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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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Verklingen, da Ungleichförmigkeit ein Abbrechen einer bereits eingeschlagenen
Richtung und somit eine nur mit Sträuben und Widerwillen aufgenommene
Störung ist, wogegen fortgesetzte Gleichförmigkeit der Bewegung den Genuß
gewährt, einer Erregungsweise, die einmal angeschlagen ist, nun ein für
allemal, bis das Ganze zu Ende ist, frei zu folgen und sich hinzugeben,
ohne jeden Augenblick wieder aus ihr durch ein anderes Maaß heraus-
geschnellt zu werden; -- sie liegt ebensowenig im Wesen des Geistes; nur
eine Empfindsamkeit, die in Einzelheiten sich verliert, kann die nicht geregelte
Bewegung der geregelten schlechthin vorziehen, die geregelte ist einerseits in
Wahrheit die freiere, da wir eine nach festem Maaße vor sich gehende Be-
wegung leichter fassen und überschauen, sie ist andererseits die gemessenere
und damit kräftigere Art der Bewegung, die das Einzelne nicht einseitig
für sich hervortreten läßt, sondern es dem Ganzen unterordnet. Wir können
daher in die Lobsprüche, die z. B. Krause dem "wandelnden freien Zeitmaaß"
spendet, nicht einstimmen; wir müssen vielmehr, ohne die Bedeutung, die
der freie Rhythmus besonders für declamatorische Musik hat, irgend zu ver-
kennen, darauf beharren, daß gleichförmiges Zeitmaaß, wie es im Takte sich
realisirt, die höchste Form des Rhythmus ist, welche die Musik davor be-
wahrt, in eine verschwommene Empfindungsmalerei zu verfallen; die Musik
ist nicht die unbestimmt aufundabwogende Empfindung selbst, sondern ihre
künstlerische Darstellung, ihre objective Verkörperung, sie würde ohne gleich-
mäßig beharrenden Rhythmus gerade diese Objectivität verlieren und in
das Empfindungsleben selbst unterschiedslos zurückfallen, statt es klar und
gesetzmäßig zu veranschaulichen. Eine gewisse ebenmäßige Bewegung ist
natürlich dem "Aufundab" der Empfindung nicht schlechthin fremd (§. 754),
auch die Empfindung ist ein in einem schnellern oder langsamern Zeitmaaß
gleichförmig fortgehendes Erzittern, Pulsiren des Gemüthslebens; aber für
das Bewußtsein ist dieses Maaß nicht da, die bewußte Empfindung hängt
an den Gegenständen, die sie erregen, folgt regellos den Gefühlen und
Phantasien nach, die in ihr angeregt sind, verliert sich an Dieß und Jenes,
eilt schnell wieder zu Anderem fort; dieses Ungeregelte sucht die Musik
symmetrisch zu gliedern, sie bringt den Wechsel der Gefühle in den Rahmen
eines ganz bestimmten Zeitmaaßes, sie hebt diesen im Gefühl selbst innerlich
auch waltenden, aber ihm verborgenen regelmäßigen Rhythmus an's Licht
des Bewußtseins heraus, sie ordnet die Einzelempfindungen in diese allge-
meine Form des Gefühlslebens, sie wäre nicht mehr Kunst, wenn sie nicht
mit dem Einzelnen zugleich sein allgemeines Wesen zur Anschauung und
damit zugleich in das Einzelne Ordnung und Regel bringen wollte; wie
der Ton erst entsteht durch regelmäßige Schwingungen, so die eigentliche
Tonkunst erst mit der Regelmäßigkeit des Taktzeitmaaßes, die Allem in ihr
festen Halt gibt und dadurch zugleich sie selbst von der Gebundenheit an

