Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.Plastik verwandtes, mit dieser auf das architektonisch Symmetrische zurück- Plaſtik verwandtes, mit dieſer auf das architektoniſch Symmetriſche zurück- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <pb facs="#f0126" n="618"/> <hi rendition="#et">Plaſtik verwandtes, mit dieſer auf das architektoniſch Symmetriſche zurück-<lb/> führendes Geſetz ſich ganz natürlich ergab. Es war namentlich die Vor-<lb/> ſtellung, als ſei der Lufthimmel die Wohnung eines Reiches transcenden-<lb/> ter Geſtalten, welche das Motiv hiezu darbot: aus den geöffneten Wol-<lb/> ken erſcheint Maria, Chriſtus, Gott Vater, unten auf der Erde gruppiren<lb/> ſich in einer natürlichen. Gegenüberſtellung andächtige Menſchen: eine<lb/> Symmetrie, die auf dem einfachſten Wege zur Pyramidalform führt, in-<lb/> dem die trennende Mitte des Gegenüberſtehenden als göttliche Erſcheinung<lb/> über dieſem in der Höhe ſchwebt. Auch das Thronen mythiſcher Geſtal-<lb/> ten gehört hieher, das ebenſo einfach durch die ſeitliche tiefere Stellung<lb/> anbetender Menſchen oder Heiligen eine pyramidale Anordnung motivirt.<lb/> Die mythiſche Vorſtellungsweiſe fällt mit der unreifen Kunſt zuſammen,<lb/> welche die eröffnete Richtung der Tiefe und die Art der Idealität, die<lb/> hiedurch vermittelt wird, noch nicht zu benützen weiß; keine Entwicklung<lb/> nach dieſer Seite durchkreuzt daher den Zug der Compoſition in die Höhe<lb/> von der Erde in die Luft. Durch ſtärkere Bevölkerung der letzteren kann<lb/> das pyramidale Schema mehrfach in weitere, mannigfache Figuren bil-<lb/> dende Gegenüberſtellungen auseinandergehen, ohne dadurch als herrſchende<lb/> Grundform zu verſchwinden. Uebrigens gibt die reife Kunſt die mythiſche<lb/> Anſchauung noch nicht auf. In Raphaels Diſputa erhalten wir dadurch<lb/> das Beiſpiel einer beſonders merkwürdigen architektoniſchen Compoſition:<lb/> auf der Erde zu den zwei Seiten des Altars ein ſymmetriſches Gegen-<lb/> über von Kirchenlehrern nebſt Laien, im Ganzen einen nach oben gebo-<lb/> genen Kreisausſchnitt darſtellend, da ſich die Enden etwas abwärts ziehen;<lb/> in der Luft der feierliche Kreis ſitzender Erzväter, Apoſtel, Heiliger, an<lb/> den Enden etwas aufwärts gezogen, das ſymmetriſche Gegenbild des<lb/> untern. Auch dieſer Kreisausſchnitt beſteht übrigens aus zwei ſymmetri-<lb/> ſchen Hälften, denn in der Mitte iſt er durch einige Wolken getrennt,<lb/> in welchen, ſelbſt wieder ſymmetriſch, vier Engelknaben ſchweben. Dar-<lb/> über erſcheint nun Chriſtus mit Maria und Johannes zur Seite, über<lb/> dieſen Gott Vater auf dem Glorienbogen: der pyramidale Abſchluß, deſſen<lb/> Baſis die zwei untern Geſtaltenkreiſe bilden. Dieſer Abſchluß bildet eben-<lb/> falls wieder eine ſymmetriſche Gruppe und überdieß ſchweben zur Seite<lb/> Gottes des Vaters, in Umriß und Farbe leicht gehalten, daher die Pyra-<lb/> midalform des Gipfels nicht aufhebend, wieder je drei Engel. Die zwei<lb/> großen Figurengruppen, Erde und Himmel, ſind ſymboliſch vermittelt<lb/> durch die Strahlen, welche von der Geſtalt des heil. Geiſtes, der Taube,<lb/> die unter der Figur Chriſti ſchwebt, auf die Hoſtie niederſchießen, die auf<lb/> dem Altare ſich befindet. Man ſieht nicht leicht eine mehr geometriſche<lb/> Anordnung, aber auch nicht leicht innerhalb derſelben einen ſolchen Triumph<lb/> über das ſtarre architektoniſche Geſetz durch wunderbare Großheit in den<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [618/0126]
