des Kunstwerks, deren keiner für
sich diese ganze Großheit offenbart, zusammenlesen müssen, hier werden sie
in jedem Theile, sofern er irgend auch für sich ein Ganzes im Ganzen
bildet, hervortreten. So auf Einen Punct übersichtlich zusammengedrängt
ist diese Großheit wesentlich auch Einfalt. Winkelmann sagt von ihr
(a. a. O. Bd. 2, S. 53): "durch die Einheit und Einfalt wird alle
Schönheit erhaben, so wie es durch dieselbe Alles wird, was wir wirken
und reden, denn was in sich groß ist, wird, mit Einfalt ausgeführt und
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeschränkt oder verliert von
seiner Größe, wenn es unser Geist wie mit einem Blicke übersehen und
messen und in einem einzigen Begriffe einschließen und fassen kann, son-
dern eben durch diese Begreiflichkeit stellet es uns sich in seiner völligen
Größe vor und unser Geist wird durch die Fassung desselben erweitert
und zugleich mit erhaben. Denn Alles, was wir getheilt betrachten müssen
oder durch die Menge der zusammengesetzten Theile nicht mit einmal über-
sehen können, verliert dadurch von seiner Größe, so wie uns ein langer
Weg kurz wird durch mancherlei Vorwürfe, welche sich uns auf demselben
darbieten oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können.
Diejenige Harmonie, die unsern Geist entzückt, besteht nicht in unendlich
gebrochenen, gekettelten und geschleiften Tönen, sondern in ein-
fachen, lang anhaltenden Zügen
." Dieß ist streng plastisch gedacht
und wir werden es auf das Einzelne des Styls genau anzuwenden haben.
Man vergleiche nun auch den weiteren Theil des §. 532, wo gesagt ist,
daß auf den Begriff des Styls, wie er zunächst accentlos den Styl der
einzelnen Kunst bedeutet, ein besonderer Accent erst falle, wenn die Auf-
fassungs- und Behandlungsweise einer Kunst auf eine andere übergetragen
werde: verfolgt man die Anmerkung, die dieß erläutert, so wird man fin-
den, daß die Beispiele, wodurch der Begriff Stylisiren erklärt wird

27*

erhabenen Charakter monumentalen Formen in der ſchöpferiſch umgebil-
deten Technik niederlegt.“ Es iſt nun zu zeigen, wie dieſe nachdrückliche
Geltung des Stylbegriffs von der bloßen Anwendung auf den einzelnen
Meiſter übergeht auf eine ganze Kunſt, ſo daß ſie die vorher indifferente
Bedeutung des Worts (§. 532) mit ihrer ganzen Emphaſe ausfüllt. Es
iſt aber eben die Bildnerkunſt, bei welcher dieſer Uebergang eintritt wie bei
keiner andern, und dieß iſt es, was aus dem Geſetze der directen Ideali-
ſirung hier als erſter, allgemeiner Satz ſich ergibt. In jeder Kunſtweiſe
wird nämlich der geniale Meiſter jene Eigenſchaften entwickeln, Styl hat
Raphael, Michel Angelo, Mozart, Sophokles, Shakespeare, Göthe, wie
Phidias; aber in jeder andern der weiterhin darzuſtellenden Künſte wer-
den dieſelben auf Umwegen in Erſcheinung treten, in der Bildnerkunſt
dagegen, weil hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, auf Einen
Schlag; dort wird man ſie aus Theilen des Kunſtwerks, deren keiner für
ſich dieſe ganze Großheit offenbart, zuſammenleſen müſſen, hier werden ſie
in jedem Theile, ſofern er irgend auch für ſich ein Ganzes im Ganzen
bildet, hervortreten. So auf Einen Punct überſichtlich zuſammengedrängt
iſt dieſe Großheit weſentlich auch Einfalt. Winkelmann ſagt von ihr
(a. a. O. Bd. 2, S. 53): „durch die Einheit und Einfalt wird alle
Schönheit erhaben, ſo wie es durch dieſelbe Alles wird, was wir wirken
und reden, denn was in ſich groß iſt, wird, mit Einfalt ausgeführt und
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeſchränkt oder verliert von
ſeiner Größe, wenn es unſer Geiſt wie mit einem Blicke überſehen und
meſſen und in einem einzigen Begriffe einſchließen und faſſen kann, ſon-
dern eben durch dieſe Begreiflichkeit ſtellet es uns ſich in ſeiner völligen
Größe vor und unſer Geiſt wird durch die Faſſung deſſelben erweitert
und zugleich mit erhaben. Denn Alles, was wir getheilt betrachten müſſen
oder durch die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal über-
ſehen können, verliert dadurch von ſeiner Größe, ſo wie uns ein langer
Weg kurz wird durch mancherlei Vorwürfe, welche ſich uns auf demſelben
darbieten oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können.
Diejenige Harmonie, die unſern Geiſt entzückt, beſteht nicht in unendlich
gebrochenen, gekettelten und geſchleiften Tönen, ſondern in ein-
fachen, lang anhaltenden Zügen
.“ Dieß iſt ſtreng plaſtiſch gedacht
und wir werden es auf das Einzelne des Styls genau anzuwenden haben.
