Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,2. Stuttgart, 1853.
individuell Eigenthümliche; er wird sich z. B. sehr bestreben, die bezeich-
individuell Eigenthümliche; er wird ſich z. B. ſehr beſtreben, die bezeich- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <div n="5"> <div n="6"> <div n="7"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0087" n="413"/> individuell Eigenthümliche; er wird ſich z. B. ſehr beſtreben, die bezeich-<lb/> nenden Züge der Lebensalter, Geſchlechter, des Standes wiederzugeben,<lb/> aber er kann damit ſeine Aufgabe für abgethan halten und vergeſſen, daß<lb/> dieſe Beſonderheiten der <hi rendition="#g">Art</hi> noch kein <hi rendition="#g">Individuum</hi> begründen. Eine<lb/> naturaliſtiſch behandelte Geſtalt kann in ihren Grundformen von flacher<lb/> Allgemeinheit des Typus ſein. Die fetten Niederländerinnen des Rubens<lb/> ſind naturaliſtiſch, aber nicht ſcharf individuell, indem ſie einander ſehr<lb/> gleich ſehen. Schillers Räuber ſind kühn naturaliſtiſch, aber ohne Schärfe<lb/> der Individualiſirung. Die äginetiſchen Figuren ſind, was den Leib be-<lb/> trifft, in gewiſſem relativem Sinne naturaliſtiſch, aber die Köpfe ohne<lb/> alle Individualität. Zweitens: <hi rendition="#g">wenn</hi> auch der Naturaliſt auf das ſcharf<lb/> Individuelle zugleich geht, ſo ſtyliſirt er es nicht ſtreng, wie dieß der In-<lb/> dividualiſt ſeiner Richtung gemäß immer noch ſehr wohl kann. Rauch<lb/> hat Friedrich den Gr. und ſeine Helden, Staatsmänner, Gelehrten, nament-<lb/> lich jenen Kant, ſcharf individualiſirt und doch energiſch ſtyliſirt, F. G.<lb/> Schadow dagegen alle ſeine Geſtalten, auch die ſcharf individuellen, na-<lb/> turaliſirt. Der Individualiſt <hi rendition="#g">kann</hi> Naturaliſt ſein, der Naturaliſt <hi rendition="#g">kann<lb/> Individualiſt</hi> ſein, aber jener kann ebenſo gut auch Styliſt ſein, dieſer<lb/> iſt nicht Styliſt, ſondern das Styliſiren iſt die der ſeinigen entgegenſtehende<lb/> Richtung. Allein in der Bildnerkunſt kann auch der Gegenſatz des Natura-<lb/> liſmus und des ſtrengen Styls nur ein ſchwacher ſein, wie der des In-<lb/> dividualiſmus und Idealiſmus. Soweit wie der Maler, kann der Bildner<lb/> nie in der Aufnahme der Härten und Zufälligkeiten gehen; wie dieſer<lb/> muß er, je kühner er in ſeiner Ungebundenheit ſich ergeht, deſto mehr den<lb/> fehlenden Adel der ſtrengen Linie durch Gewaltheit der <hi rendition="#g">Bewegtheit</hi>,<lb/> Hauch der Lebendigkeit erſetzen, aber er kann auch dieß nie in dem Grade<lb/> wie jener, weil ihm die Farbe und die mitdargeſtellte Umgebung fehlt. Wir<lb/> werden in der weiteren Verfolgung der einzelnen Momente die Strenge<lb/> des plaſtiſchen Styls und ebendamit die Enge des hier dem Naturaliſmus<lb/> gegönnten Spielraums genauer kennen lernen. Auch dieſen Gegenſatz<lb/> werden wir als thätigen Hebel in der Geſchichte der Plaſtik wiederfinden,<lb/> aber die Kraft, die er auf die geſchichtliche Entwicklung äußern kann,<lb/> wird aus dieſen Gründen eine ſtark beſchränkte ſein. Wir führen hier nur<lb/> vorläufig die Einzelheit an, daß es freilich noch in der guten Zeit der<lb/> griechiſchen Kunſt einen Demetrius gab, der u. A. einen kahlköpfigen,<lb/> dickbauchigen Alten mit angelaufenen Adern bildete; das galt aber auch<lb/> für eine Curioſität; Lucian ſagt von dieſer Figur, ſie gleiche einem eigentlichen<lb/> Menſchen: ſehr treffend, denn die wahre Bildnerkunſt erhebt auch den empi-<lb/> riſchen Menſchen, wenn ſie ihn nachbildet, durch ihre Styliſirung in das<lb/> Göttliche; Quintilian hat für den Naturaliſten das Wort: <hi rendition="#aq">nimius in veri-<lb/> tate.</hi> — In ähnlicher Enge des Spielraums bewegt ſich der Gegenſatz<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [413/0087]
