Man bezeichnet ihn nach dieser Seite gewöhnlich als vorzugsweise national, d. h. als einen Styl, der nationale Physiognomie und Körperbildung be- sonders sichtbar und durchherrschend darstelle. Dieß ist richtig, wenn man nicht übersieht, daß auch die italienische Malerei nationale Formen gibt, aber daß diese an sich, schon als Stoff, normaler, einer allgemeinen Schönheitslinie gemäßer sind, als die deutschen, daß also das Nationale hier nur darum schärfer hervortritt, weil es individueller ist, weil die Einzelnen in dieser Nation einander weniger gleich sehen, daß hiemit ein malerischer Trieb von Seiten der Kunst mit einer gegebenen Bestimmtheit des ihr vorliegenden Menschenstoffs zusammentrifft. Wie nun die Malerei hier bis in die Spitze der Individualität heraustritt, so hat sie auch und zeigt viel früher, als in Italien, den ächt malerischen Drang, den zunächst in der Persönlichkeit zusammengefaßten Inhalt auch in die Wirklichkeit der Welt herauszuführen, die umgebende Natur, künstlichen Raum, Ge- räthe, Nebenfiguren, die eine sittenbildliche Stimmung hinzubringen, zu öffnen und zu zeigen. Sie geht hierin weit über das Maaß hinaus, die Hauptfiguren sind dadurch beengt, werden zu klein und das Zurückblei- ben im Verständniß des menschlichen Organismus hat in dieser Theilung des Interesses eine seiner Ursachen. Dieß erklärt sich aber auch hier zunächst daraus, daß jene Sphären, in welche die Figur gestellt ist, ihr Bett noch nicht in besonderen Zweigen finden können; wird in Deutsch- land das Verhältniß dieser Theile noch weit stärker verstellt, als in Ita- lien, so beweist dieß nur einen noch stärkeren Drang zur Landschaft und zum Sittenbilde; das letztere namentlich auch dadurch, daß dieser Styl nicht ruht, bis er die mythischen Stoffe ganz und gar in die Trachten und sämmtlichen Culturformen der Zeit hineingestellt hat. Noch mehr: es wird mit einer (allerdings nicht allen Schulen gemeinschaftlichen, doch keineswegs auf die flandrische beschränkten) Ausführlichkeit in das Einzelne gegangen, die auch für Landschaft und Sittenbild, gewisse Formen des letztern ausgenommen, viel zu mikroskopisch ist. Auch hier darf man nicht an bloße Abschrift des Wirklichen, an ein extremes Gegentheil von soge- nanntem Idealismus denken, vielmehr der staunenswerthe Fleiß dieses Eindringens ist Ausdruck derselben Innigkeit, welche die Wundertiefen des Gemüths aufdeckt: es ist jener ausgegossene Geist (§. 653), der auch das Müschelchen am Ufer und den Käfer und Grashalm mit der Sonne seiner Liebe bescheint und verklärt, aber das Verhältniß der Theile in einer Composition noch nicht abzuwägen weiß. Nun aber fehlt zwischen den beiden Extremen: jener Innerlichkeit und dieser Schärfe der Indivi- dualität und Ausbreitung des Umgebenden die Mitte; hier bleibt jene Kluft, die weit über den malerisch berechtigten Bruch hinausgeht. Auch die härtere Form des Aeußern mit der unflüssigeren und schrofferen Natur
Man bezeichnet ihn nach dieſer Seite gewöhnlich als vorzugsweiſe national, d. h. als einen Styl, der nationale Phyſiognomie und Körperbildung be- ſonders ſichtbar und durchherrſchend darſtelle. Dieß iſt richtig, wenn man nicht überſieht, daß auch die italieniſche Malerei nationale Formen gibt, aber daß dieſe an ſich, ſchon als Stoff, normaler, einer allgemeinen Schönheitslinie gemäßer ſind, als die deutſchen, daß alſo das Nationale hier nur darum ſchärfer hervortritt, weil es individueller iſt, weil die Einzelnen in dieſer Nation einander weniger gleich ſehen, daß hiemit ein maleriſcher Trieb von Seiten der Kunſt mit einer gegebenen Beſtimmtheit des ihr vorliegenden Menſchenſtoffs zuſammentrifft. Wie nun die Malerei hier bis in die Spitze der Individualität heraustritt, ſo hat ſie auch und zeigt viel früher, als in Italien, den ächt maleriſchen Drang, den zunächſt in der Perſönlichkeit zuſammengefaßten Inhalt auch in die Wirklichkeit der Welt herauszuführen, die umgebende Natur, künſtlichen Raum, Ge- räthe, Nebenfiguren, die eine ſittenbildliche Stimmung hinzubringen, zu öffnen und zu zeigen. Sie geht hierin weit über das Maaß hinaus, die Hauptfiguren ſind dadurch beengt, werden zu klein und das Zurückblei- ben im Verſtändniß des menſchlichen Organiſmus hat in dieſer Theilung des Intereſſes eine ſeiner Urſachen. Dieß erklärt ſich aber auch hier zunächſt daraus, daß jene Sphären, in welche die Figur geſtellt iſt, ihr Bett noch nicht in beſonderen Zweigen finden können; wird in Deutſch- land das Verhältniß dieſer Theile noch weit ſtärker verſtellt, als in Ita- lien, ſo