sich besonders auch zum Schlußstück; sowohl wegen seines gehaltenern, bei Einem Gedanken sich beruhigenden, zwischen ihm und den Nebensätzen sich hinundherschaukelnden Charakters als nach Seiten der Beharrlichkeit, mit der es einen Hauptsatz stets in den Vordergrund drängt, ist es ganz dazu an- gethan, die Rolle des Schlußstücks zu übernehmen, wenn in diesem der. Sturm der Bewegung des Ganzen zu Ende gehen und sich entweder zur stillern Sammlung abklären oder sich noch einmal kräftig zu energisch wie- derholender Aussprache starker und mächtiger Empfindungen zusammenfassen soll. Umfang und spezielle Gestaltung des Einzelnen können beim Rondo als freierer Musikform sehr mannigfaltig sein. Namentlich ist große Freiheit zuläßig bei der Behandlung des Nebensatzes, welcher ebensowohl blos die Form eines unselbständigen, für sich bedeutungslosern Tonganges als die eines dem Hauptgedanken an Gewicht nahezu an die Seite rückenden "Seitensatzes" erhält, je nachdem der Gesammtcharakter des Stückes es verlangt. Desgleichen kann Ein Nebensatz genügen oder zu ihm ein zweiter hinzutreten; der Hauptgedanke kann das eine Mal mit dem ersten, das andere Mal mit dem zweiten oder auch jedesmal mit beiden zusammen auf- treten; die Nebensätze können sich erweitern, im Einzelnen sich verändern, "Zwischensätze" zwischen sich und den Hauptgedanken einschieben, und na- mentlich der Schluß kann mit dem Hauptgedanken allein oder mit einer Combination aus ihm und den Nebengedanken gemacht werden.
So naturgemäß und künstlerisch berechtigt die Rondoform ist, so haften ihr doch zwei Einseitigkeiten an, die noch zu weitern Formen forttreiben; es überwiegt in ihr die Einheit über die Mannigfaltigkeit, und die Mannig- faltigkeit, soweit sie in den Nebengedanken auftritt, ist dann doch wiederum zu frei, zu wenig unter ein bestimmtes Gesetz gestellt, zu sehr der Phantasie überlassen. Das Ueberwiegen der Einheit führt die Gefahr der Eintönigkeit und Einförmigkeit sowohl des musikalischen Inhalts als des Rhythmus mit sich; die Freiheit in der Gestaltung der Nebensätze benimmt dem Ganzen den Charakter einer streng gegliederten Kunstform, sie läßt es als ein Gedicht mit Episoden erscheinen, in welchem diese letztern einen unverhältnißmäßigen Raum einnehmen, sie gibt dem Rondo zwar den eigenthümlichen Reiz romantischpoetischer Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit, aber sie schließt es aus den Werken strengern und höhern Styles aus, daher es z. B. im Ganzen doch besser für die Concert- als für die Symphoniegattung sich eignet und in bedeutsamern Tonstücken sehr oft nicht für sich allein ange- wandt, sondern zu andern Satzformen von ihm übergegangen wird. Kurz, die Mannigfaltigkeit kommt in ihm einerseits zu kurz und macht sich andrer- seits auch wiederum zu sehr geltend auf Kosten der höhern Einheit des Gedankens. Diese Einseitigkeit hebt sich auf in zwei weitern Formen des cyclischen Kunstwerks, einmal in der Variation, und sodann in den zu
