Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
doch ihr spezifisches Wesen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu
doch ihr ſpezifiſches Weſen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0146" n="638"/> doch ihr ſpezifiſches Weſen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu<lb/> jenem Bewußtſein zu gelangen, ſo müſſen wir dieſe Form aus einem<lb/> ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung ſtellen, als dort<lb/> in der Lehre von der Bildnerkunſt: nämlich nicht, um ihr die erſte Stelle<lb/> einzuräumen, ſondern um ſie abzuſondern, damit ſie uns dieſe Eintheilung<lb/> nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben<lb/> eine relative Berechtigung des Fortbeſtands einzuräumen und müſſen gleich<lb/> zu Anfang darüber in’s Klare kommen, weil uns ſonſt für ein gewiſſes<lb/> Gebiet, das der Schlußſatz des §. andeutet, die Prämiſſe fehlt. — Unſere<lb/> Anſicht über das Mythiſche iſt inzwiſchen von E. Guhl (D. neuere geſchichtl.<lb/> Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be-<lb/> hauptung, daß göttliche Weſen, wenn ſie nicht mehr geglaubt werden, in<lb/> Allegorien verſinken, wird geſagt: ſie bleiben vielmehr Charaktere oder<lb/> künſtleriſche, plaſtiſche, maleriſche Individualitäten, und wenn man im<lb/> Allgemeinen der Kunſt das Recht und den Beruf zur Darſtellung poeti-<lb/> ſcher Erzeugniſſe des menſchlichen Geiſtes nicht abſpreche, warum gerade<lb/> hier der grobmaterielle Maaßſtab der wirklichen Exiſtenz angelegt werde;<lb/> es erſcheine kleinlich, von der Kunſt zu verlangen, ſie ſolle nur darſtellen,<lb/> was in der That dageweſen ſei und woran man mit gutem Gewiſſen<lb/> als an ein wirklich exiſtirendes oder doch exiſtirt habendes Factum glauben<lb/> könne. Hier iſt vor Allem eine nothwendige Unterſcheidung überſehen: näm-<lb/> lich die zwiſchen dem Möglichen und dem Wirklichen. Weſen, welche zwar<lb/> nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantaſie erzeugt,<lb/> aber ſo beſchaffen ſind, daß ſie unter den von uns ſchlechthin anerkannten<lb/> Geſetzen der Erfahrung leben <hi rendition="#g">könnten</hi>, zählen wir nicht zum Mythiſchen.<lb/> Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er-<lb/> findung, ſind ſolche Weſen und es wäre völlig grundlos, ſie aus der<lb/> Stoffwelt des Schönen ausſchließen zu wollen. Anders verhält es ſich<lb/> aber mit den Gebilden, die der mythiſche Glaube ſchlechthin über und<lb/> außer das Naturgeſetz ſtellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem<lb/> Sinn abſolut ſein ſollen, als das äſthetiſche Individuum es immer iſt,<lb/> nämlich im Sinne der von ihnen weſentlich ausgeſagten Zerreißung des<lb/> Cauſalnexus: dieſe Gattung von Weſen iſt nicht nur nicht wirklich, ſondern<lb/> auch nicht möglich und die Kunſt, wenn ſie dieſelben anders, als in der<lb/> Einſchränkung, die wir nachher in’s Licht ſetzen werden, zu ihrem Stoffe<lb/> wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in<lb/> ſie <hi rendition="#g">ſelbſt</hi> eingedrungen, in Widerſpruch. Wir verwechſeln nicht eine ſäch-<lb/> liche Frage mit einer äſthetiſchen. Möglich oder unmöglich: das wäre<lb/> gleichgültig, wenn der Künſtler außer ſeiner Zeit ſtünde und ſich gegen<lb/> ihre herrſchende Stimmung abſchließen könnte. Woher nun ſoll er die<lb/> Wärme bringen, ein Weſen der Phantaſie zu dem Lebensbild eines exi-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [638/0146]
doch ihr ſpezifiſches Weſen genügend zur Reife ausgebildet hat, um zu
jenem Bewußtſein zu gelangen, ſo müſſen wir dieſe Form aus einem
ganz andern Grund an die Spitze der Zweig-Eintheilung ſtellen, als dort
in der Lehre von der Bildnerkunſt: nämlich nicht, um ihr die erſte Stelle
einzuräumen, ſondern um ſie abzuſondern, damit ſie uns dieſe Eintheilung
nicht verwirre. Dazu kommt jedoch noch ein anderer Grund: wir haben
eine relative Berechtigung des Fortbeſtands einzuräumen und müſſen gleich
zu Anfang darüber in’s Klare kommen, weil uns ſonſt für ein gewiſſes
Gebiet, das der Schlußſatz des §. andeutet, die Prämiſſe fehlt. — Unſere
Anſicht über das Mythiſche iſt inzwiſchen von E. Guhl (D. neuere geſchichtl.
