Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.
fortführt. Es steht vor uns wie eine geschlossene Welt, wir schließen diese
fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <div n="3"> <div n="4"> <p> <hi rendition="#et"><pb facs="#f0185" n="677"/> fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe<lb/> Welt auf, wir beleben in der Phantaſie die ruhende Form und feſtge-<lb/> wordene Einzelheit, umgeben ſie mit den Zeitgenoſſen, ſetzen ſie in Hand-<lb/> lung. Der Künſtler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung<lb/> thun und ſo iſt das Porträt der <hi rendition="#g">Bauſtein</hi> zur geſchichtlichen Malerei.<lb/> In doppeltem Sinne: es dient dem Künſtler als Studie für das geſchicht-<lb/> liche Bild, gleichgültig, ob dieſelbe Perſon darin auftrete, er lernt daran<lb/> das Ewige des Menſchen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit,<lb/> die ſcharfe Spitze der Individualität auffaſſen; er verwendet aber auch<lb/> wirklich das einzelne Bildniß, ſei es ſein eigenes Werk oder das eines<lb/> frühern Künſtlers, als Glied einer hiſtoriſchen Compoſition. Vollzieht<lb/> er aber den Fortgang zum geſchichtlichen Bild auch nicht wirklich, ſo<lb/> werden, wenn der hiſtoriſche Geiſt in ihm lebendig iſt, ſeine Bilder uns<lb/> doch zu jener Belebung nöthigen, ſie werden erſcheinen, als wollten ſie<lb/> ſo eben aus dem Rahmen treten und handeln; ſomit führt er jedenfalls<lb/> den Zuſchauer an die Schwelle des geſchichtlichen Bildes. An keinem<lb/> Künſtler leuchtet dieſe tiefe Bedeutung der Porträtmalerei ſo ſchlagend<lb/> ein, als an Hans Holbein dem Jüngſten. Dieſer große Geiſt ergreift<lb/> mit ſeinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann ſich neben dem my-<lb/> thiſchen noch nicht als ſelbſtändiger Zweig entfalten und es iſt ihm auch<lb/> zu klein für die Größe ſeiner Künſtler-Organe; das rein geſchichtliche<lb/> Bild aber kann in der inconſequenten Geiſtes-Kriſe der Reformation<lb/> ebenfalls noch nicht zur Selbſtändigkeit heraus, er faßt es gewaltig an,<lb/> beſonders in den Gemälden des Rathhauſes in Baſel, aber ihn ſtützt und<lb/> trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältniſſe kommen hinzu, denn der<lb/> Künſtler will leben, ſie drängen ihn nach England und hier, zur höchſten<lb/> Reife gediehen, beſchränkt er ſich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf<lb/> das Bildniß, tränkt und ſchwängert es aber ſo ganz mit dem Marke des<lb/> hiſtoriſchen Geiſtes, der zugleich ganz Fleiſch wird im Individuum, daß<lb/> in dieſen Werken die Geſchichte ſelbſt athmet und lebt, daß das einzelne<lb/> Bildniß vor uns aufthaut, die ſprechenden Lippen mit den fein beredten<lb/> Mundwinkeln öffnet, mit den hingeſchiedenen Zeitgenoſſen zuſammentritt<lb/> und gegenwärtig wie im Drama das Schauſpiel erneuert, deſſen Vorhang<lb/> längſt gefallen iſt. Wir führen nur dieſen Künſtler ausdrücklich an, weil<lb/> er für das hier beſprochene Verhältniß der Bildnißmalerei ſo beſonders<lb/> belehrend iſt, und verzichten ungern auf eine Charakeriſtik der verſchiede-<lb/> nen Weiſen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner,<lb/> Raphael, die Venetianer, die Deutſchen des ſechzehnten Jahrhunderts, die<lb/> Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländiſche Mei-<lb/> ſter, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,<lb/></hi> </p> </div> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [677/0185]
fortführt. Es ſteht vor uns wie eine geſchloſſene Welt, wir ſchließen dieſe
Welt auf, wir beleben in der Phantaſie die ruhende Form und feſtge-
wordene Einzelheit, umgeben ſie mit den Zeitgenoſſen, ſetzen ſie in Hand-
lung. Der Künſtler wird ebendieß ein andermal in wirklicher Ausführung
thun und ſo iſt das Porträt der Bauſtein zur geſchichtlichen Malerei.
In doppeltem Sinne: es dient dem Künſtler als Studie für das geſchicht-
liche Bild, gleichgültig, ob dieſelbe Perſon darin auftrete, er lernt daran
das Ewige des Menſchen und doch zugleich die ganze Naturlebendigkeit,
die ſcharfe Spitze der Individualität auffaſſen; er verwendet aber auch
wirklich das einzelne Bildniß, ſei es ſein eigenes Werk oder das eines
frühern Künſtlers, als Glied einer hiſtoriſchen Compoſition. Vollzieht
er aber den Fortgang zum geſchichtlichen Bild auch nicht wirklich, ſo
werden, wenn der hiſtoriſche Geiſt in ihm lebendig iſt, ſeine Bilder uns
doch zu jener Belebung nöthigen, ſie werden erſcheinen, als wollten ſie
ſo eben aus dem Rahmen treten und handeln; ſomit führt er jedenfalls
den Zuſchauer an die Schwelle des geſchichtlichen Bildes. An keinem
Künſtler leuchtet dieſe tiefe Bedeutung der Porträtmalerei ſo ſchlagend
ein, als an Hans Holbein dem Jüngſten. Dieſer große Geiſt ergreift
mit ſeinem Falkenauge das Sittenbild, aber es kann ſich neben dem my-
thiſchen noch nicht als ſelbſtändiger Zweig entfalten und es iſt ihm auch
zu klein für die Größe ſeiner Künſtler-Organe; das rein geſchichtliche
Bild aber kann in der inconſequenten Geiſtes-Kriſe der Reformation
ebenfalls noch nicht zur Selbſtändigkeit heraus, er faßt es gewaltig an,
beſonders in den Gemälden des Rathhauſes in Baſel, aber ihn ſtützt und
trägt die Zeit nicht, die äußern Verhältniſſe kommen hinzu, denn der
Künſtler will leben, ſie drängen ihn nach England und hier, zur höchſten
Reife gediehen, beſchränkt er ſich (ein Ceremonienbild ausgenommen) auf
das Bildniß, tränkt und ſchwängert es aber ſo ganz mit dem Marke des
hiſtoriſchen Geiſtes, der zugleich ganz Fleiſch wird im Individuum, daß
in dieſen Werken die Geſchichte ſelbſt athmet und lebt, daß das einzelne
Bildniß vor uns aufthaut, die ſprechenden Lippen mit den fein beredten
Mundwinkeln öffnet, mit den hingeſchiedenen Zeitgenoſſen zuſammentritt
und gegenwärtig wie im Drama das Schauſpiel erneuert, deſſen Vorhang
längſt gefallen iſt. Wir führen nur dieſen Künſtler ausdrücklich an, weil
er für das hier beſprochene Verhältniß der Bildnißmalerei ſo beſonders
belehrend iſt, und verzichten ungern auf eine Charakeriſtik der verſchiede-
nen Weiſen, in welchen die großen Maler Italiens, die Florentiner,
Raphael, die Venetianer, die Deutſchen des ſechzehnten Jahrhunderts, die
Belgier Rubens und van Dyk, Rembrandt und andere holländiſche Mei-
ſter, die Spanier jene Aufgabe erfaßt und erfüllt haben, das Bleibende,
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