baren Uebergänge ineinander, das ganze Reich der gebrochenen Farbe zu ent- wickeln und die gesammte Farben-Erscheinung so zu verarbeiten, daß alle Farbe als Kochungsproduct der innern Stimmung des Gegenstands erscheint.
Nunmehr tritt der dem vorhergehenden entgegengesetzte Grundsatz auf, ohne daß darum ein Widerspruch entstünde. Die Brechung der Farbe ist mit der Entschiedenheit vollkommen verträglich. Auch dieß erhellt aus keinem Beispiele deutlicher, als dem des menschlichen Incarnats, das wir schon zum vorh. §. für die entgegengesetzte Forderung benützt haben. Das Incarnat (vergl. §. 318, 2.) ist als "ideelles Ineinander aller Haupt- farben" (Hegel Aesth. B. 3. S. 71) das berühmte Kreuz des Malers; vermeidet er das Verschwommene und sucht Entschiedenheit der Farbe, wie wir zuerst verlangten, so geräth er von der "grünen Seife" leicht in das Ziegelroth der "Krebssuppe" und sündigt so gegen das, was wir jetzt verlangen. Aber die großen Meister haben die Scylla und Charybdis vermieden: in welch' kraftvoller Gold-Gluth leuchtet das Fleisch bei einem Giorgione und Titian und wie durchdringen sich doch darin wunderbar alle Farben! Zunächst bleibt nun die Natur das nicht genug zu studirende Vorbild des unendlichen Reichs von Nüancen in der Farbe, aber sie stellt neben das Feinste auch das Grelle. Die Aufgabe ist also, diese Grellheit sowie gleichzeitig die rohe Stoff-Härte des Farbenmaterials zu bewältigen. Es wird aus beiden Gründen die Farbe im Kunstwerk immer durchgängig gedämpfter, zurückgehaltener erscheinen, als in der Natur. Wenn diese große Meisterin im Ueberleiten, Vermitteln, Abdämpfen der Farben nicht dafür sorgt, daß nicht aus dem harmonisch Gedämpften da und dort ein greller Ton herausschreie, so stört dieß in ihrem intensiv lebhaften Licht- reiche nicht, im Kunstwerk aber würde es nothwendig stören; wie denn z. B. das erste Grün der Wiesen im Frühling in der wirklichen Landschaft dem Auge höchst erfreulich ist, im Gemälde aber, wo es irgend in einiger Breite sich hervorthun würde, abgedämpft werden muß. Es führt dieß auf einen weiteren Punct, wodurch nun die betref- fende Anmerkung zu §. 669, 2. wieder aufgenommen wird. Wie nämlich die Unerreichbarkeit des wirklichen Lichts schon in der Licht- und Schatten- gebung einen tieferen Ton für das Ganze verlangt (vergl. §. 465, 2.), so auch bei der Vereinigung von Licht und Farbe; dieselbe Aufgabe kehrt auch hier wieder, aber nun erst tritt sie in ihre ganze Bedeutung ein. So gilt denn auch hier das Gesetz: was an sich nicht zu erreichen ist, das muß durch dasselbe Verhältniß bei anderer Scala erreicht werden: ein Lichtstrahl, ein glänzendes Auge, Wasser im Strahl der Sonne, schimmern- des Metall und Gestein kann nicht in der Intensität wie in der Natur gegeben werden, aber die tiefere Abtonung des Umgebenden, schließlich
baren Uebergänge ineinander, das ganze Reich der gebrochenen Farbe zu ent- wickeln und die geſammte Farben-Erſcheinung ſo zu verarbeiten, daß alle Farbe als Kochungsproduct der innern Stimmung des Gegenſtands erſcheint.
Nunmehr tritt der dem vorhergehenden entgegengeſetzte Grundſatz auf, ohne daß darum ein Widerſpruch entſtünde. Die Brechung der Farbe iſt mit der Entſchiedenheit vollkommen verträglich. Auch dieß erhellt aus keinem Beiſpiele deutlicher, als dem des menſchlichen Incarnats, das wir ſchon zum vorh. §. für die entgegengeſetzte Forderung benützt haben. Das Incarnat (vergl. §. 318, 2.) iſt als „ideelles Ineinander aller Haupt- farben“ (Hegel Aeſth. B. 3. S. 71) das berühmte Kreuz des Malers; vermeidet er das Verſchwommene und ſucht Entſchiedenheit der Farbe, wie wir zuerſt verlangten, ſo geräth er von der „grünen Seife“ leicht in das Ziegelroth der „Krebsſuppe“ und ſündigt ſo gegen das, was wir jetzt verlangen. Aber die großen Meiſter haben die Scylla und Charybdis vermieden: in welch’ kraftvoller Gold-Gluth leuchtet das Fleiſch bei einem Giorgione und Titian und wie durchdringen ſich doch darin wunderbar alle Farben! Zunächſt bleibt nun die Natur das nicht genug zu ſtudirende Vorbild des unendlichen Reichs von Nüancen in der Farbe, aber ſie ſtellt neben das Feinſte auch das Grelle. Die Aufgabe iſt alſo, dieſe Grellheit ſowie gleichzeitig die rohe Stoff-Härte des Farbenmaterials zu bewältigen. Es wird aus beiden Gründen die Farbe im Kunſtwerk immer durchgängig gedämpfter, zurückgehaltener erſcheinen, als in der Natur. Wenn dieſe große Meiſterin im Ueberleiten, Vermitteln, Abdämpfen der Farben nicht dafür ſorgt, daß nicht aus dem harmoniſch Gedämpften da und dort ein greller Ton herausſchreie, ſo ſtört dieß in ihrem intenſiv lebhaften Licht- reiche nicht, im Kunſtwerk aber würde es nothwendig ſtören; wie denn z. B. das erſte Grün der Wieſen im Frühling in der wirklichen Landſchaft dem Auge höchſt erfreulich iſt, im Gemälde aber, wo es irgend in einiger Breite ſich hervorthun würde, abgedämpft werden muß. Es führt dieß auf einen weiteren Punct, wodurch nun die betref- fende Anmerkung zu §. 