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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854.

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doch nur theilweise, in den mehr statuarisch behandelten Figuren, er selbst
geht schon zu der Schärfe der naturalistischen und individualisirenden Be-
handlung fort, die aber allerdings Johann noch weiter treibt. Dieser
vorzüglich führt die Härte des Bruchs auch in die Faltengebung hinaus
und begründet den eckigen, winklichen Faltenwurf, der, ein treuer
Widerschein der Tendenz zur Ecken- und Spitzenbildung in der Baukunst,
von nun an bleibt. Die Herbe der Charakterbildung geht aber noch
nicht so weit, wie nachher in den deutschen Schulen und die Phantastik
des Humors beschränkt sich bei den weiteren Meistern, wo sie eintritt, auf
die Teufelsfratzen. Die Composition, bei Hubert noch mehr symmetrisch,
architektonisch, durch symbolischen Mittelpunct bedingt, entfaltet sich natur-
gemäßer, reicher, bleibt aber im Vergleiche mit den Florentinern des
fünfzehnten Jahrhunderts immer gebunden. Kühnere Befreiung derselben
erlaubte schon die unendliche Sorgfalt im Einzelnen nicht. Jetzt nämlich
steigert sich dieß liebevolle Eingehen, das schon in der Kölner-Schule be-
gann, bis zu jener mikroskopischen Behandlung, von welcher zu §. 726
die Rede gewesen ist. Man erkennt daran den Ursprung des ganzen
Styls aus der Miniatur-Malerei. So konnte bei der Verbreitung desselben
allerdings nicht fortgemalt werden, da würde man nicht fertig. -- Die
Fortschritte durch die Schüler, namentlich Roger von der Weyden,
Hans Memling
, bezeichnet in der nöthigen Kürze der §.; es sind Fort-
schritte nach allen Seiten und die Schule leistet, da sie durch keine gegen-
überstehende ergänzt wird, ungleich mehr, als die umbrische, in Mannig-
faltigkeit der Charaktere, Bewegungen, Seelenzustände, figurenreicher
mythischer Handlung, Durchbildung der Farbe zum reinsten Schmelz,
Sättigung, Bewältigung ihrer Stoffartigkeit bis zum Verschwinden jeder
Spur der Pinselführung. Das Alles führt jedoch immer nicht zur Lösung
des Formensinns; er bleibt gebunden. Das Naturstudium fehlt nicht, aber
das Studium der Antike, oder, wenn man will, das Naturstudium an
der Hand der Antike. Hier bleibt ein Masaccio aus, der nicht nur
richtig, sondern schön modellirt und das schön Modellirte in freie und schöne
Bewegung setzt, indem er sowohl die Antike, als die Natur befragt, hier
überhaupt eine florentinische Schule. Die flandrische hat wohl einen Theil
dessen, wodurch diese sich hervorthat: die Sicherheit der Zeichnung, die Aus-
bildung jener Grundmomente des technischen Verfahrens, die Charakteristik,
Bereicherung des Ausdrucks, Ausdehnung der Handlung, und sie hat noch
mehr, denn die Oeffnung der Landschaft, die Einführung des Sittenbildlichen,
des Historischen verdanken die Florentiner zum Theil selbst den Flandrern;
aber die Florentiner haben das Alles auf Grundlage des plastischen Sinnes
und der fehlt diesen Niederdeutschen. Es bewährt sich, was wir schon
zu §. 726 angedeutet haben: jene Nachwirkung des ersten Einflusses

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doch nur theilweiſe, in den mehr ſtatuariſch behandelten Figuren, er ſelbſt
geht ſchon zu der Schärfe der naturaliſtiſchen und individualiſirenden Be-
handlung fort, die aber allerdings Johann noch weiter treibt. Dieſer
vorzüglich führt die Härte des Bruchs auch in die Faltengebung hinaus
und begründet den eckigen, winklichen Faltenwurf, der, ein treuer
Widerſchein der Tendenz zur Ecken- und Spitzenbildung in der Baukunſt,
von nun an bleibt. Die Herbe der Charakterbildung geht aber noch
nicht ſo weit, wie nachher in den deutſchen Schulen und die Phantaſtik
des Humors beſchränkt ſich bei den weiteren Meiſtern, wo ſie eintritt, auf
die Teufelsfratzen. Die Compoſition, bei Hubert noch mehr ſymmetriſch,
architektoniſch, durch ſymboliſchen Mittelpunct bedingt, entfaltet ſich natur-
gemäßer, reicher, bleibt aber im Vergleiche mit den Florentinern des
fünfzehnten Jahrhunderts immer gebunden. Kühnere Befreiung derſelben
erlaubte ſchon die unendliche Sorgfalt im Einzelnen nicht. Jetzt nämlich
ſteigert ſich dieß liebevolle Eingehen, das ſchon in der Kölner-Schule be-
gann, bis zu jener mikroſkopiſchen Behandlung, von welcher zu §. 726
die Rede geweſen iſt. Man erkennt daran den Urſprung des ganzen
Styls aus der Miniatur-Malerei. So konnte bei der Verbreitung deſſelben
allerdings nicht fortgemalt werden, da würde man nicht fertig. — Die
Fortſchritte durch die Schüler, namentlich Roger von der Weyden,
Hans Memling
, bezeichnet in der nöthigen Kürze der §.; es ſind Fort-
ſchritte nach allen Seiten und die Schule leiſtet, da ſie durch keine gegen-
überſtehende ergänzt wird, ungleich mehr, als die umbriſche, in Mannig-
faltigkeit der Charaktere, Bewegungen, Seelenzuſtände, figurenreicher
mythiſcher Handlung, Durchbildung der Farbe zum reinſten Schmelz,
Sättigung, Bewältigung ihrer Stoffartigkeit bis zum Verſchwinden jeder
Spur der Pinſelführung. Das Alles führt jedoch immer nicht zur Löſung
des Formenſinns; er bleibt gebunden. Das Naturſtudium fehlt nicht, aber
das Studium der Antike, oder, wenn man will, das Naturſtudium an
der Hand der Antike. Hier bleibt ein Maſaccio aus, der nicht nur
richtig, ſondern ſchön modellirt und das ſchön Modellirte in freie und ſchöne
Bewegung ſetzt, indem er ſowohl die Antike, als die Natur befragt, hier
überhaupt eine florentiniſche Schule. Die flandriſche hat wohl einen Theil
deſſen, wodurch dieſe ſich hervorthat: die Sicherheit der Zeichnung, die Aus-
bildung jener Grundmomente des techniſchen Verfahrens, die Charakteriſtik,
Bereicherung des Ausdrucks, Ausdehnung der Handlung, und ſie hat noch
mehr, denn die Oeffnung der Landſchaft, die Einführung des Sittenbildlichen,
des Hiſtoriſchen verdanken die Florentiner zum Theil ſelbſt den Flandrern;
aber die Florentiner haben das Alles auf Grundlage des plaſtiſchen Sinnes
und der fehlt dieſen Niederdeutſchen. Es bewährt ſich, was wir ſchon
zu §. 726 angedeutet haben: jene Nachwirkung des erſten Einfluſſes