Plaſtik verwandtes, mit dieſer auf das architektoniſch Symmetriſche zurück-
führendes Geſetz ſich ganz natürlich ergab. Es war namentlich die Vor-
ſtellung, als ſei der Lufthimmel die Wohnung eines Reiches transcenden-
ter Geſtalten, welche das Motiv hiezu darbot: aus den geöffneten Wol-
ken erſcheint Maria, Chriſtus, Gott Vater, unten auf der Erde gruppiren
ſich in einer natürlichen. Gegenüberſtellung andächtige Menſchen: eine
Symmetrie, die auf dem einfachſten Wege zur Pyramidalform führt, in-
dem die trennende Mitte des Gegenüberſtehenden als göttliche Erſcheinung
über dieſem in der Höhe ſchwebt. Auch das Thronen mythiſcher Geſtal-
ten gehört hieher, das ebenſo einfach durch die ſeitliche tiefere Stellung
anbetender Menſchen oder Heiligen eine pyramidale Anordnung motivirt.
Die mythiſche Vorſtellungsweiſe fällt mit der unreifen Kunſt zuſammen,
welche die eröffnete Richtung der Tiefe und die Art der Idealität, die
hiedurch vermittelt wird, noch nicht zu benützen weiß; keine Entwicklung
nach dieſer Seite durchkreuzt daher den Zug der Compoſition in die Höhe
von der Erde in die Luft. Durch ſtärkere Bevölkerung der letzteren kann
das pyramidale Schema mehrfach in weitere, mannigfache Figuren bil-
dende Gegenüberſtellungen auseinandergehen, ohne dadurch als herrſchende
Grundform zu verſchwinden. Uebrigens gibt die reife Kunſt die mythiſche
Anſchauung noch nicht auf. In Raphaels Diſputa erhalten wir dadurch
das Beiſpiel einer beſonders merkwürdigen architektoniſchen Compoſition:
auf der Erde zu den zwei Seiten des Altars ein ſymmetriſches Gegen-
über von Kirchenlehrern nebſt Laien, im Ganzen einen nach oben gebo-
genen Kreisausſchnitt darſtellend, da ſich die Enden etwas abwärts ziehen;
in der Luft der feierliche Kreis ſitzender Erzväter, Apoſtel, Heiliger, an
den Enden etwas aufwärts gezogen, das ſymmetriſche Gegenbild des
untern. Auch dieſer Kreisausſchnitt beſteht übrigens aus zwei ſymmetri-
ſchen Hälften, denn in der Mitte iſt er durch einige Wolken getrennt,
in welchen, ſelbſt wieder ſymmetriſch, vier Engelknaben ſchweben. Dar-
über erſcheint nun Chriſtus mit Maria und Johannes zur Seite, über
dieſen Gott Vater auf dem Glorienbogen: der pyramidale Abſchluß, deſſen
Baſis die zwei untern Geſtaltenkreiſe bilden. Dieſer Abſchluß bildet eben-
falls wieder eine ſymmetriſche Gruppe und überdieß ſchweben zur Seite
Gottes des Vaters, in Umriß und Farbe leicht gehalten, daher die Pyra-
midalform des Gipfels nicht aufhebend, wieder je drei Engel. Die zwei
großen Figurengruppen, Erde und Himmel, ſind ſymboliſch vermittelt
durch die Strahlen, welche von der Geſtalt des heil. Geiſtes, der Taube,
die unter der Figur Chriſti ſchwebt, auf die Hoſtie niederſchießen, die auf
dem Altare ſich befindet. Man ſieht nicht leicht eine mehr geometriſche
Anordnung, aber auch nicht leicht innerhalb derſelben einen ſolchen Triumph
über das ſtarre architektoniſche Geſetz durch wunderbare Großheit in den
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