rasch entzündet sich das Subjective in ihm mit dem Subjectiven im Zu- schauer zu Einer Flamme. Das Allgemeine, der Inhalt im Werke, hat ferner nicht nur die Form der Persönlichkeit, die das Individuelle bis zu zarter Grenze ausscheidet, sondern der ganzen individuellen Persönlichkeit angenommen, die mich vertraut anschaut als Fleisch von meinem Fleisch und Bein von meinem Bein und mit dem Blicke des Herzens, der da sagt: wir verstehen uns; ich "muß nicht mich selbst vergessen" (Hegel Aesth. 3. S. 18), wie dem Sculpturbild gegenüber, das, selbst ein feinster Auszug der Vielheit, die empirisch Vielen als Stoff hinter sich läßt und ebendaher als Zuschauer zuerst abweist, um sie erst, nachdem sie sich über sich selbst erhoben, zu vertrauter Annäherung zuzulassen. Alles Schöne ist anmuthig im Sinn einer harmoniebildenden Bewegung nach dem Zu- schauer hin (vergl. §. 72); alles wahrhaft Schöne weist die Aftergestalt dieser Bewegung, die in einem liebäugelnden Reize besteht, streng von sich; das Werk der Bildnerkunst behauptet diese Strenge in dem Grade, daß auch die wahre Anmuth sich dem ersten Blick hinter eine spröde Schaale ver- schließt; das Gemälde läßt die Anmuth rascher aus weicher Schaale nach dem Zuschauer hinüberwallen. Die innigere Betheiligung des Zuschauers hat aber wie die freiere Subjectivität im Künstler noch die andere Seite, daß er sich in der Besonderheit individueller Vorliebe mehr gehen lassen darf. Er mag freier wählen zwischen verschiedenen Auffassungen desselben Gegenstands oder Moments, aus der größeren Menge des Gegebenen vor- ziehen, was ihm überhaupt oder in der Stimmung des Augenblicks mehr zusagt. Die Wahrheit, daß das Interesse vom ästhetischen Eindruck aus- geschlossen ist, daß alles ästhetische Urtheil auf Allgemeinheit Anspruch macht (vergl. §. 75 u. 79), bleibt dabei völlig unangetastet, denn ich kann mehr theoretisch ein anerkanntes Kunstwerk völlig anerkennen und gleich- zeitig gestehen, daß es mich als diesen Einzelnen weniger erfreut, als ein anderes; nur muß dieß Andere auch ein wahres Kunstwerk sein, darf in der Form-Vollendung nicht zurückstehen. Ist das Letztere der Fall, so muß meine Vorliebe wenigstens mit dem Zusatze sich aussprechen: der Auffassung nach gefiele mir dieß besser, ich bedaure nur, daß es nicht mehr reinen Kunstwerth in der Ausführung hat, ich bedaure es aber allerdings mehr, als ich es bei jenem anerkannten Kunstwerk anderer Auffassung bedauern würde, wenn ihm die Vollendung fehlte. Also auch nach dieser Seite ist die Malerei mehr demokratisch, den Einzelnen berech- tigend und vermag nach ihrer erklärlich größeren Fruchtbarkeit Kostgänger der verschiedensten Art zu speisen. Im Begriffe des Bewegten, den dieser §., nachdem er schon bisher öfters hervorgetreten, mit Nachdruck ausspricht, können wir wirklich Alles zusammenfassen: das geistigere Scheinen im Kunstwerk, das Verhalten des Künstlers und Zuschauers. Die Bezeich-
Vischer's Aesthetik. 3. Band. 36
raſch entzündet ſich das Subjective in ihm mit dem Subjectiven im Zu- ſchauer zu Einer Flamme. Das Allgemeine, der Inhalt im Werke, hat ferner nicht nur die Form der Perſönlichkeit, die das Individuelle bis zu zarter Grenze ausſcheidet, ſondern der ganzen individuellen Perſönlichkeit angenommen, die mich vertraut anſchaut als Fleiſch von meinem Fleiſch und Bein von meinem Bein und mit dem Blicke des Herzens, der da ſagt: wir verſtehen uns; ich „muß nicht mich ſelbſt vergeſſen“ (Hegel Aeſth. 3. S. 18), wie dem Sculpturbild gegenüber, das, ſelbſt ein feinſter Auszug der Vielheit, die empiriſch Vielen als Stoff hinter ſich läßt und ebendaher als Zuſchauer zuerſt abweist, um ſie erſt, nachdem ſie ſich über ſich ſelbſt erhoben, zu vertrauter Annäherung zuzulaſſen. Alles Schöne iſt anmuthig im Sinn einer harmoniebildenden Bewegung nach dem Zu- ſchauer hin (vergl. §. 72); alles wahrhaft Schöne weist die Aftergeſtalt dieſer Bewegung, die in einem liebäugelnden Reize beſteht, ſtreng von ſich; das Werk der Bildnerkunſt behauptet dieſe Strenge in dem Grade, daß auch die wahre Anmuth ſich dem erſten Blick hinter eine ſpröde Schaale ver- ſchließt; das Gemälde läßt die Anmuth raſcher aus weicher Schaale nach dem Zuſchauer hinüberwallen. Die innigere Betheiligung des Zuſchauers hat aber wie die freiere Subjectivität im Künſtler noch die andere Seite, daß er ſich in der Beſonderheit individueller Vorliebe mehr gehen laſſen darf. Er mag freier wählen zwiſchen verſchiedenen Auffaſſungen deſſelben Gegenſtands oder Moments, aus der größeren Menge des Gegebenen vor- ziehen, was ihm überhaupt oder in der Stimmung des Augenblicks mehr zuſagt. Die Wahrheit, daß das Intereſſe vom äſthetiſchen Eindruck aus- geſchloſſen iſt, daß alles äſthetiſche Urtheil auf Allgemeinheit Anſpruch macht (vergl. §. 