Uebergänge aus Moll in Dur und zwar in eine sonst auf verschiedener Höhe stehende Durleiter und umgekehrt möglich macht.
2. Die ältere Musik trennte noch nicht zwischen Tongeschlecht, Tonart, Tonleiter; sie stellte ihre Tonweisen als feste Typen neben einander; sie machte jede Stufe der Cscala (h ausgenommen, weil h d f mit seinen zwei kleinen Terzen keinen Drei-, weder Dur- noch Molldreiklang ergibt) zu einer eigenen besondern Tonweise, die Scala spaltete sich für sie in verschiedene Klanggeschlechter, die nur beschränkter Combinationen unter einander fähig waren; doch konnte schon damals jede Tonart auch aufwärts oder abwärts um ein Quartenintervall, z. B. die ionische Tonart (C) nach f (hyperionisch) oder g (hypoionisch), ja bereits auch ausnahmsweise auf sonstige Stufen der Leiter willkürlich verlegt werden. Die neuere Musik hat mit Recht alle diese Schranken vollkommen abgeworfen, sie gestattet auf jeder Stufe des Tonsystems auch jedes Tongeschlecht, Dur wie Moll, aufzubauen; die musikalische Bewegung wird hiedurch, sowie durch ein Accordsystem, das die Uebergänge erleichtert und vermannigfaltigt, weit freier und belebter; die Musik kann so nach Belieben Dur und Moll auf höhern oder niedern Tonstufen ertönen lassen und ebenso innerhalb des einzelnen Tonwerks die vielfältigsten Uebergänge, Ausweichungen, "Modulationen" in nähere oder entferntere, verwandte oder disparate Tonarten des einen oder andern Klanggeschlechts vornehmen; das jetzige Tonsystem erst ist ein ebenso bunt mannigfaltiges als flüssiges Material, dessen Elemente eine nicht zu berech- nende Menge der verschiedenartigsten Abwechslungen und Verschlingungen gestatten, ohne den Künstler durch irgend ein anderes Gesetz als durch das des Wohlklangs sowie der Faßlichkeit, Stetigkeit, Natürlichkeit, Motivirtheit des Fortgangs zu binden. Kurz die freie Auswahl und Gegenüberstellung der Tonarten und ihre Combinirung oder die Modulation ist in der neuern Musik mit Recht in den Vordergrund getreten; an ihr hauptsächlich hat sie ein formelles Element charakteristischer und lebendiger Mannigfaltigkeit er- rungen, das ihr eine Art von Ersatz gewährt für die ihr sonst abgehende concrete Gestaltenfülle. Der Contrast der Tonarten mehrerer Tonsätze und ihr Wechsel innerhalb des einzelnen Tonsatzes ist der Wirkung nach mit nichts besser zu vergleichen als mit einem Contrast und Wechsel von Scenen und Scenerien, die an dem Auge des Zuschauers vorübergehen; die Musik führt uns mit ihrem Tonartenwechsel herum in verschiedenen Regionen des Tonsystems, deren jede uns wieder anders als die vorhergehende anspricht, sie führt uns oft in einfacherem Gange blos von einer Tonart zu einer nächstverwandten, so daß der Wechsel weniger bemerkbar wird, sie versetzt uns aber ebenso leicht mit einem Male oder mittelst Uebergängen, die schnell von der Grundtonart weiter abführen, hinein in Tongänge, welche ganz neu, ja fremdartig klingen, wie eine Episode, die dem Ganzen doch Reiz
Uebergänge aus Moll in Dur und zwar in eine ſonſt auf verſchiedener Höhe ſtehende Durleiter und umgekehrt möglich macht.
2. Die ältere Muſik trennte noch nicht zwiſchen Tongeſchlecht, Tonart, Tonleiter; ſie ſtellte ihre Tonweiſen als feſte Typen neben einander; ſie machte jede Stufe der Cſcala (h ausgenommen, weil h d f mit ſeinen zwei kleinen Terzen keinen Drei-, weder Dur- noch Molldreiklang ergibt) zu einer eigenen beſondern Tonweiſe, die Scala ſpaltete ſich für ſie in verſchiedene Klanggeſchlechter, die nur beſchränkter Combinationen unter einander fähig waren; doch konnte ſchon damals jede Tonart auch aufwärts oder abwärts um ein Quartenintervall, z. B. die ioniſche Tonart (C) nach f (hyperioniſch) oder g (hypoioniſch), ja bereits auch ausnahmsweiſe auf ſonſtige Stufen der Leiter willkürlich verlegt werden. Die neuere Muſik hat mit Recht alle dieſe Schranken vollkommen abgeworfen, ſie geſtattet auf jeder Stufe des Tonſyſtems auch jedes Tongeſchlecht, Dur wie Moll, aufzubauen; die muſikaliſche Bewegung wird hiedurch, ſowie durch ein Accordſyſtem, das die Uebergänge erleichtert und vermannigfaltigt, weit freier und belebter; die Muſik kann ſo nach Belieben Dur und Moll auf höhern oder niedern Tonſtufen ertönen laſſen und ebenſo innerhalb des einzelnen Tonwerks die vielfältigſten Uebergänge, Ausweichungen, „Modulationen“ in nähere oder entferntere, verwandte oder diſparate Tonarten des einen oder andern Klanggeſchlechts vornehmen; das jetzige Tonſyſtem erſt iſt ein ebenſo bunt mannigfaltiges als flüſſiges Material, deſſen Elemente eine nicht zu berech- nende Menge der verſchiedenartigſten