Vischer's Aesthetik. 4. Band. 59

Verklingen, da Ungleichförmigkeit ein Abbrechen einer bereits eingeſchlagenen
Richtung und ſomit eine nur mit Sträuben und Widerwillen aufgenommene
Störung iſt, wogegen fortgeſetzte Gleichförmigkeit der Bewegung den Genuß
gewährt, einer Erregungsweiſe, die einmal angeſchlagen iſt, nun ein für
allemal, bis das Ganze zu Ende iſt, frei zu folgen und ſich hinzugeben,
ohne jeden Augenblick wieder aus ihr durch ein anderes Maaß heraus-
geſchnellt zu werden; — ſie liegt ebenſowenig im Weſen des Geiſtes; nur
eine Empfindſamkeit, die in Einzelheiten ſich verliert, kann die nicht geregelte
Bewegung der geregelten ſchlechthin vorziehen, die geregelte iſt einerſeits in
Wahrheit die freiere, da wir eine nach feſtem Maaße vor ſich gehende Be-
wegung leichter faſſen und überſchauen, ſie iſt andererſeits die gemeſſenere
und damit kräftigere Art der Bewegung, die das Einzelne nicht einſeitig
für ſich hervortreten läßt, ſondern es dem Ganzen unterordnet. Wir können
daher in die Lobſprüche, die z. B. Krauſe dem „wandelnden freien Zeitmaaß“
ſpendet, nicht einſtimmen; wir müſſen vielmehr, ohne die Bedeutung, die
der freie Rhythmus beſonders für declamatoriſche Muſik hat, irgend zu ver-
kennen, darauf beharren, daß gleichförmiges Zeitmaaß, wie es im Takte ſich
realiſirt, die höchſte Form des Rhythmus iſt, welche die Muſik davor be-
wahrt, in eine verſchwommene Empfindungsmalerei zu verfallen; die Muſik
iſt nicht die unbeſtimmt aufundabwogende Empfindung ſelbſt, ſondern ihre
künſtleriſche Darſtellung, ihre objective Verkörperung, ſie würde ohne gleich-
mäßig beharrenden Rhythmus gerade dieſe Objectivität verlieren und in
das Empfindungsleben ſelbſt unterſchiedslos zurückfallen, ſtatt es klar und
geſetzmäßig zu veranſchaulichen. Eine gewiſſe ebenmäßige Bewegung iſt
natürlich dem „Aufundab“ der Empfindung nicht ſchlechthin fremd (§. 754),
auch die Empfindung iſt ein in einem ſchnellern oder langſamern Zeitmaaß
gleichförmig fortgehendes Erzittern, Pulſiren des Gemüthslebens; aber für
das Bewußtſein iſt dieſes Maaß nicht da, die bewußte Empfindung hängt
an den Gegenſtänden, die ſie erregen, folgt regellos den Gefühlen und
Phantaſien nach, die in ihr angeregt ſind, verliert ſich an Dieß und Jenes,
eilt ſchnell wieder zu Anderem fort; dieſes Ungeregelte ſucht die Muſik
ſymmetriſch zu gliedern, ſie bringt den Wechſel der Gefühle in den Rahmen
eines ganz beſtimmten Zeitmaaßes, ſie hebt dieſen im Gefühl ſelbſt innerlich
auch waltenden, aber ihm verborgenen regelmäßigen Rhythmus an’s Licht
des Bewußtſeins heraus, ſie ordnet die Einzelempfindungen in dieſe allge-
meine Form des Gefühlslebens, ſie wäre nicht mehr Kunſt, wenn ſie nicht
mit dem Einzelnen zugleich ſein allgemeines Weſen zur Anſchauung und
damit zugleich in das Einzelne Ordnung und Regel bringen wollte; wie
der Ton erſt entſteht durch regelmäßige Schwingungen, ſo die eigentliche
Tonkunſt erſt mit der Regelmäßigkeit des Taktzeitmaaßes, die Allem in ihr
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Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 59
