Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
Kunst in Auflösung des Häßlichen begründet. Als häßlich in der pla- 2. Die individuelle Abweichung vom reinen Menschentypus ist etwas
Kunſt in Auflöſung des Häßlichen begründet. Als häßlich in der pla- 2. Die individuelle Abweichung vom reinen Menſchentypus iſt etwas <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0082" n="408"/> Kunſt in Auflöſung des <hi rendition="#g">Häßlichen</hi> begründet. Als häßlich in der pla-<lb/> ſtiſchen Auffaſſung haben wir Alles zu Unbeſtimmte und Zerfloſſene und<lb/> ebenſo Alles bis zur Zerriſſenheit und Kleinlichkeit Getheilte in der Form<lb/> erkannt. Es wird ſich an anderer Stelle zeigen, welche Einſchränkungen<lb/> daraus entſtehen für die Aufnahme des naturſchönen Stoffs, der in<lb/> §. 317 — 323 aufgeführt iſt (namentlich „Zuſtände und Altersſtufen“);<lb/> das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß wir von dieſem Geſichtspuncte zurück-<lb/> blicken auf das Gebiet, das in §. 324 — 330 unter der Bezeichnung:<lb/> „beſondere Formen“ Racen und Völker, Culturformen und Staatsleben<lb/> befaßt. Die Bildnerkunſt bedarf durchaus zu ihrem Stoff eines Menſchen-<lb/> ſchlags, deſſen natürliche Formen dem reinen Menſchentypus an ſich und<lb/> durch die Entwicklung, die ſie durch Culturformen und Staatseinrichtung<lb/> gefunden, ſo nahe, als möglich, ſtehen. Es muß jenem Stylgeſetze der<lb/> ſchwungvoll beſtimmten Umriſſe durch die Natur und die Volksbildung im<lb/> größtmöglichen Umfang vorgearbeitet ſein; die Malerei iſt, wie wir ſehen<lb/> werden, weniger wähleriſch, weniger abhängig von einer beſtimmten Beſchaf-<lb/> fenheit des umgebenden Stoffs. Alle Bildnerkunſt wird aus dieſem Grunde<lb/> den griechiſchen Typus als ein Muſter des höchſten Vorbilds in der Natur<lb/> für ihren Styl betrachten müſſen, denn kein Volk war je im Bau der<lb/> feſten Form ſo ſchön und durch Sitte und Einrichtung in dieſer Art der<lb/> Schönheit ſo glücklich entwickelt. Schon bei den andern Völkern des kau-<lb/> kaſiſchen Stamms beginnen und wachſen die Verlegenheiten des Bildners<lb/> und die Völker der andern Racen können nur in untergeordneter Weiſe,<lb/> etwa zum Zweck von Contraſt-Wirkungen, als Stoff in einem plaſtiſchen<lb/> Kunſtwerk auftreten. Mit den Abweichungen beginnt und wächst auch<lb/> die Ungunſt der Culturformen: der Leib auf Koſten des Geiſtes ange-<lb/> ſtrengt oder gemäſtet, oder der Geiſt auf Koſten des Leibes gebildet, oder<lb/> endlich ein verdorbenes Ganzes von geiſtiger Ueberbildung und ſinnlicher<lb/> Feinſchmeckerei ausgeheckt. Die Bildnerkunſt kann ſich nur an Zuſtände<lb/> halten, worin der geiſtige und ſinnliche, der individuelle und der dem<lb/> Oeffentlichen angehörige Menſch in harmoniſcher Einheit ſich entwickelt;<lb/> alle andern Zuſtände verſchwemmen oder verhärten die Formen oder er-<lb/> zeugen eine unſelige Miſchung dieſer beiden Arten plaſtiſcher Häßlichkeit.</hi> </p><lb/> <p> <hi rendition="#et">2. Die individuelle Abweichung vom reinen Menſchentypus iſt etwas<lb/> Anderes und Weiteres, als die vorhin beſprochenen Modificationen, die<lb/> unter den Begriff des Beſonderen im Unterſchied vom Einzelnen fallen. Das<lb/> ſchönſte und in der edelſten Einfalt entwickelte Volk wird in keinem ſeiner<lb/> Individuen vereinigt darſtellen, was ſich als Durchſchnittsbildung aus der<lb/> Vergleichung der Vielen ergibt; der Einzelne weicht von der Race ſeines<lb/> Volkes ſelbſt, während er ſie darſtellt, ebenſoſehr in unendlicher Eigenheit<lb/> ab; auch im ſchönſten Volke ſieht kein Individuum dem andern gleich<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [408/0082]