669, 2. wieder aufgenommen wird. Wie nämlich die Unerreichbarkeit des wirklichen Lichts ſchon in der Licht- und Schatten- gebung einen tieferen Ton für das Ganze verlangt (vergl. §. 465, 2.), ſo auch bei der Vereinigung von Licht und Farbe; dieſelbe Aufgabe kehrt auch hier wieder, aber nun erſt tritt ſie in ihre ganze Bedeutung ein. So gilt denn auch hier das Geſetz: was an ſich nicht zu erreichen iſt, das muß durch daſſelbe Verhältniß bei anderer Scala erreicht werden: ein Lichtſtrahl, ein glänzendes Auge, Waſſer im Strahl der Sonne, ſchimmern- des Metall und Geſtein kann nicht in der Intenſität wie in der Natur gegeben werden, aber die tiefere Abtonung des Umgebenden, ſchließlich
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[567/0075]
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als Kochungsproduct der innern Stimmung des Gegenſtands erſcheint.
Nunmehr tritt der dem vorhergehenden entgegengeſetzte Grundſatz auf,
ohne daß darum ein Widerſpruch entſtünde. Die Brechung der Farbe iſt
mit der Entſchiedenheit vollkommen verträglich. Auch dieß erhellt aus
keinem Beiſpiele deutlicher, als dem des menſchlichen Incarnats, das wir
ſchon zum vorh. §. für die entgegengeſetzte Forderung benützt haben. Das
Incarnat (vergl. §. 318, 2.) iſt als „ideelles Ineinander aller Haupt-
farben“ (Hegel Aeſth. B. 3. S. 71) das berühmte Kreuz des Malers;
vermeidet er das Verſchwommene und ſucht Entſchiedenheit der Farbe, wie
wir zuerſt verlangten, ſo geräth er von der „grünen Seife“ leicht in das
Ziegelroth der „Krebsſuppe“ und ſündigt ſo gegen das, was wir jetzt
verlangen. Aber die großen Meiſter haben die Scylla und Charybdis
vermieden: in welch’ kraftvoller Gold-Gluth leuchtet das Fleiſch bei einem
Giorgione und Titian und wie durchdringen ſich doch darin wunderbar
alle Farben! Zunächſt bleibt nun die Natur das nicht genug zu ſtudirende
Vorbild des unendlichen Reichs von Nüancen in der Farbe, aber ſie ſtellt
neben das Feinſte auch das Grelle. Die Aufgabe iſt alſo, dieſe Grellheit
ſowie gleichzeitig die rohe Stoff-Härte des Farbenmaterials zu bewältigen.
Es wird aus beiden Gründen die Farbe im Kunſtwerk immer durchgängig
gedämpfter, zurückgehaltener erſcheinen, als in der Natur. Wenn dieſe
große Meiſterin im Ueberleiten, Vermitteln, Abdämpfen der Farben nicht
dafür ſorgt, daß nicht aus dem harmoniſch Gedämpften da und dort ein
greller Ton herausſchreie, ſo ſtört dieß in ihrem intenſiv lebhaften Licht-
reiche nicht, im Kunſtwerk aber würde es nothwendig ſtören; wie
denn z. B. das erſte Grün der Wieſen im Frühling in der wirklichen
Landſchaft dem Auge höchſt erfreulich iſt, im Gemälde aber, wo es
irgend in einiger Breite ſich hervorthun würde, abgedämpft werden
muß. Es führt dieß auf einen weiteren Punct, wodurch nun die betref-
fende Anmerkung zu §. 669, 2. wieder aufgenommen wird. Wie nämlich
die Unerreichbarkeit des wirklichen Lichts ſchon in der Licht- und Schatten-
gebung einen tieferen Ton für das Ganze verlangt (vergl. §. 465, 2.), ſo
auch bei der Vereinigung von Licht und Farbe; dieſelbe Aufgabe kehrt
auch hier wieder, aber nun erſt tritt ſie in ihre ganze Bedeutung ein. So
gilt denn auch hier das Geſetz: was an ſich nicht zu erreichen iſt, das
muß durch daſſelbe Verhältniß bei anderer Scala erreicht werden: ein
Lichtſtrahl, ein glänzendes Auge, Waſſer im Strahl der Sonne, ſchimmern-
des Metall und Geſtein kann nicht in der Intenſität wie in der Natur
gegeben werden, aber die tiefere Abtonung des Umgebenden, ſchließlich
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,3. Stuttgart, 1854, S. 567. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030203_1854/75>, abgerufen am 16.07.2024.
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