zu leichte, zu wenig sagende Formen sich beschränken will. Mit diesen höhern Formen haben wir es jetzt zu thun und bemerken über die Ein- theilung der ganzen Lehre vom zusammengesetzten musikalischen Kunstwerk gleich dieß zum Voraus, daß die Hauptformen desselben am richtigsten (auch der geschichtlichen Entwicklung am besten entsprechend) sich ergeben und classificiren, wenn man zunächst reflectirt auf die Form, welche die Melodie selbst annehmen kann mittelst concreter Ausbildung ihres eigenen Prinzips, d. h. durch melodische Gestaltung der Einzelstimmen, durch welche an die Stelle der einfachen Melodie ein Gewebe zusammenklingender Me- lodieen tritt, die "Polyphonie" (indem dieses Wort zur Bezeichnung einer Vielheit selbständiger, "Vielstimmigkeit" dagegen zur Bezeichnung unselb- ständig begleitender Stimmen gebraucht wird). Diese Form ist die erste, da die Melodie hier aus sich selbst nicht heraustritt, sondern nur eine mit andern Melodieen sich umgebende und in Wechselwirkung mit ihnen tretende Melodie wird. Indeß wird die speziellere Betrachtung der polyphonen Musik zeigen, daß die entwickeltern Arten derselben bereits über die bloße Melodie hinausführen zu einer Kunstform, in welcher schon längere Reihen melodischer Sätze mit einander zu einem Ganzen verflochten werden. Damit wird sich uns dann von selbst der Uebergang zu der zweiten Hauptform des zusam- mengesetzten Kunstwerks ergeben, deren Wesen dieses ist, daß eine Reihe von Melodieen und melodiösen Sätzen oder weiterhin auch mehrere solcher Reihen zusammen an die Stelle der einfachen Melodie treten; diese Form hat die einfache Melodie als Element in sich, sie kann ebenso auch die Polyphonie in sich aufnehmen, und sie ist überhaupt dasjenige Gebiet, auf welchem die Musik erst ganz frei die ganze Mannigfaltigkeit der Composition und Com- bination, der sie fähig ist, zu entwickeln vermag, daher diese Form zuletzt zu stellen ist. Einfach (homophon) melodische, polyphon melodische, ganze Reihen und Cyclen melodischer Tonstücke vereinigende Musik sind die drei Grundformen aller Tonkunst, zu denen alle weitern Gattungen von Com- positionen nur als untergeordnete Arten sich verhalten. In der homophonen Musik dominirt das Prinzip der Melodie; in der polyphonen nimmt es das der Harmonie in selbständiger Weise in sich auf, die Melodie wird hier Melodieenharmonie, harmonische Melodie; in der dritten Form handelt es sich um concretere Entwicklung der Melodie und der melodiösen Sätze, sowie um Nebeneinanderstellung melodischer und melodiöser Sätze von verschiedenem und doch innerlich zusammengehörigem Charakter, und daher wird für diese dritte Form das rhythmische Prinzip besonders wichtig; denn mannigfaltige Melodiegestaltungen sind durch Figurirung bedingt, welche letztere vor allem durch weniger einfache und gleichförmige Rhythmisirung zu Stande kommt, und ebenso ist charakteristischer und mannigfaltiger Rhythmus ein Haupt- band, das Reihen und Cyclen von Tonstücken theils gliedert, theils unter
zu leichte, zu wenig ſagende Formen ſich beſchränken will. Mit dieſen höhern Formen haben wir es jetzt zu thun und bemerken über die Ein- theilung der ganzen Lehre vom zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſtwerk gleich dieß zum Voraus, daß die Hauptformen deſſelben am richtigſten (auch der geſchichtlichen Entwicklung am beſten entſprechend) ſich ergeben und claſſificiren, wenn man zunächſt reflectirt auf die Form, welche die Melodie ſelbſt annehmen kann mittelſt concreter Ausbildung ihres eigenen Prinzips, d. h. durch melodiſche Geſtaltung der Einzelſtimmen, durch welche an die Stelle der einfachen Melodie ein Gewebe zuſammenklingender Me- lodieen tritt, die „Polyphonie“ (indem dieſes Wort zur Bezeichnung einer Vielheit ſelbſtändiger, „Vielſtimmigkeit“ dagegen zur Bezeichnung unſelb- ſtändig begleitender Stimmen gebraucht wird). Dieſe Form iſt die erſte, da die Melodie hier aus ſich ſelbſt nicht heraustritt, ſondern nur eine mit andern Melodieen ſich umgebende und in Wechſelwirkung mit ihnen tretende Melodie wird. Indeß wird die ſpeziellere Betrachtung der polyphonen Muſik zeigen, daß die entwickeltern Arten derſelben bereits über die bloße Melodie hinausführen zu einer Kunſtform, in welcher ſchon längere Reihen melodiſcher Sätze mit einander zu einem Ganzen verflochten werden. Damit wird ſich uns dann von ſelbſt der Uebergang zu der zweiten Hauptform des zuſam- mengeſetzten Kunſtwerks ergeben, deren Weſen dieſes iſt, daß eine Reihe von Melodieen und melodiöſen Sätzen oder weiterhin auch mehrere ſolcher Reihen zuſammen an die Stelle der einfachen Melodie treten; dieſe Form hat die einfache