Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.

Bild:
<< vorherige Seite

stellung, doch auch die Darstellung des Menschlichen in der genreartigen
Allgemeinheit ohne ausdrückliche Beziehung weder auf das Göttliche, noch
auf das Geschichtliche. Der Individualist wird sich nun natürlich auf
diesen Kreis der realer bestimmten Naturen werfen, der Idealist auf den
Götterkreis; der Gegensatz wird aber auch historisch auftreten, indem mit
Wegfallen des Götterkreises die realer bestimmten Stoffe zur Hauptauf-
gabe werden. Dieß sei hier nur erst berührt zu Behuf der Deutlichkeit.
Indem nun der Idealist jene Aufgabe ergreift, steht er vor dem plastischen
Stylgesetze in seiner ganzen Feinheit und Schärfe. Er soll ausdrücklich
ein Schönes von weiter Allgemeinheit der Idee darstellen und diese
Idee doch als Individuum. Die Bildnerkunst muß diesen Widerspruch
lösen, wie jede andere Kunst, denn in seiner Lösung beruht ja das Wesen
des Schönen an sich (§. 30 ff.), aber sie muß es in ihrer Weise: sie
darf, zunächst jedenfalls in dem Kreise von Aufgaben, welche der jetzt in
Rede stehenden Richtung entsprechen, dem Ausdrucke der reinen Idee von
den Zügen der Individualität ungleich weniger zuwägen, als andere
Künste. Diese mögen eine sehr ausgeprägte Eigenthümlichkeit der ein-
zelnen Erscheinung, die bis zu einem auffallenden Grade des Unregel-
mäßigen fortgeht, durch einen bewegten Ausdruck von Genialität dahin
lösen, daß dieselbe nur als eine besonders scharfe, durch Einseitigkeit mäch-
tige Zusammenfassung der Gattungskräfte in der Tiefe erscheint. Die
Bildnerkunst hat dazu, wie überhaupt zur Auflösung des Häßlichen (vergl.
§. 603), die Mittel nicht. Sie muß also hereintreten in dieses Gebiet
der unendlichen Eigenheit, aber haarscharf an dem Puncte, wo diese in
härterer Linie vom reinen Menschentypus abspringt, wieder umbiegen und
in eine mildere Modification einlenken, welche zwischen schroffer Vereinze-
lung und bloßer Besonderung (Individuum und Art) sich in unendlich
feiner Schwebe hält. Diese zarte Abwägung hat Niemand so verstanden
wie die Griechen; sie mußte, da sie ihren tieferen Grund in der ganzen
mythischen Anschauungsweise des classischen Ideals hatte, schon dort er-
wähnt werden s. §. 437 Anm. 2. Man verstärke um ein Haar den Hügel
auf Jupiters Stirne, die großen, runden Augen der Here, die hohen
Beine des Apollo und der Artemis, die weiche Fülle in der Bildung des
Dionysos, den kleinen Kopf und den Stiernacken des Herkules: und sie
werden zu herb eigenthümlichen Individuen, sind keine Götter und Halb-
götter mehr. Der Individualist dagegen in dem Kreise seiner Aufgaben
kann hier ungleich weiter gehen; er wägt denjenigen seiner Stoffe, die
dem ausdrücklichen Ideale näher liegen, Heroen, menschlichen Bildungen
von genreartiger Allgemeinheit mehr des Individuellen, wie er es aus
der Beobachtung entnommen, dem geschmacklos reinen Wasser Winkelmanns
(vergl. §. 39 Anm.) mehr vom Salze der Eigenheit des Einzelwesens

ſtellung, doch auch die Darſtellung des Menſchlichen in der genreartigen
Allgemeinheit ohne ausdrückliche Beziehung weder auf das Göttliche, noch
auf das Geſchichtliche. Der Individualiſt wird ſich nun natürlich auf
dieſen Kreis der realer beſtimmten Naturen werfen, der Idealiſt auf den
Götterkreis; der Gegenſatz wird aber auch hiſtoriſch auftreten, indem mit
Wegfallen des Götterkreiſes die realer beſtimmten Stoffe zur Hauptauf-
gabe werden. Dieß ſei hier nur erſt berührt zu Behuf der Deutlichkeit.