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[903/0141] Verklingen, da Ungleichförmigkeit ein Abbrechen einer bereits eingeſchlagenen Richtung und ſomit eine nur mit Sträuben und Widerwillen aufgenommene Störung iſt, wogegen fortgeſetzte Gleichförmigkeit der Bewegung den Genuß gewährt, einer Erregungsweiſe, die einmal angeſchlagen iſt, nun ein für allemal, bis das Ganze zu Ende iſt, frei zu folgen und ſich hinzugeben, ohne jeden Augenblick wieder aus ihr durch ein anderes Maaß heraus- geſchnellt zu werden; — ſie liegt ebenſowenig im Weſen des Geiſtes; nur eine Empfindſamkeit, die in Einzelheiten ſich verliert, kann die nicht geregelte Bewegung der geregelten ſchlechthin vorziehen, die geregelte iſt einerſeits in Wahrheit die freiere, da wir eine nach feſtem Maaße vor ſich gehende Be- wegung leichter faſſen und überſchauen, ſie iſt andererſeits die gemeſſenere und damit kräftigere Art der Bewegung, die das Einzelne nicht einſeitig für ſich hervortreten läßt, ſondern es dem Ganzen unterordnet. Wir können daher in die Lobſprüche, die z. B. Krauſe dem „wandelnden freien Zeitmaaß“ ſpendet, nicht einſtimmen; wir müſſen vielmehr, ohne die Bedeutung, die der freie Rhythmus beſonders für declamatoriſche Muſik hat, irgend zu ver- kennen, darauf beharren, daß gleichförmiges Zeitmaaß, wie es im Takte ſich realiſirt, die höchſte Form des Rhythmus iſt, welche die Muſik davor be- wahrt, in eine verſchwommene Empfindungsmalerei zu verfallen; die Muſik iſt nicht die unbeſtimmt aufundabwogende Empfindung ſelbſt, ſondern ihre künſtleriſche Darſtellung, ihre objective Verkörperung, ſie würde ohne gleich- mäßig beharrenden Rhythmus gerade dieſe Objectivität verlieren und in das Empfindungsleben ſelbſt unterſchiedslos zurückfallen, ſtatt es klar und geſetzmäßig zu veranſchaulichen. Eine gewiſſe ebenmäßige Bewegung iſt natürlich dem „Aufundab“ der Empfindung nicht ſchlechthin fremd (§. 754), auch die Empfindung iſt ein in einem ſchnellern oder langſamern Zeitmaaß gleichförmig fortgehendes Erzittern, Pulſiren des Gemüthslebens; aber für das Bewußtſein iſt dieſes Maaß nicht da, die bewußte Empfindung hängt an den Gegenſtänden, die ſie erregen, folgt regellos den Gefühlen und Phantaſien nach, die in ihr angeregt ſind, verliert ſich an Dieß und Jenes, eilt ſchnell wieder zu Anderem fort; dieſes Ungeregelte ſucht die Muſik ſymmetriſch zu gliedern, ſie bringt den Wechſel der Gefühle in den Rahmen eines ganz beſtimmten Zeitmaaßes, ſie hebt dieſen im Gefühl ſelbſt innerlich auch waltenden, aber ihm verborgenen regelmäßigen Rhythmus an’s Licht des Bewußtſeins heraus, ſie ordnet die Einzelempfindungen in dieſe allge- meine Form des Gefühlslebens, ſie wäre nicht mehr Kunſt, wenn ſie nicht mit dem Einzelnen zugleich ſein allgemeines Weſen zur Anſchauung und damit zugleich in das Einzelne Ordnung und Regel bringen wollte; wie der Ton erſt entſteht durch regelmäßige Schwingungen, ſo die eigentliche Tonkunſt erſt mit der Regelmäßigkeit des Taktzeitmaaßes, die Allem in ihr feſten Halt gibt und dadurch zugleich ſie ſelbſt von der Gebundenheit an Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 59

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 903. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/141>, abgerufen am 24.11.2024.