beweist dieß nur einen noch ſtärkeren Drang zur Landſchaft und zum Sittenbilde; das letztere namentlich auch dadurch, daß dieſer Styl nicht ruht, bis er die mythiſchen Stoffe ganz und gar in die Trachten und ſämmtlichen Culturformen der Zeit hineingeſtellt hat. Noch mehr: es wird mit einer (allerdings nicht allen Schulen gemeinſchaftlichen, doch keineswegs auf die flandriſche beſchränkten) Ausführlichkeit in das Einzelne gegangen, die auch für Landſchaft und Sittenbild, gewiſſe Formen des letztern ausgenommen, viel zu mikroſkopiſch iſt. Auch hier darf man nicht an bloße Abſchrift des Wirklichen, an ein extremes Gegentheil von ſoge- nanntem Idealiſmus denken, vielmehr der ſtaunenswerthe Fleiß dieſes Eindringens iſt Ausdruck derſelben Innigkeit, welche die Wundertiefen des Gemüths aufdeckt: es iſt jener ausgegoſſene Geiſt (§. 653), der auch das Müſchelchen am Ufer und den Käfer und Grashalm mit der Sonne ſeiner Liebe beſcheint und verklärt, aber das Verhältniß der Theile in einer Compoſition noch nicht abzuwägen weiß. Nun aber fehlt zwiſchen den beiden Extremen: jener Innerlichkeit und dieſer Schärfe der Indivi- dualität und Ausbreitung des Umgebenden die Mitte; hier bleibt jene Kluft, die weit über den maleriſch berechtigten Bruch hinausgeht. Auch die härtere Form des Aeußern mit der unflüſſigeren und ſchrofferen Natur
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Man bezeichnet ihn nach dieſer Seite gewöhnlich als vorzugsweiſe national,
d. h. als einen Styl, der nationale Phyſiognomie und Körperbildung be-
ſonders ſichtbar und durchherrſchend darſtelle. Dieß iſt richtig, wenn man
nicht überſieht, daß auch die italieniſche Malerei nationale Formen gibt,
aber daß dieſe an ſich, ſchon als Stoff, normaler, einer allgemeinen
Schönheitslinie gemäßer ſind, als die deutſchen, daß alſo das Nationale
hier nur darum ſchärfer hervortritt, weil es individueller iſt, weil die
Einzelnen in dieſer Nation einander weniger gleich ſehen, daß hiemit ein
maleriſcher Trieb von Seiten der Kunſt mit einer gegebenen Beſtimmtheit
des ihr vorliegenden Menſchenſtoffs zuſammentrifft. Wie nun die Malerei
hier bis in die Spitze der Individualität heraustritt, ſo hat ſie auch und
zeigt viel früher, als in Italien, den ächt maleriſchen Drang, den zunächſt
in der Perſönlichkeit zuſammengefaßten Inhalt auch in die Wirklichkeit
der Welt herauszuführen, die umgebende Natur, künſtlichen Raum, Ge-
räthe, Nebenfiguren, die eine ſittenbildliche Stimmung hinzubringen, zu
öffnen und zu zeigen. Sie geht hierin weit über das Maaß hinaus, die
Hauptfiguren ſind dadurch beengt, werden zu klein und das Zurückblei-
ben im Verſtändniß des menſchlichen Organiſmus hat in dieſer Theilung
des Intereſſes eine ſeiner Urſachen. Dieß erklärt ſich aber auch hier
zunächſt daraus, daß jene Sphären, in welche die Figur geſtellt iſt,
ihr Bett noch nicht in beſonderen Zweigen finden können; wird in Deutſch-
land das Verhältniß dieſer Theile noch weit ſtärker verſtellt, als in Ita-
lien, ſo beweist dieß nur einen noch ſtärkeren Drang zur Landſchaft und
zum Sittenbilde; das letztere namentlich auch dadurch, daß dieſer Styl
nicht ruht, bis er die mythiſchen Stoffe ganz und gar in die Trachten
und ſämmtlichen Culturformen der Zeit hineingeſtellt hat. Noch mehr:
es wird mit einer (allerdings nicht allen Schulen gemeinſchaftlichen, doch
keineswegs auf die flandriſche beſchränkten) Ausführlichkeit in das Einzelne
gegangen, die auch für Landſchaft und Sittenbild, gewiſſe Formen des
letztern ausgenommen, viel zu mikroſkopiſch iſt. Auch hier darf man nicht
an bloße Abſchrift des Wirklichen, an ein extremes Gegentheil von ſoge-
nanntem Idealiſmus denken, vielmehr der ſtaunenswerthe Fleiß dieſes
Eindringens iſt Ausdruck derſelben Innigkeit, welche die Wundertiefen des
Gemüths aufdeckt: es iſt jener ausgegoſſene Geiſt (§. 653), der auch
das Müſchelchen am Ufer und den Käfer und Grashalm mit der Sonne
ſeiner Liebe beſcheint und verklärt, aber das Verhältniß der Theile in
einer Compoſition noch nicht abzuwägen weiß. Nun aber fehlt zwiſchen
den beiden Extremen: jener Innerlichkeit und dieſer Schärfe der Indivi-
dualität und Ausbreitung des Umgebenden die Mitte; hier bleibt jene
Kluft, die weit über den maleriſch berechtigten Bruch hinausgeht. Auch
die härtere Form des Aeußern mit der unflüſſigeren und ſchrofferen Natur
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 725. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/233>, abgerufen am 16.07.2024.
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