Indem nun der Idealiſt jene Aufgabe ergreift, ſteht er vor dem plaſtiſchen
Stylgeſetze in ſeiner ganzen Feinheit und Schärfe. Er ſoll ausdrücklich
ein Schönes von weiter Allgemeinheit der Idee darſtellen und dieſe
Idee doch als Individuum. Die Bildnerkunſt muß dieſen Widerſpruch
löſen, wie jede andere Kunſt, denn in ſeiner Löſung beruht ja das Weſen
des Schönen an ſich (§. 30 ff.), aber ſie muß es in ihrer Weiſe: ſie
darf, zunächſt jedenfalls in dem Kreiſe von Aufgaben, welche der jetzt in
Rede ſtehenden Richtung entſprechen, dem Ausdrucke der reinen Idee von
den Zügen der Individualität ungleich weniger zuwägen, als andere
Künſte. Dieſe mögen eine ſehr ausgeprägte Eigenthümlichkeit der ein-
zelnen Erſcheinung, die bis zu einem auffallenden Grade des Unregel-
mäßigen fortgeht, durch einen bewegten Ausdruck von Genialität dahin
löſen, daß dieſelbe nur als eine beſonders ſcharfe, durch Einſeitigkeit mäch-
tige Zuſammenfaſſung der Gattungskräfte in der Tiefe erſcheint. Die
Bildnerkunſt hat dazu, wie überhaupt zur Auflöſung des Häßlichen (vergl.
§. 603), die Mittel nicht. Sie muß alſo hereintreten in dieſes Gebiet
der unendlichen Eigenheit, aber haarſcharf an dem Puncte, wo dieſe in
härterer Linie vom reinen Menſchentypus abſpringt, wieder umbiegen und
in eine mildere Modification einlenken, welche zwiſchen ſchroffer Vereinze-
lung und bloßer Beſonderung (Individuum und Art) ſich in unendlich
feiner Schwebe hält. Dieſe zarte Abwägung hat Niemand ſo verſtanden
wie die Griechen; ſie mußte, da ſie ihren tieferen Grund in der ganzen
mythiſchen Anſchauungsweiſe des claſſiſchen Ideals hatte, ſchon dort er-
wähnt werden ſ. §. 437 Anm. 2. Man verſtärke um ein Haar den Hügel
auf Jupiters Stirne, die großen, runden Augen der Here, die hohen
Beine des Apollo und der Artemis, die weiche Fülle in der Bildung des
Dionyſos, den kleinen Kopf und den Stiernacken des Herkules: und ſie
werden zu herb eigenthümlichen Individuen, ſind keine Götter und Halb-
götter mehr. Der Individualiſt dagegen in dem Kreiſe ſeiner Aufgaben
kann hier ungleich weiter gehen; er wägt denjenigen ſeiner Stoffe, die
dem ausdrücklichen Ideale näher liegen, Heroen, menſchlichen Bildungen
von genreartiger Allgemeinheit mehr des Individuellen, wie er es aus
der Beobachtung entnommen, dem geſchmacklos reinen Waſſer Winkelmanns
(vergl. §. 39 Anm.) mehr vom Salze der Eigenheit des Einzelweſens

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <div n="3">
            <div n="4">
              <div n="5">
                <div n="6">
                  <div n="7">
                    <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0085" n="411"/>
&#x017F;tellung, doch auch die Dar&#x017F;tellung des Men&#x017F;chlichen in der genreartigen<lb/>
Allgemeinheit ohne ausdrückliche Beziehung weder auf das Göttliche, noch<lb/>
auf das Ge&#x017F;chichtliche. Der Individuali&#x017F;t wird &#x017F;ich nun natürlich auf<lb/>
die&#x017F;en Kreis der realer be&#x017F;timmten Naturen werfen, der Ideali&#x017F;t auf den<lb/>
Götterkreis; der Gegen&#x017F;atz wird aber auch hi&#x017F;tori&#x017F;ch auftreten, indem mit<lb/>
Wegfallen des Götterkrei&#x017F;es die realer be&#x017F;timmten Stoffe zur Hauptauf-<lb/>