Man vergleiche nun auch den weiteren Theil des §. 532, wo geſagt iſt,
daß auf den Begriff des Styls, wie er zunächſt accentlos den Styl der
einzelnen Kunſt bedeutet, ein beſonderer Accent erſt falle, wenn die Auf-
faſſungs- und Behandlungsweiſe einer Kunſt auf eine andere übergetragen
werde: verfolgt man die Anmerkung, die dieß erläutert, ſo wird man fin-
den, daß die Beiſpiele, wodurch der Begriff Styliſiren erklärt wird

27*
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0079" n="405"/>
erhabenen Charakter monumentalen Formen in der &#x017F;chöpferi&#x017F;ch umgebil-<lb/>
deten Technik niederlegt.&#x201C; Es i&#x017F;t nun zu zeigen, wie die&#x017F;e nachdrückliche<lb/>
Geltung des Stylbegriffs von der bloßen Anwendung auf den einzelnen<lb/>
Mei&#x017F;ter übergeht auf eine ganze Kun&#x017F;t, &#x017F;o daß &#x017F;ie die vorher indifferente<lb/>
Bedeutung des Worts (§. 532) mit ihrer ganzen Empha&#x017F;e ausfüllt. Es<lb/>
i&#x017F;t aber eben die Bildnerkun&#x017F;t, bei welcher die&#x017F;er Uebergang eintritt wie bei<lb/>
keiner andern, und dieß i&#x017F;t es, was aus dem Ge&#x017F;etze der directen Ideali-<lb/>
&#x017F;irung hier als er&#x017F;ter, allgemeiner Satz &#x017F;ich ergibt. In jeder Kun&#x017F;twei&#x017F;e<lb/>
wird nämlich der geniale Mei&#x017F;ter jene Eigen&#x017F;chaften entwickeln, Styl hat<lb/>
Raphael, Michel Angelo, Mozart, Sophokles, Shakespeare, Göthe, wie<lb/>
Phidias; aber in jeder andern der weiterhin darzu&#x017F;tellenden Kün&#x017F;te wer-<lb/>
den die&#x017F;elben auf Umwegen in Er&#x017F;cheinung treten, in der Bildnerkun&#x017F;t<lb/>
dagegen, weil hier die einzelne Ge&#x017F;talt &#x017F;chön &#x017F;ein muß, auf Einen<lb/>
Schlag; dort wird man &#x017F;ie aus Theilen des Kun&#x017F;twerks, deren keiner für<lb/>
&#x017F;ich die&#x017F;e ganze Großheit offenbart, zu&#x017F;ammenle&#x017F;en mü&#x017F;&#x017F;en, hier werden &#x017F;ie<lb/>
in jedem Theile, &#x017F;ofern er irgend auch für &#x017F;ich ein Ganzes im Ganzen<lb/>
bildet, hervortreten. So auf Einen Punct über&#x017F;ichtlich zu&#x017F;ammengedrängt<lb/>
i&#x017F;t die&#x017F;e Großheit we&#x017F;entlich auch Einfalt. Winkelmann &#x017F;agt von ihr<lb/>
(a. a. O. Bd. 2, S. 53): &#x201E;durch die Einheit und Einfalt wird alle<lb/>
Schönheit erhaben, &#x017F;o wie es durch die&#x017F;elbe Alles wird, was wir wirken<lb/>
und reden, denn was in &#x017F;ich groß i&#x017F;t, wird, mit Einfalt ausgeführt und<lb/>
vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger einge&#x017F;chränkt oder verliert von<lb/>
&#x017F;einer Größe, wenn es un&#x017F;er Gei&#x017F;t wie mit einem Blicke über&#x017F;ehen und<lb/>
me&#x017F;&#x017F;en und in einem einzigen Begriffe ein&#x017F;chließen und fa&#x017F;&#x017F;en kann, &#x017F;on-<lb/>
dern eben durch die&#x017F;e Begreiflichkeit &#x017F;tellet es uns &#x017F;ich in &#x017F;einer völligen<lb/>
Größe vor und un&#x017F;er Gei&#x017F;t wird durch die Fa&#x017F;&#x017F;ung de&#x017F;&#x017F;elben erweitert<lb/>
und zugleich mit erhaben. Denn Alles, was wir getheilt betrachten mü&#x017F;&#x017F;en<lb/>
oder durch die Menge der zu&#x017F;ammenge&#x017F;etzten Theile nicht mit einmal über-<lb/>
&#x017F;ehen können, verliert dadurch von &#x017F;einer Größe, &#x017F;o wie uns ein langer<lb/>
Weg kurz wird durch mancherlei Vorwürfe, welche &#x017F;ich uns auf dem&#x017F;elben<lb/>
darbieten oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können.<lb/>
Diejenige Harmonie, die un&#x017F;ern Gei&#x017F;t entzückt, be&#x017F;teht nicht in unendlich<lb/><hi rendition="#g">gebrochenen, gekettelten</hi> und ge&#x017F;chleiften Tönen, &#x017F;ondern in <hi rendition="#g">ein-<lb/>
fachen, lang anhaltenden Zügen</hi>.&#x201C; Dieß i&#x017F;t &#x017F;treng pla&#x017F;ti&#x017F;ch gedacht<lb/>
und wir werden es auf das Einzelne des Styls genau anzuwenden haben.<lb/>