Abwechslungen und Verſchlingungen geſtatten, ohne den Künſtler durch irgend ein anderes Geſetz als durch das des Wohlklangs ſowie der Faßlichkeit, Stetigkeit, Natürlichkeit, Motivirtheit des Fortgangs zu binden. Kurz die freie Auswahl und Gegenüberſtellung der Tonarten und ihre Combinirung oder die Modulation iſt in der neuern Muſik mit Recht in den Vordergrund getreten; an ihr hauptſächlich hat ſie ein formelles Element charakteriſtiſcher und lebendiger Mannigfaltigkeit er- rungen, das ihr eine Art von Erſatz gewährt für die ihr ſonſt abgehende concrete Geſtaltenfülle. Der Contraſt der Tonarten mehrerer Tonſätze und ihr Wechſel innerhalb des einzelnen Tonſatzes iſt der Wirkung nach mit nichts beſſer zu vergleichen als mit einem Contraſt und Wechſel von Scenen und Scenerien, die an dem Auge des Zuſchauers vorübergehen; die Muſik führt uns mit ihrem Tonartenwechſel herum in verſchiedenen Regionen des Tonſyſtems, deren jede uns wieder anders als die vorhergehende anſpricht, ſie führt uns oft in einfacherem Gange blos von einer Tonart zu einer nächſtverwandten, ſo daß der Wechſel weniger bemerkbar wird, ſie verſetzt uns aber ebenſo leicht mit einem Male oder mittelſt Uebergängen, die ſchnell von der Grundtonart weiter abführen, hinein in Tongänge, welche ganz neu, ja fremdartig klingen, wie eine Epiſode, die dem Ganzen doch Reiz
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[875/0113]
Uebergänge aus Moll in Dur und zwar in eine ſonſt auf verſchiedener
Höhe ſtehende Durleiter und umgekehrt möglich macht.
2. Die ältere Muſik trennte noch nicht zwiſchen Tongeſchlecht, Tonart,
Tonleiter; ſie ſtellte ihre Tonweiſen als feſte Typen neben einander; ſie
machte jede Stufe der Cſcala (h ausgenommen, weil h d f mit ſeinen zwei
kleinen Terzen keinen Drei-, weder Dur- noch Molldreiklang ergibt) zu einer
eigenen beſondern Tonweiſe, die Scala ſpaltete ſich für ſie in verſchiedene
Klanggeſchlechter, die nur beſchränkter Combinationen unter einander fähig
waren; doch konnte ſchon damals jede Tonart auch aufwärts oder abwärts
um ein Quartenintervall, z. B. die ioniſche Tonart (C) nach f (hyperioniſch)
oder g (hypoioniſch), ja bereits auch ausnahmsweiſe auf ſonſtige Stufen
der Leiter willkürlich verlegt werden. Die neuere Muſik hat mit Recht alle
dieſe Schranken vollkommen abgeworfen, ſie geſtattet auf jeder Stufe des
Tonſyſtems auch jedes Tongeſchlecht, Dur wie Moll, aufzubauen; die
muſikaliſche Bewegung wird hiedurch, ſowie durch ein Accordſyſtem, das die
Uebergänge erleichtert und vermannigfaltigt, weit freier und belebter; die
Muſik kann ſo nach Belieben Dur und Moll auf höhern oder niedern
Tonſtufen ertönen laſſen und ebenſo innerhalb des einzelnen Tonwerks die
vielfältigſten Uebergänge, Ausweichungen, „Modulationen“ in nähere oder
entferntere, verwandte oder diſparate Tonarten des einen oder andern
Klanggeſchlechts vornehmen; das jetzige Tonſyſtem erſt iſt ein ebenſo bunt
mannigfaltiges als flüſſiges Material, deſſen Elemente eine nicht zu berech-
nende Menge der verſchiedenartigſten Abwechslungen und Verſchlingungen
geſtatten, ohne den Künſtler durch irgend ein anderes Geſetz als durch das
des Wohlklangs ſowie der Faßlichkeit, Stetigkeit, Natürlichkeit, Motivirtheit
des Fortgangs zu binden. Kurz die freie Auswahl und Gegenüberſtellung
der Tonarten und ihre Combinirung oder die Modulation iſt in der neuern
Muſik mit Recht in den Vordergrund getreten; an ihr hauptſächlich hat ſie
ein formelles Element charakteriſtiſcher und lebendiger Mannigfaltigkeit er-
rungen, das ihr eine Art von Erſatz gewährt für die ihr ſonſt abgehende
concrete Geſtaltenfülle. Der Contraſt der Tonarten mehrerer Tonſätze und
ihr Wechſel innerhalb des einzelnen Tonſatzes iſt der Wirkung nach mit
nichts beſſer zu vergleichen als mit einem Contraſt und Wechſel von Scenen
und Scenerien, die an dem Auge des Zuſchauers vorübergehen; die Muſik
führt uns mit ihrem Tonartenwechſel herum in verſchiedenen Regionen des
Tonſyſtems, deren jede uns wieder anders als die vorhergehende anſpricht,
ſie führt uns oft in einfacherem Gange blos von einer Tonart zu einer
nächſtverwandten, ſo daß der Wechſel weniger bemerkbar wird, ſie verſetzt
uns aber ebenſo leicht mit einem Male oder mittelſt Uebergängen, die ſchnell
von der Grundtonart weiter abführen, hinein in Tongänge, welche ganz
neu, ja fremdartig klingen, wie eine Epiſode, die dem Ganzen doch Reiz
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 875. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/113>, abgerufen am 21.11.2024.
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