Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.Der Name Sittenbild scheint uns werth, statt des französischen Genre Der Name Sittenbild ſcheint uns werth, ſtatt des franzöſiſchen Genre <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <pb facs="#f0170" n="662"/> <p> <hi rendition="#et">Der Name Sittenbild ſcheint uns werth, ſtatt des franzöſiſchen Genre<lb/> und des früheren deutſchen (zuerſt von Hagedorn in den Betrachtungen<lb/> üb. d. Malerei gebrauchten, von Schnaaſe aufgenommenen): Geſellſchafts-<lb/> bild eingeführt zu werden. Der letztere erinnert zu wenig an die Beziehung<lb/> des Menſchen zu der Natur und zu leicht an die moderne Geſellſchaft,<lb/> wie denn Hagedorn ſogleich an einen Watteau denkt; der erſtere bezeich-<lb/> net ganz richtig das Gattungsmäßige, was ſich aus der Subſtanz des<lb/> Allgemeinen nicht zur Spitze der in das Licht der Geſchichte hereinbrechen-<lb/> den Entſcheidung zuſammenfaßt, aber zu wenig das Gewohnheitsmäßige,<lb/> das, urſprünglich ein Erzeugniß der Freiheit, durch die Geſammtzuflüſſe<lb/> des Beitrags der unendlich vielen Einzelnen und durch Verjährung zu<lb/> einer Art zweiter Naturnothwendigkeit wird. „Sitte“ wird nicht nur im<lb/> moraliſchen Sinne gebraucht, ſondern bezeichnet das Gewohnheitsmäßige<lb/> im weiteſten Umfang, insbeſondere auch die äußern Culturformen, und<lb/> es darf wohl an die altdeutſche <choice><sic>Bedeutuug</sic><corr>Bedeutung</corr></choice> erinnert werden, wonach das<lb/> Wort auch Gebahren, <hi rendition="#aq">habitus,</hi> Art der Bewegung des Individuums be-<lb/> zeichnet: Sigfried z. B. hat im Kampfe gegen die Sachſen „einen freis-<lb/> lichen Sit“. — Es handelt ſich nun, wenn der Begriff des Sittenbilds<lb/> richtig beſtimmt werden ſoll, vor Allem um die richtige Anwendung der<lb/> Begriffe des Allgemeinen und Einzelnen. <hi rendition="#g">Hotho</hi> (Geſch. d. deutſch. u.<lb/> niederl. Malerei B. 1 S. 130) ſetzt das Weſen des Genre in die Auf-<lb/> faſſung des Einzelnen, Particulären, Augenblicklichen und das Weſen des<lb/> hiſtoriſchen Bildes in die Darſtellung des Allgemeinen, Weſentlichen, Ewi-<lb/> gen. Will man ſich nicht verwirren, ſo muß man die Begriffe zunächſt<lb/> ganz anders nehmen und das Verhältniß geradezu umkehren: das Ein-<lb/> zelne iſt der große Moment, wo die Kräfte der Menſchheit ſich zu ge-<lb/> waltigen Entſcheidungen zuſammenfaſſen, welche die Geſchichte mit Angabe<lb/> der Zeit und des Namens in ihre Annalen einſchreibt, das Allgemeine<lb/> iſt das gewöhnliche Walten und Treiben derſelben Kräfte, das unbenannt<lb/> bleibt, weil es zu ſolcher Entſcheidung ſich nicht zuſammengerafft hat,<lb/> daher Guhl (a. a. O. S. 141) treffend das Genre eine Malerei mit<lb/> unbenanten Größen nennt. Neben dieſer Beſtimmung des Begriffs der<lb/> Einzelheit, wonach er die Concentrirung des Allgemeinen und Weſentlichen<lb/> zur Spitze des ſich verewigenden Moments bedeutet, behält nun aber<lb/> allerdings auch die andere Recht, wonach unter dem Einzelnen die par-<lb/> ticulären Züge der Perſönlichkeit und aller Erſcheinung zu verſtehen ſind,<lb/> und dann bleibt es dabei, daß dieſe Seite im Sittenbilde vor- und im<lb/> Geſchichtlichen zurücktritt, weil ſie hier ganz von dem Ausdruck des All-<lb/> gemeinen durchzogen und durchdrungen iſt. Ebenſo, wie der Begriff<lb/> des Einzelnen, muß nun auch der des Allgemeinen in einer zweiten<lb/> Bedeutung genommen werden. Hotho gebraucht „Allgemein“ gleichbe-<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [662/0170]