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[731/0239] doch nur theilweiſe, in den mehr ſtatuariſch behandelten Figuren, er ſelbſt geht ſchon zu der Schärfe der naturaliſtiſchen und individualiſirenden Be- handlung fort, die aber allerdings Johann noch weiter treibt. Dieſer vorzüglich führt die Härte des Bruchs auch in die Faltengebung hinaus und begründet den eckigen, winklichen Faltenwurf, der, ein treuer Widerſchein der Tendenz zur Ecken- und Spitzenbildung in der Baukunſt, von nun an bleibt. Die Herbe der Charakterbildung geht aber noch nicht ſo weit, wie nachher in den deutſchen Schulen und die Phantaſtik des Humors beſchränkt ſich bei den weiteren Meiſtern, wo ſie eintritt, auf die Teufelsfratzen. Die Compoſition, bei Hubert noch mehr ſymmetriſch, architektoniſch, durch ſymboliſchen Mittelpunct bedingt, entfaltet ſich natur- gemäßer, reicher, bleibt aber im Vergleiche mit den Florentinern des fünfzehnten Jahrhunderts immer gebunden. Kühnere Befreiung derſelben erlaubte ſchon die unendliche Sorgfalt im Einzelnen nicht. Jetzt nämlich ſteigert ſich dieß liebevolle Eingehen, das ſchon in der Kölner-Schule be- gann, bis zu jener mikroſkopiſchen Behandlung, von welcher zu §. 726 die Rede geweſen iſt. Man erkennt daran den Urſprung des ganzen Styls aus der Miniatur-Malerei. So konnte bei der Verbreitung deſſelben allerdings nicht fortgemalt werden, da würde man nicht fertig. — Die Fortſchritte durch die Schüler, namentlich Roger von der Weyden, Hans Memling, bezeichnet in der nöthigen Kürze der §.; es ſind Fort- ſchritte nach allen Seiten und die Schule leiſtet, da ſie durch keine gegen- überſtehende ergänzt wird, ungleich mehr, als die umbriſche, in Mannig- faltigkeit der Charaktere, Bewegungen, Seelenzuſtände, figurenreicher mythiſcher Handlung, Durchbildung der Farbe zum reinſten Schmelz, Sättigung, Bewältigung ihrer Stoffartigkeit bis zum Verſchwinden jeder Spur der Pinſelführung. Das Alles führt jedoch immer nicht zur Löſung des Formenſinns; er bleibt gebunden. Das Naturſtudium fehlt nicht, aber das Studium der Antike, oder, wenn man will, das Naturſtudium an der Hand der Antike. Hier bleibt ein Maſaccio aus, der nicht nur richtig, ſondern ſchön modellirt und das ſchön Modellirte in freie und ſchöne Bewegung ſetzt, indem er ſowohl die Antike, als die Natur befragt, hier überhaupt eine florentiniſche Schule. Die flandriſche hat wohl einen Theil deſſen, wodurch dieſe ſich hervorthat: die Sicherheit der Zeichnung, die Aus- bildung jener Grundmomente des techniſchen Verfahrens, die Charakteriſtik, Bereicherung des Ausdrucks, Ausdehnung der Handlung, und ſie hat noch mehr, denn die Oeffnung der Landſchaft, die Einführung des Sittenbildlichen, des Hiſtoriſchen verdanken die Florentiner zum Theil ſelbſt den Flandrern; aber die Florentiner haben das Alles auf Grundlage des plaſtiſchen Sinnes und der fehlt dieſen Niederdeutſchen. Es bewährt ſich, was wir ſchon zu §. 726 angedeutet haben: jene Nachwirkung des erſten Einfluſſes 48*

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 731. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/239>, abgerufen am 23.11.2024.