Melodie als Element in ſich, ſie kann ebenſo auch die Polyphonie in ſich aufnehmen, und ſie iſt überhaupt dasjenige Gebiet, auf welchem die Muſik erſt ganz frei die ganze Mannigfaltigkeit der Compoſition und Com- bination, der ſie fähig iſt, zu entwickeln vermag, daher dieſe Form zuletzt zu ſtellen iſt. Einfach (homophon) melodiſche, polyphon melodiſche, ganze Reihen und Cyclen melodiſcher Tonſtücke vereinigende Muſik ſind die drei Grundformen aller Tonkunſt, zu denen alle weitern Gattungen von Com- poſitionen nur als untergeordnete Arten ſich verhalten. In der homophonen Muſik dominirt das Prinzip der Melodie; in der polyphonen nimmt es das der Harmonie in ſelbſtändiger Weiſe in ſich auf, die Melodie wird hier Melodieenharmonie, harmoniſche Melodie; in der dritten Form handelt es ſich um concretere Entwicklung der Melodie und der melodiöſen Sätze, ſowie um Nebeneinanderſtellung melodiſcher und melodiöſer Sätze von verſchiedenem und doch innerlich zuſammengehörigem Charakter, und daher wird für dieſe dritte Form das rhythmiſche Prinzip beſonders wichtig; denn mannigfaltige Melodiegeſtaltungen ſind durch Figurirung bedingt, welche letztere vor allem durch weniger einfache und gleichförmige Rhythmiſirung zu Stande kommt, und ebenſo iſt charakteriſtiſcher und mannigfaltiger Rhythmus ein Haupt- band, das Reihen und Cyclen von Tonſtücken theils gliedert, theils unter
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zu leichte, zu wenig ſagende Formen ſich beſchränken will. Mit dieſen
höhern Formen haben wir es jetzt zu thun und bemerken über die Ein-
theilung der ganzen Lehre vom zuſammengeſetzten muſikaliſchen Kunſtwerk
gleich dieß zum Voraus, daß die Hauptformen deſſelben am richtigſten
(auch der geſchichtlichen Entwicklung am beſten entſprechend) ſich ergeben
und claſſificiren, wenn man zunächſt reflectirt auf die Form, welche die
Melodie ſelbſt annehmen kann mittelſt concreter Ausbildung ihres eigenen
Prinzips, d. h. durch melodiſche Geſtaltung der Einzelſtimmen, durch welche
an die Stelle der einfachen Melodie ein Gewebe zuſammenklingender Me-
lodieen tritt, die „Polyphonie“ (indem dieſes Wort zur Bezeichnung einer
Vielheit ſelbſtändiger, „Vielſtimmigkeit“ dagegen zur Bezeichnung unſelb-
ſtändig begleitender Stimmen gebraucht wird). Dieſe Form iſt die erſte,
da die Melodie hier aus ſich ſelbſt nicht heraustritt, ſondern nur eine mit
andern Melodieen ſich umgebende und in Wechſelwirkung mit ihnen tretende
Melodie wird. Indeß wird die ſpeziellere Betrachtung der polyphonen Muſik
zeigen, daß die entwickeltern Arten derſelben bereits über die bloße Melodie
hinausführen zu einer Kunſtform, in welcher ſchon längere Reihen melodiſcher
Sätze mit einander zu einem Ganzen verflochten werden. Damit wird ſich
uns dann von ſelbſt der Uebergang zu der zweiten Hauptform des zuſam-
mengeſetzten Kunſtwerks ergeben, deren Weſen dieſes iſt, daß eine Reihe von
Melodieen und melodiöſen Sätzen oder weiterhin auch mehrere ſolcher Reihen
zuſammen an die Stelle der einfachen Melodie treten; dieſe Form hat die
einfache Melodie als Element in ſich, ſie kann ebenſo auch die Polyphonie
in ſich aufnehmen, und ſie iſt überhaupt dasjenige Gebiet, auf welchem die
Muſik erſt ganz frei die ganze Mannigfaltigkeit der Compoſition und Com-
bination, der ſie fähig iſt, zu entwickeln vermag, daher dieſe Form zuletzt
zu ſtellen iſt. Einfach (homophon) melodiſche, polyphon melodiſche, ganze
Reihen und Cyclen melodiſcher Tonſtücke vereinigende Muſik ſind die drei
Grundformen aller Tonkunſt, zu denen alle weitern Gattungen von Com-
poſitionen nur als untergeordnete Arten ſich verhalten. In der homophonen
Muſik dominirt das Prinzip der Melodie; in der polyphonen nimmt es das
der Harmonie in ſelbſtändiger Weiſe in ſich auf, die Melodie wird hier
Melodieenharmonie, harmoniſche Melodie; in der dritten Form handelt es
ſich um concretere Entwicklung der Melodie und der melodiöſen Sätze, ſowie
um Nebeneinanderſtellung melodiſcher und melodiöſer Sätze von verſchiedenem
und doch innerlich zuſammengehörigem Charakter, und daher wird für dieſe
dritte Form das rhythmiſche Prinzip beſonders wichtig; denn mannigfaltige
Melodiegeſtaltungen ſind durch Figurirung bedingt, welche letztere vor allem
durch weniger einfache und gleichförmige Rhythmiſirung zu Stande kommt,
und ebenſo iſt charakteriſtiſcher und mannigfaltiger Rhythmus ein Haupt-
band, das Reihen und Cyclen von Tonſtücken theils gliedert, theils unter
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 933. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/171>, abgerufen am 04.12.2024.
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