Der Name Sittenbild ſcheint uns werth, ſtatt des franzöſiſchen Genre
und des früheren deutſchen (zuerſt von Hagedorn in den Betrachtungen
üb. d. Malerei gebrauchten, von Schnaaſe aufgenommenen): Geſellſchafts-
bild eingeführt zu werden. Der letztere erinnert zu wenig an die Beziehung
des Menſchen zu der Natur und zu leicht an die moderne Geſellſchaft,
wie denn Hagedorn ſogleich an einen Watteau denkt; der erſtere bezeich-
net ganz richtig das Gattungsmäßige, was ſich aus der Subſtanz des
Allgemeinen nicht zur Spitze der in das Licht der Geſchichte hereinbrechen-
den Entſcheidung zuſammenfaßt, aber zu wenig das Gewohnheitsmäßige,
das, urſprünglich ein Erzeugniß der Freiheit, durch die Geſammtzuflüſſe
des Beitrags der unendlich vielen Einzelnen und durch Verjährung zu
einer Art zweiter Naturnothwendigkeit wird. „Sitte“ wird nicht nur im
moraliſchen Sinne gebraucht, ſondern bezeichnet das Gewohnheitsmäßige
im weiteſten Umfang, insbeſondere auch die äußern Culturformen, und
es darf wohl an die altdeutſche Bedeutung erinnert werden, wonach das
Wort auch Gebahren, habitus, Art der Bewegung des Individuums be-
zeichnet: Sigfried z. B. hat im Kampfe gegen die Sachſen „einen freis-
lichen Sit“. — Es handelt ſich nun, wenn der Begriff des Sittenbilds
richtig beſtimmt werden ſoll, vor Allem um die richtige Anwendung der
Begriffe des Allgemeinen und Einzelnen. Hotho (Geſch. d. deutſch. u.
niederl. Malerei B. 1 S. 130) ſetzt das Weſen des Genre in die Auf-
faſſung des Einzelnen, Particulären, Augenblicklichen und das Weſen des
hiſtoriſchen Bildes in die Darſtellung des Allgemeinen, Weſentlichen, Ewi-
gen. Will man ſich nicht verwirren, ſo muß man die Begriffe zunächſt
ganz anders nehmen und das Verhältniß geradezu umkehren: das Ein-
zelne iſt der große Moment, wo die Kräfte der Menſchheit ſich zu ge-
waltigen Entſcheidungen zuſammenfaſſen, welche die Geſchichte mit Angabe
der Zeit und des Namens in ihre Annalen einſchreibt, das Allgemeine
iſt das gewöhnliche Walten und Treiben derſelben Kräfte, das unbenannt
bleibt, weil es zu ſolcher Entſcheidung ſich nicht zuſammengerafft hat,
daher Guhl (a. a. O. S. 141) treffend das Genre eine Malerei mit
unbenanten Größen nennt. Neben dieſer Beſtimmung des Begriffs der
Einzelheit, wonach er die Concentrirung des Allgemeinen und Weſentlichen
zur Spitze des ſich verewigenden Moments bedeutet, behält nun aber
allerdings auch die andere Recht, wonach unter dem Einzelnen die par-
ticulären Züge der Perſönlichkeit und aller Erſcheinung zu verſtehen ſind,
und dann bleibt es dabei, daß dieſe Seite im Sittenbilde vor- und im
Geſchichtlichen zurücktritt, weil ſie hier ganz von dem Ausdruck des All-
gemeinen durchzogen und durchdrungen iſt. Ebenſo, wie der Begriff
des Einzelnen, muß nun auch der des Allgemeinen in einer zweiten
Bedeutung genommen werden. Hotho gebraucht „Allgemein“ gleichbe-
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |