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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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Dürer scheint eingewirkt zu haben. Titian hat Christus mehrmals, am
herrlichsten in jenem Bilde des Zinsgroschens, rein als einen Menschen
hingestellt, der nur durch die höchste Wahrhaftigkeit und Lauterkeit ohne
Heiligenschein ächt göttlich ist. Compositionen, wie jenes unsterbliche Werk
der Grablegung, sind im Grund auch rein menschlich, die vielen Madon-
nen der Schule aber nur liebende, edle Mütter, denen der Ausdruck des
ahnungsvollen Gemüths fehlt, den wir bei diesem Stoffe fordern. Da-
gegen wächst das christliche Ideal, und dieß ist die andere jener zwei
Richtungen, insbesondere in seiner weiblichen Form unter gegebenen Be-
dingungen zu der Großheit, dem hohen Pathos einer antiken Gottheit
hinan, wie in Titians Himmelfahrt der Maria, in manchen Heiligen des
Palma Vecchio. Nach der Antike weist nun überhaupt die festliche Sin-
nenfreude, die üppige und doch geistig erhöhte, edel pathetische Weltstim-
mung der Venetianer. Wir haben die Aufnahme dieses Gebiets zur
Genüge besprochen und verweilen nicht weiter bei dem mit neuer Wärme
durchströmten Olymp von Schönheit, der sich hier aufthut. Daß aber
das eigentlich Mythische in ein willkührliches, oft dunkles Allegorisiren
ausläuft, dieß ist, wo der classische Mythus doch eigentlich nicht mehr
lebte, nur natürlich. Einen Theil ihrer weltlich freien Anschauung
konnten die Venetianer nun wohl in diesen Rahmen stellen: die Bewun-
derung der schönen Form, die Sinnenfreude überhaupt ohne bestimmteres,
real bedingtes Motiv. Aber das genügte nicht. Die Wirklichkeit, worin
sich wechselseitig Alles real motivirt, war durch die Vollendung der Farbe
gefordert. In der ganzen Grundstimmung, woraus dieselbe hervorging,
waren alle Bedingungen für die endliche Schöpfung der rein sächlichen Zweige
gegeben. Landschaft, Sittenbild, Geschichte: Alles ringt noch mächtiger,
als bisher, an's Licht. Unter den drei Gattungen war aber das höhere,
historische Sittenbild das eigentlich angemessene Feld. Für die Landschaft
als selbständigen Zweig war es doch wirklich zu früh, die herrlichen An-
fänge des Titian konnten daher nur Anfänge bleiben; für die Geschichte
aber war der Geist des damaligen Venedigs immerhin zu sehr ein Geist
des Genusses. Die rein geschichtlichen Bilder im Dogenpalast sind chro-
nikalisch behandelt, es mangelt doch der Sinn für die wirkliche That, man
zieht es vor, den Genius der Geschichte in Allegorien zu fassen, die keine
Handlung fordern. Dagegen sehen wir die volle Macht des historischen
Geistes im Porträt, und da doch die Stimmung nicht da ist, die unend-
liche Möglichkeit der geschichtlichen That, die aus dem so behandelten
Bildniß spricht, in wirklicher Gestaltung auszuwickeln, so bleibt nur übrig,
diese bedeutenden Menschen im Zustand edeln Genusses unter Culturformen
darzustellen, die an sich schon großen, schwungvollen, erhöhten Styl zeigen.
Nun aber leidet der festgehaltene Mythus nicht, daß dieser Zweig zur

Dürer ſcheint eingewirkt zu haben. Titian hat Chriſtus mehrmals, am
herrlichſten in jenem Bilde des Zinsgroſchens, rein als einen Menſchen
hingeſtellt, der nur durch die höchſte Wahrhaftigkeit und Lauterkeit ohne
Heiligenſchein ächt göttlich iſt. Compoſitionen, wie jenes unſterbliche Werk
der Grablegung, ſind im Grund auch rein menſchlich, die vielen Madon-
nen der Schule aber nur liebende, edle Mütter, denen der Ausdruck des
ahnungsvollen Gemüths fehlt, den wir bei dieſem Stoffe fordern. Da-
gegen wächst das chriſtliche Ideal, und dieß iſt die andere jener zwei
Richtungen, insbeſondere in ſeiner weiblichen Form unter gegebenen Be-
dingungen zu der Großheit, dem hohen Pathos einer antiken Gottheit
hinan, wie in Titians Himmelfahrt der Maria, in manchen Heiligen des
Palma Vecchio. Nach der Antike weist nun überhaupt die feſtliche Sin-
nenfreude, die üppige und doch geiſtig erhöhte, edel pathetiſche Weltſtim-
mung der Venetianer. Wir haben die Aufnahme dieſes Gebiets zur
Genüge beſprochen und verweilen nicht weiter bei dem mit neuer Wärme
durchſtrömten Olymp von Schönheit, der ſich hier aufthut. Daß aber
das eigentlich Mythiſche in ein willkührliches, oft dunkles Allegoriſiren
ausläuft, dieß iſt, wo der claſſiſche Mythus doch eigentlich nicht mehr
lebte, nur natürlich. Einen Theil ihrer weltlich freien Anſchauung
konnten die Venetianer nun wohl in dieſen Rahmen ſtellen: die Bewun-
derung der ſchönen Form, die Sinnenfreude überhaupt ohne beſtimmteres,
real bedingtes Motiv. Aber das genügte nicht. Die Wirklichkeit, worin
ſich wechſelſeitig Alles real motivirt, war durch die Vollendung der Farbe
gefordert. In der ganzen Grundſtimmung, woraus dieſelbe hervorging,
waren alle Bedingungen für die endliche Schöpfung der rein ſächlichen Zweige
gegeben. Landſchaft, Sittenbild, Geſchichte: Alles ringt noch mächtiger,
als bisher, an’s Licht. Unter den drei Gattungen war aber das höhere,
hiſtoriſche Sittenbild das eigentlich angemeſſene Feld. Für die Landſchaft
als ſelbſtändigen Zweig war es doch wirklich zu früh, die herrlichen An-
fänge des Titian konnten daher nur Anfänge bleiben; für die Geſchichte
aber war der Geiſt des damaligen Venedigs immerhin zu ſehr ein Geiſt
des Genuſſes. Die rein geſchichtlichen Bilder im Dogenpalaſt ſind chro-
nikaliſch behandelt, es mangelt doch der Sinn für die wirkliche That, man
zieht es vor, den Genius der Geſchichte in Allegorien zu faſſen, die keine
Handlung fordern. Dagegen ſehen wir die volle Macht des hiſtoriſchen
Geiſtes im Porträt, und da doch die Stimmung nicht da iſt, die unend-
liche Möglichkeit der geſchichtlichen That, die aus dem ſo behandelten
Bildniß ſpricht, in wirklicher Geſtaltung auszuwickeln, ſo bleibt nur übrig,
dieſe bedeutenden Menſchen im Zuſtand edeln Genuſſes unter Culturformen
darzuſtellen, die an ſich ſchon großen, ſchwungvollen, erhöhten Styl zeigen.
Nun aber leidet der feſtgehaltene Mythus nicht, daß dieſer Zweig zur