individuell Eigenthümliche; er wird ſich z. B. ſehr beſtreben, die bezeich-
nenden Züge der Lebensalter, Geſchlechter, des Standes wiederzugeben,
aber er kann damit ſeine Aufgabe für abgethan halten und vergeſſen, daß
dieſe Beſonderheiten der Art noch kein Individuum begründen. Eine
naturaliſtiſch behandelte Geſtalt kann in ihren Grundformen von flacher
Allgemeinheit des Typus ſein. Die fetten Niederländerinnen des Rubens
ſind naturaliſtiſch, aber nicht ſcharf individuell, indem ſie einander ſehr
gleich ſehen. Schillers Räuber ſind kühn naturaliſtiſch, aber ohne Schärfe
der Individualiſirung. Die äginetiſchen Figuren ſind, was den Leib be-
trifft, in gewiſſem relativem Sinne naturaliſtiſch, aber die Köpfe ohne
alle Individualität. Zweitens: wenn auch der Naturaliſt auf das ſcharf
Individuelle zugleich geht, ſo ſtyliſirt er es nicht ſtreng, wie dieß der In-
dividualiſt ſeiner Richtung gemäß immer noch ſehr wohl kann. Rauch
hat Friedrich den Gr. und ſeine Helden, Staatsmänner, Gelehrten, nament-
lich jenen Kant, ſcharf individualiſirt und doch energiſch ſtyliſirt, F. G.
Schadow dagegen alle ſeine Geſtalten, auch die ſcharf individuellen, na-
turaliſirt. Der Individualiſt kann Naturaliſt ſein, der Naturaliſt kann
Individualiſt ſein, aber jener kann ebenſo gut auch Styliſt ſein, dieſer
iſt nicht Styliſt, ſondern das Styliſiren iſt die der ſeinigen entgegenſtehende
Richtung. Allein in der Bildnerkunſt kann auch der Gegenſatz des Natura-
liſmus und des ſtrengen Styls nur ein ſchwacher ſein, wie der des In-
dividualiſmus und Idealiſmus. Soweit wie der Maler, kann der Bildner
nie in der Aufnahme der Härten und Zufälligkeiten gehen; wie dieſer
muß er, je kühner er in ſeiner Ungebundenheit ſich ergeht, deſto mehr den
fehlenden Adel der ſtrengen Linie durch Gewaltheit der Bewegtheit,
Hauch der Lebendigkeit erſetzen, aber er kann auch dieß nie in dem Grade
wie jener, weil ihm die Farbe und die mitdargeſtellte Umgebung fehlt. Wir
werden in der weiteren Verfolgung der einzelnen Momente die Strenge
des plaſtiſchen Styls und ebendamit die Enge des hier dem Naturaliſmus
gegönnten Spielraums genauer kennen lernen. Auch dieſen Gegenſatz
werden wir als thätigen Hebel in der Geſchichte der Plaſtik wiederfinden,
aber die Kraft, die er auf die geſchichtliche Entwicklung äußern kann,
wird aus dieſen Gründen eine ſtark beſchränkte ſein. Wir führen hier nur
vorläufig die Einzelheit an, daß es freilich noch in der guten Zeit der
griechiſchen Kunſt einen Demetrius gab, der u. A. einen kahlköpfigen,
dickbauchigen Alten mit angelaufenen Adern bildete; das galt aber auch
für eine Curioſität; Lucian ſagt von dieſer Figur, ſie gleiche einem eigentlichen
Menſchen: ſehr treffend, denn die wahre Bildnerkunſt erhebt auch den empi-
riſchen Menſchen, wenn ſie ihn nachbildet, durch ihre Styliſirung in das
Göttliche; Quintilian hat für den Naturaliſten das Wort: nimius in veri-
tate. — In ähnlicher Enge des Spielraums bewegt ſich der Gegenſatz
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