75 u. 79), bleibt dabei völlig unangetaſtet, denn ich kann mehr theoretiſch ein anerkanntes Kunſtwerk völlig anerkennen und gleich- zeitig geſtehen, daß es mich als dieſen Einzelnen weniger erfreut, als ein anderes; nur muß dieß Andere auch ein wahres Kunſtwerk ſein, darf in der Form-Vollendung nicht zurückſtehen. Iſt das Letztere der Fall, ſo muß meine Vorliebe wenigſtens mit dem Zuſatze ſich ausſprechen: der Auffaſſung nach gefiele mir dieß beſſer, ich bedaure nur, daß es nicht mehr reinen Kunſtwerth in der Ausführung hat, ich bedaure es aber allerdings mehr, als ich es bei jenem anerkannten Kunſtwerk anderer Auffaſſung bedauern würde, wenn ihm die Vollendung fehlte. Alſo auch nach dieſer Seite iſt die Malerei mehr demokratiſch, den Einzelnen berech- tigend und vermag nach ihrer erklärlich größeren Fruchtbarkeit Koſtgänger der verſchiedenſten Art zu ſpeiſen. Im Begriffe des Bewegten, den dieſer §., nachdem er ſchon bisher öfters hervorgetreten, mit Nachdruck ausſpricht, können wir wirklich Alles zuſammenfaſſen: das geiſtigere Scheinen im Kunſtwerk, das Verhalten des Künſtlers und Zuſchauers. Die Bezeich-
Viſcher’s Aeſthetik. 3. Band. 36
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raſch entzündet ſich das Subjective in ihm mit dem Subjectiven im Zu-
ſchauer zu Einer Flamme. Das Allgemeine, der Inhalt im Werke, hat
ferner nicht nur die Form der Perſönlichkeit, die das Individuelle bis zu
zarter Grenze ausſcheidet, ſondern der ganzen individuellen Perſönlichkeit
angenommen, die mich vertraut anſchaut als Fleiſch von meinem Fleiſch
und Bein von meinem Bein und mit dem Blicke des Herzens, der da
ſagt: wir verſtehen uns; ich „muß nicht mich ſelbſt vergeſſen“ (Hegel
Aeſth. 3. S. 18), wie dem Sculpturbild gegenüber, das, ſelbſt ein feinſter
Auszug der Vielheit, die empiriſch Vielen als Stoff hinter ſich läßt und
ebendaher als Zuſchauer zuerſt abweist, um ſie erſt, nachdem ſie ſich über
ſich ſelbſt erhoben, zu vertrauter Annäherung zuzulaſſen. Alles Schöne
iſt anmuthig im Sinn einer harmoniebildenden Bewegung nach dem Zu-
ſchauer hin (vergl. §. 72); alles wahrhaft Schöne weist die Aftergeſtalt
dieſer Bewegung, die in einem liebäugelnden Reize beſteht, ſtreng von ſich;
das Werk der Bildnerkunſt behauptet dieſe Strenge in dem Grade, daß
auch die wahre Anmuth ſich dem erſten Blick hinter eine ſpröde Schaale ver-
ſchließt; das Gemälde läßt die Anmuth raſcher aus weicher Schaale nach
dem Zuſchauer hinüberwallen. Die innigere Betheiligung des Zuſchauers
hat aber wie die freiere Subjectivität im Künſtler noch die andere Seite,
daß er ſich in der Beſonderheit individueller Vorliebe mehr gehen laſſen
darf. Er mag freier wählen zwiſchen verſchiedenen Auffaſſungen deſſelben
Gegenſtands oder Moments, aus der größeren Menge des Gegebenen vor-
ziehen, was ihm überhaupt oder in der Stimmung des Augenblicks mehr
zuſagt. Die Wahrheit, daß das Intereſſe vom äſthetiſchen Eindruck aus-
geſchloſſen iſt, daß alles äſthetiſche Urtheil auf Allgemeinheit Anſpruch macht
(vergl. §. 75 u. 79), bleibt dabei völlig unangetaſtet, denn ich kann
mehr theoretiſch ein anerkanntes Kunſtwerk völlig anerkennen und gleich-
zeitig geſtehen, daß es mich als dieſen Einzelnen weniger erfreut, als ein
anderes; nur muß dieß Andere auch ein wahres Kunſtwerk ſein, darf in
der Form-Vollendung nicht zurückſtehen. Iſt das Letztere der Fall, ſo
muß meine Vorliebe wenigſtens mit dem Zuſatze ſich ausſprechen: der
Auffaſſung nach gefiele mir dieß beſſer, ich bedaure nur, daß es nicht
mehr reinen Kunſtwerth in der Ausführung hat, ich bedaure es aber
allerdings mehr, als ich es bei jenem anerkannten Kunſtwerk anderer
Auffaſſung bedauern würde, wenn ihm die Vollendung fehlte. Alſo auch
nach dieſer Seite iſt die Malerei mehr demokratiſch, den Einzelnen berech-
tigend und vermag nach ihrer erklärlich größeren Fruchtbarkeit Koſtgänger
der verſchiedenſten Art zu ſpeiſen. Im Begriffe des Bewegten, den dieſer
§., nachdem er ſchon bisher öfters hervorgetreten, mit Nachdruck ausſpricht,
können wir wirklich Alles zuſammenfaſſen: das geiſtigere Scheinen im
Kunſtwerk, das Verhalten des Künſtlers und Zuſchauers. Die Bezeich-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 537. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/45>, abgerufen am 16.07.2024.
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