gabe werden. Dieß &#x017F;ei hier nur er&#x017F;t berührt zu Behuf der Deutlichkeit.<lb/>
Indem nun der Ideali&#x017F;t jene Aufgabe ergreift, &#x017F;teht er vor dem pla&#x017F;ti&#x017F;chen<lb/>
Stylge&#x017F;etze in &#x017F;einer ganzen Feinheit und Schärfe. Er &#x017F;oll ausdrücklich<lb/>
ein Schönes von weiter Allgemeinheit der Idee dar&#x017F;tellen und die&#x017F;e<lb/>
Idee doch als Individuum. Die Bildnerkun&#x017F;t muß die&#x017F;en Wider&#x017F;pruch<lb/>&#x017F;en, wie jede andere Kun&#x017F;t, denn in &#x017F;einer Lö&#x017F;ung beruht ja das We&#x017F;en<lb/>
des Schönen an &#x017F;ich (§. 30 ff.), aber &#x017F;ie muß es in ihrer Wei&#x017F;e: &#x017F;ie<lb/>
darf, zunäch&#x017F;t jedenfalls in dem Krei&#x017F;e von Aufgaben, welche der jetzt in<lb/>
Rede &#x017F;tehenden Richtung ent&#x017F;prechen, dem Ausdrucke der reinen Idee von<lb/>
den Zügen der Individualität ungleich weniger zuwägen, als andere<lb/>
Kün&#x017F;te. Die&#x017F;e mögen eine &#x017F;ehr ausgeprägte Eigenthümlichkeit der ein-<lb/>
zelnen Er&#x017F;cheinung, die bis zu einem auffallenden Grade des Unregel-<lb/>
mäßigen fortgeht, durch einen bewegten Ausdruck von Genialität dahin<lb/>&#x017F;en, daß die&#x017F;elbe nur als eine be&#x017F;onders &#x017F;charfe, durch Ein&#x017F;eitigkeit mäch-<lb/>
tige Zu&#x017F;ammenfa&#x017F;&#x017F;ung der Gattungskräfte in der Tiefe er&#x017F;cheint. Die<lb/>
Bildnerkun&#x017F;t hat dazu, wie überhaupt zur Auflö&#x017F;ung des Häßlichen (vergl.<lb/>
§. 603), die Mittel nicht. Sie muß al&#x017F;o hereintreten in die&#x017F;es Gebiet<lb/>
der unendlichen Eigenheit, aber haar&#x017F;charf an dem Puncte, wo die&#x017F;e in<lb/>
härterer Linie vom reinen Men&#x017F;chentypus ab&#x017F;pringt, wieder umbiegen und<lb/>
in eine mildere Modification einlenken, welche zwi&#x017F;chen &#x017F;chroffer Vereinze-<lb/>
lung und bloßer Be&#x017F;onderung (Individuum und Art) &#x017F;ich in unendlich<lb/>
feiner Schwebe hält. Die&#x017F;e zarte Abwägung hat Niemand &#x017F;o ver&#x017F;tanden<lb/>
wie die Griechen; &#x017F;ie mußte, da &#x017F;ie ihren tieferen Grund in der ganzen<lb/>
mythi&#x017F;chen An&#x017F;chauungswei&#x017F;e des cla&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen Ideals hatte, &#x017F;chon dort er-<lb/>
wähnt werden &#x017F;. §. 437 Anm. <hi rendition="#sub">2.</hi> Man ver&#x017F;tärke um ein Haar den Hügel<lb/>
auf Jupiters Stirne, die großen, runden Augen der Here, die hohen<lb/>
Beine des Apollo und der Artemis, die weiche Fülle in der Bildung des<lb/>
Diony&#x017F;os, den kleinen Kopf und den Stiernacken des Herkules: und &#x017F;ie<lb/>
werden zu herb eigenthümlichen Individuen, &#x017F;ind keine Götter und Halb-<lb/>
götter mehr. Der Individuali&#x017F;t dagegen in dem Krei&#x017F;e &#x017F;einer Aufgaben<lb/>
kann hier ungleich weiter gehen; er wägt denjenigen &#x017F;einer Stoffe, die<lb/>
dem ausdrücklichen Ideale näher liegen, Heroen, men&#x017F;chlichen Bildungen<lb/>
von genreartiger Allgemeinheit mehr des Individuellen, wie er es aus<lb/>
der Beobachtung entnommen, dem ge&#x017F;chmacklos reinen Wa&#x017F;&#x017F;er Winkelmanns<lb/>
(vergl. §. 39 Anm.) mehr vom Salze der Eigenheit des Einzelwe&#x017F;ens<lb/></hi> </p>
                  </div>