Malerei u. d. Akad. S. 123 ff.) angegriffen worden. Gegen die Be-
hauptung, daß göttliche Weſen, wenn ſie nicht mehr geglaubt werden, in
Allegorien verſinken, wird geſagt: ſie bleiben vielmehr Charaktere oder
künſtleriſche, plaſtiſche, maleriſche Individualitäten, und wenn man im
Allgemeinen der Kunſt das Recht und den Beruf zur Darſtellung poeti-
ſcher Erzeugniſſe des menſchlichen Geiſtes nicht abſpreche, warum gerade
hier der grobmaterielle Maaßſtab der wirklichen Exiſtenz angelegt werde;
es erſcheine kleinlich, von der Kunſt zu verlangen, ſie ſolle nur darſtellen,
was in der That dageweſen ſei und woran man mit gutem Gewiſſen
als an ein wirklich exiſtirendes oder doch exiſtirt habendes Factum glauben
könne. Hier iſt vor Allem eine nothwendige Unterſcheidung überſehen: näm-
lich die zwiſchen dem Möglichen und dem Wirklichen. Weſen, welche zwar
nicht wirklich, nicht als wirkliche geglaubt, nur von der Phantaſie erzeugt,
aber ſo beſchaffen ſind, daß ſie unter den von uns ſchlechthin anerkannten
Geſetzen der Erfahrung leben könnten, zählen wir nicht zum Mythiſchen.
Die Helden der Sage, die Charaktere der Dichter, wenn auch reine Er-
findung, ſind ſolche Weſen und es wäre völlig grundlos, ſie aus der
Stoffwelt des Schönen ausſchließen zu wollen. Anders verhält es ſich
aber mit den Gebilden, die der mythiſche Glaube ſchlechthin über und
außer das Naturgeſetz ſtellt, mit jenen Individuen, die in ganz anderem
Sinn abſolut ſein ſollen, als das äſthetiſche Individuum es immer iſt,
nämlich im Sinne der von ihnen weſentlich ausgeſagten Zerreißung des
Cauſalnexus: dieſe Gattung von Weſen iſt nicht nur nicht wirklich, ſondern
auch nicht möglich und die Kunſt, wenn ſie dieſelben anders, als in der
Einſchränkung, die wir nachher in’s Licht ſetzen werden, zu ihrem Stoffe
wählt, geräth mit dem Grundprinzip der modernen Bildung, wie es in
ſie ſelbſt eingedrungen, in Widerſpruch. Wir verwechſeln nicht eine ſäch-
liche Frage mit einer äſthetiſchen. Möglich oder unmöglich: das wäre
gleichgültig, wenn der Künſtler außer ſeiner Zeit ſtünde und ſich gegen
ihre herrſchende Stimmung abſchließen könnte. Woher nun ſoll er die
Wärme bringen, ein Weſen der Phantaſie zu dem Lebensbild eines exi-
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