Man vergleiche nun auch den weiteren Theil des §. 532, wo ge&#x017F;agt i&#x017F;t,<lb/>
daß auf den Begriff des Styls, wie er zunäch&#x017F;t accentlos den Styl der<lb/>
einzelnen Kun&#x017F;t bedeutet, ein be&#x017F;onderer Accent er&#x017F;t falle, wenn die Auf-<lb/>
fa&#x017F;&#x017F;ungs- und Behandlungswei&#x017F;e einer Kun&#x017F;t auf eine andere übergetragen<lb/>
werde: verfolgt man die Anmerkung, die dieß erläutert, &#x017F;o wird man fin-<lb/>
den, daß die Bei&#x017F;piele, wodurch der Begriff <hi rendition="#g">Styli&#x017F;iren</hi> erklärt wird</hi><lb/>
                      <fw place="bottom" type="sig">27*</fw><lb/>
                    </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[405/0079] erhabenen Charakter monumentalen Formen in der ſchöpferiſch umgebil- deten Technik niederlegt.“ Es iſt nun zu zeigen, wie dieſe nachdrückliche Geltung des Stylbegriffs von der bloßen Anwendung auf den einzelnen Meiſter übergeht auf eine ganze Kunſt, ſo daß ſie die vorher indifferente Bedeutung des Worts (§. 532) mit ihrer ganzen Emphaſe ausfüllt. Es iſt aber eben die Bildnerkunſt, bei welcher dieſer Uebergang eintritt wie bei keiner andern, und dieß iſt es, was aus dem Geſetze der directen Ideali- ſirung hier als erſter, allgemeiner Satz ſich ergibt. In jeder Kunſtweiſe wird nämlich der geniale Meiſter jene Eigenſchaften entwickeln, Styl hat Raphael, Michel Angelo, Mozart, Sophokles, Shakespeare, Göthe, wie Phidias; aber in jeder andern der weiterhin darzuſtellenden Künſte wer- den dieſelben auf Umwegen in Erſcheinung treten, in der Bildnerkunſt dagegen, weil hier die einzelne Geſtalt ſchön ſein muß, auf Einen Schlag; dort wird man ſie aus Theilen des Kunſtwerks, deren keiner für ſich dieſe ganze Großheit offenbart, zuſammenleſen müſſen, hier werden ſie in jedem Theile, ſofern er irgend auch für ſich ein Ganzes im Ganzen bildet, hervortreten. So auf Einen Punct überſichtlich zuſammengedrängt iſt dieſe Großheit weſentlich auch Einfalt. Winkelmann ſagt von ihr (a. a. O. Bd. 2, S. 53): „durch die Einheit und Einfalt wird alle Schönheit erhaben, ſo wie es durch dieſelbe Alles wird, was wir wirken und reden, denn was in ſich groß iſt, wird, mit Einfalt ausgeführt und vorgebracht, erhaben. Es wird nicht enger eingeſchränkt oder verliert von ſeiner Größe, wenn es unſer Geiſt wie mit einem Blicke überſehen und meſſen und in einem einzigen Begriffe einſchließen und faſſen kann, ſon- dern eben durch dieſe Begreiflichkeit ſtellet es uns ſich in ſeiner völligen Größe vor und unſer Geiſt wird durch die Faſſung deſſelben erweitert und zugleich mit erhaben. Denn Alles, was wir getheilt betrachten müſſen oder durch die Menge der zuſammengeſetzten Theile nicht mit einmal über- ſehen können, verliert dadurch von ſeiner Größe, ſo wie uns ein langer Weg kurz wird durch mancherlei Vorwürfe, welche ſich uns auf demſelben darbieten oder durch viele Herbergen, in welchen wir anhalten können. Diejenige Harmonie, die unſern Geiſt entzückt, beſteht nicht in unendlich gebrochenen, gekettelten und geſchleiften Tönen, ſondern in ein- fachen, lang anhaltenden Zügen.“ Dieß iſt ſtreng plaſtiſch gedacht und wir werden es auf das Einzelne des Styls genau anzuwenden haben. Man vergleiche nun auch den weiteren Theil des §. 532, wo geſagt iſt, daß auf den Begriff des Styls, wie er zunächſt accentlos den Styl der einzelnen Kunſt bedeutet, ein beſonderer Accent erſt falle, wenn die Auf- faſſungs- und Behandlungsweiſe einer Kunſt auf eine andere übergetragen werde: verfolgt man die Anmerkung, die dieß erläutert, ſo wird man fin- den, daß die Beiſpiele, wodurch der Begriff Styliſiren erklärt wird 27*

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/79
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 405. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/79>, abgerufen am 22.12.2024.