Kunſt in Auflöſung des Häßlichen begründet. Als häßlich in der pla-
ſtiſchen Auffaſſung haben wir Alles zu Unbeſtimmte und Zerfloſſene und
ebenſo Alles bis zur Zerriſſenheit und Kleinlichkeit Getheilte in der Form
erkannt. Es wird ſich an anderer Stelle zeigen, welche Einſchränkungen
daraus entſtehen für die Aufnahme des naturſchönen Stoffs, der in
§. 317 — 323 aufgeführt iſt (namentlich „Zuſtände und Altersſtufen“);
das Nächſte und Wichtigſte iſt, daß wir von dieſem Geſichtspuncte zurück-
blicken auf das Gebiet, das in §. 324 — 330 unter der Bezeichnung:
„beſondere Formen“ Racen und Völker, Culturformen und Staatsleben
befaßt. Die Bildnerkunſt bedarf durchaus zu ihrem Stoff eines Menſchen-
ſchlags, deſſen natürliche Formen dem reinen Menſchentypus an ſich und
durch die Entwicklung, die ſie durch Culturformen und Staatseinrichtung
gefunden, ſo nahe, als möglich, ſtehen. Es muß jenem Stylgeſetze der
ſchwungvoll beſtimmten Umriſſe durch die Natur und die Volksbildung im
größtmöglichen Umfang vorgearbeitet ſein; die Malerei iſt, wie wir ſehen
werden, weniger wähleriſch, weniger abhängig von einer beſtimmten Beſchaf-
fenheit des umgebenden Stoffs. Alle Bildnerkunſt wird aus dieſem Grunde
den griechiſchen Typus als ein Muſter des höchſten Vorbilds in der Natur
für ihren Styl betrachten müſſen, denn kein Volk war je im Bau der
feſten Form ſo ſchön und durch Sitte und Einrichtung in dieſer Art der
Schönheit ſo glücklich entwickelt. Schon bei den andern Völkern des kau-
kaſiſchen Stamms beginnen und wachſen die Verlegenheiten des Bildners
und die Völker der andern Racen können nur in untergeordneter Weiſe,
etwa zum Zweck von Contraſt-Wirkungen, als Stoff in einem plaſtiſchen
Kunſtwerk auftreten. Mit den Abweichungen beginnt und wächst auch
die Ungunſt der Culturformen: der Leib auf Koſten des Geiſtes ange-
ſtrengt oder gemäſtet, oder der Geiſt auf Koſten des Leibes gebildet, oder
endlich ein verdorbenes Ganzes von geiſtiger Ueberbildung und ſinnlicher
Feinſchmeckerei ausgeheckt. Die Bildnerkunſt kann ſich nur an Zuſtände
halten, worin der geiſtige und ſinnliche, der individuelle und der dem
Oeffentlichen angehörige Menſch in harmoniſcher Einheit ſich entwickelt;
alle andern Zuſtände verſchwemmen oder verhärten die Formen oder er-
zeugen eine unſelige Miſchung dieſer beiden Arten plaſtiſcher Häßlichkeit.
2. Die individuelle Abweichung vom reinen Menſchentypus iſt etwas
Anderes und Weiteres, als die vorhin beſprochenen Modificationen, die
unter den Begriff des Beſonderen im Unterſchied vom Einzelnen fallen. Das
ſchönſte und in der edelſten Einfalt entwickelte Volk wird in keinem ſeiner
Individuen vereinigt darſtellen, was ſich als Durchſchnittsbildung aus der
Vergleichung der Vielen ergibt; der Einzelne weicht von der Race ſeines
Volkes ſelbſt, während er ſie darſtellt, ebenſoſehr in unendlicher Eigenheit
ab; auch im ſchönſten Volke ſieht kein Individuum dem andern gleich
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