                </div>
              </div>
            </div>
          </div>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[411/0085] ſtellung, doch auch die Darſtellung des Menſchlichen in der genreartigen Allgemeinheit ohne ausdrückliche Beziehung weder auf das Göttliche, noch auf das Geſchichtliche. Der Individualiſt wird ſich nun natürlich auf dieſen Kreis der realer beſtimmten Naturen werfen, der Idealiſt auf den Götterkreis; der Gegenſatz wird aber auch hiſtoriſch auftreten, indem mit Wegfallen des Götterkreiſes die realer beſtimmten Stoffe zur Hauptauf- gabe werden. Dieß ſei hier nur erſt berührt zu Behuf der Deutlichkeit. Indem nun der Idealiſt jene Aufgabe ergreift, ſteht er vor dem plaſtiſchen Stylgeſetze in ſeiner ganzen Feinheit und Schärfe. Er ſoll ausdrücklich ein Schönes von weiter Allgemeinheit der Idee darſtellen und dieſe Idee doch als Individuum. Die Bildnerkunſt muß dieſen Widerſpruch löſen, wie jede andere Kunſt, denn in ſeiner Löſung beruht ja das Weſen des Schönen an ſich (§. 30 ff.), aber ſie muß es in ihrer Weiſe: ſie darf, zunächſt jedenfalls in dem Kreiſe von Aufgaben, welche der jetzt in Rede ſtehenden Richtung entſprechen, dem Ausdrucke der reinen Idee von den Zügen der Individualität ungleich weniger zuwägen, als andere Künſte. Dieſe mögen eine ſehr ausgeprägte Eigenthümlichkeit der ein- zelnen Erſcheinung, die bis zu einem auffallenden Grade des Unregel- mäßigen fortgeht, durch einen bewegten Ausdruck von Genialität dahin löſen, daß dieſelbe nur als eine beſonders ſcharfe, durch Einſeitigkeit mäch- tige Zuſammenfaſſung der Gattungskräfte in der Tiefe erſcheint. Die Bildnerkunſt hat dazu, wie überhaupt zur Auflöſung des Häßlichen (vergl. §. 603), die Mittel nicht. Sie muß alſo hereintreten in dieſes Gebiet der unendlichen Eigenheit, aber haarſcharf an dem Puncte, wo dieſe in härterer Linie vom reinen Menſchentypus abſpringt, wieder umbiegen und in eine mildere Modification einlenken, welche zwiſchen ſchroffer Vereinze- lung und bloßer Beſonderung (Individuum und Art) ſich in unendlich feiner Schwebe hält. Dieſe zarte Abwägung hat Niemand ſo verſtanden wie die Griechen; ſie mußte, da ſie ihren tieferen Grund in der ganzen mythiſchen Anſchauungsweiſe des claſſiſchen Ideals hatte, ſchon dort er- wähnt werden ſ. §. 437 Anm. 2. Man verſtärke um ein Haar den Hügel auf Jupiters Stirne, die großen, runden Augen der Here, die hohen Beine des Apollo und der Artemis, die weiche Fülle in der Bildung des Dionyſos, den kleinen Kopf und den Stiernacken des Herkules: und ſie werden zu herb eigenthümlichen Individuen, ſind keine Götter und Halb- götter mehr. Der Individualiſt dagegen in dem Kreiſe ſeiner Aufgaben kann hier ungleich weiter gehen; er wägt denjenigen ſeiner Stoffe, die dem ausdrücklichen Ideale näher liegen, Heroen, menſchlichen Bildungen von genreartiger Allgemeinheit mehr des Individuellen, wie er es aus der Beobachtung entnommen, dem geſchmacklos reinen Waſſer Winkelmanns (vergl. §. 39 Anm.) mehr vom Salze der Eigenheit des Einzelweſens

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/85
Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853, S. 411. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030202_1853/85>, abgerufen am 22.12.2024.