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[722/0230] Dürer ſcheint eingewirkt zu haben. Titian hat Chriſtus mehrmals, am herrlichſten in jenem Bilde des Zinsgroſchens, rein als einen Menſchen hingeſtellt, der nur durch die höchſte Wahrhaftigkeit und Lauterkeit ohne Heiligenſchein ächt göttlich iſt. Compoſitionen, wie jenes unſterbliche Werk der Grablegung, ſind im Grund auch rein menſchlich, die vielen Madon- nen der Schule aber nur liebende, edle Mütter, denen der Ausdruck des ahnungsvollen Gemüths fehlt, den wir bei dieſem Stoffe fordern. Da- gegen wächst das chriſtliche Ideal, und dieß iſt die andere jener zwei Richtungen, insbeſondere in ſeiner weiblichen Form unter gegebenen Be- dingungen zu der Großheit, dem hohen Pathos einer antiken Gottheit hinan, wie in Titians Himmelfahrt der Maria, in manchen Heiligen des Palma Vecchio. Nach der Antike weist nun überhaupt die feſtliche Sin- nenfreude, die üppige und doch geiſtig erhöhte, edel pathetiſche Weltſtim- mung der Venetianer. Wir haben die Aufnahme dieſes Gebiets zur Genüge beſprochen und verweilen nicht weiter bei dem mit neuer Wärme durchſtrömten Olymp von Schönheit, der ſich hier aufthut. Daß aber das eigentlich Mythiſche in ein willkührliches, oft dunkles Allegoriſiren ausläuft, dieß iſt, wo der claſſiſche Mythus doch eigentlich nicht mehr lebte, nur natürlich. Einen Theil ihrer weltlich freien Anſchauung konnten die Venetianer nun wohl in dieſen Rahmen ſtellen: die Bewun- derung der ſchönen Form, die Sinnenfreude überhaupt ohne beſtimmteres, real bedingtes Motiv. Aber das genügte nicht. Die Wirklichkeit, worin ſich wechſelſeitig Alles real motivirt, war durch die Vollendung der Farbe gefordert. In der ganzen Grundſtimmung, woraus dieſelbe hervorging, waren alle Bedingungen für die endliche Schöpfung der rein ſächlichen Zweige gegeben. Landſchaft, Sittenbild, Geſchichte: Alles ringt noch mächtiger, als bisher, an’s Licht. Unter den drei Gattungen war aber das höhere, hiſtoriſche Sittenbild das eigentlich angemeſſene Feld. Für die Landſchaft als ſelbſtändigen Zweig war es doch wirklich zu früh, die herrlichen An- fänge des Titian konnten daher nur Anfänge bleiben; für die Geſchichte aber war der Geiſt des damaligen Venedigs immerhin zu ſehr ein Geiſt des Genuſſes. Die rein geſchichtlichen Bilder im Dogenpalaſt ſind chro- nikaliſch behandelt, es mangelt doch der Sinn für die wirkliche That, man zieht es vor, den Genius der Geſchichte in Allegorien zu faſſen, die keine Handlung fordern. Dagegen ſehen wir die volle Macht des hiſtoriſchen Geiſtes im Porträt, und da doch die Stimmung nicht da iſt, die unend- liche Möglichkeit der geſchichtlichen That, die aus dem ſo behandelten Bildniß ſpricht, in wirklicher Geſtaltung auszuwickeln, ſo bleibt nur übrig, dieſe bedeutenden Menſchen im Zuſtand edeln Genuſſes unter Culturformen darzuſtellen, die an ſich ſchon großen, ſchwungvollen, erhöhten Styl zeigen. Nun aber leidet der feſtgehaltene Mythus nicht, daß dieſer Zweig zur

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 722. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/230>, abgerufen am 23.11.2024.