ſich beſonders auch zum Schlußſtück; ſowohl wegen ſeines gehaltenern, bei Einem Gedanken ſich beruhigenden, zwiſchen ihm und den Nebenſätzen ſich hinundherſchaukelnden Charakters als nach Seiten der Beharrlichkeit, mit der es einen Hauptſatz ſtets in den Vordergrund drängt, iſt es ganz dazu an- gethan, die Rolle des Schlußſtücks zu übernehmen, wenn in dieſem der. Sturm der Bewegung des Ganzen zu Ende gehen und ſich entweder zur ſtillern Sammlung abklären oder ſich noch einmal kräftig zu energiſch wie- derholender Ausſprache ſtarker und mächtiger Empfindungen zuſammenfaſſen ſoll. Umfang und ſpezielle Geſtaltung des Einzelnen können beim Rondo als freierer Muſikform ſehr mannigfaltig ſein. Namentlich iſt große Freiheit zuläßig bei der Behandlung des Nebenſatzes, welcher ebenſowohl blos die Form eines unſelbſtändigen, für ſich bedeutungsloſern Tonganges als die eines dem Hauptgedanken an Gewicht nahezu an die Seite rückenden „Seitenſatzes“ erhält, je nachdem der Geſammtcharakter des Stückes es verlangt. Desgleichen kann Ein Nebenſatz genügen oder zu ihm ein zweiter hinzutreten; der Hauptgedanke kann das eine Mal mit dem erſten, das andere Mal mit dem zweiten oder auch jedesmal mit beiden zuſammen auf- treten; die Nebenſätze können ſich erweitern, im Einzelnen ſich verändern, „Zwiſchenſätze“ zwiſchen ſich und den Hauptgedanken einſchieben, und na- mentlich der Schluß kann mit dem Hauptgedanken allein oder mit einer Combination aus ihm und den Nebengedanken gemacht werden.
So naturgemäß und künſtleriſch berechtigt die Rondoform iſt, ſo haften ihr doch zwei Einſeitigkeiten an, die noch zu weitern Formen forttreiben; es überwiegt in ihr die Einheit über die Mannigfaltigkeit, und die Mannig- faltigkeit, ſoweit ſie in den Nebengedanken auftritt, iſt dann doch wiederum zu frei, zu wenig unter ein beſtimmtes Geſetz geſtellt, zu ſehr der Phantaſie überlaſſen. Das Ueberwiegen der Einheit führt die Gefahr der Eintönigkeit und Einförmigkeit ſowohl des muſikaliſchen Inhalts als des Rhythmus mit ſich; die Freiheit in der Geſtaltung der Nebenſätze benimmt dem Ganzen den Charakter einer ſtreng gegliederten Kunſtform, ſie läßt es als ein Gedicht mit Epiſoden erſcheinen, in welchem dieſe letztern einen unverhältnißmäßigen Raum einnehmen, ſie gibt dem Rondo zwar den eigenthümlichen Reiz romantiſchpoetiſcher Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit, aber ſie ſchließt es aus den Werken ſtrengern und höhern Styles aus, daher es z. B. im Ganzen doch beſſer für die Concert- als für die Symphoniegattung ſich eignet und in bedeutſamern Tonſtücken ſehr oft nicht für ſich allein ange- wandt, ſondern zu andern Satzformen von ihm übergegangen wird. Kurz, die Mannigfaltigkeit kommt in ihm einerſeits zu kurz und macht ſich andrer- ſeits auch wiederum zu ſehr geltend auf Koſten der höhern Einheit des Gedankens. Dieſe Einſeitigkeit hebt ſich auf in zwei weitern Formen des cycliſchen Kunſtwerks, einmal in der Variation, und ſodann in den zu
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ſich beſonders auch zum Schlußſtück; ſowohl wegen ſeines gehaltenern, bei
Einem Gedanken ſich beruhigenden, zwiſchen ihm und den Nebenſätzen ſich
hinundherſchaukelnden Charakters als nach Seiten der Beharrlichkeit, mit der
es einen Hauptſatz ſtets in den Vordergrund drängt, iſt es ganz dazu an-
gethan, die Rolle des Schlußſtücks zu übernehmen, wenn in dieſem der.
Sturm der Bewegung des Ganzen zu Ende gehen und ſich entweder zur
ſtillern Sammlung abklären oder ſich noch einmal kräftig zu energiſch wie-
derholender Ausſprache ſtarker und mächtiger Empfindungen zuſammenfaſſen
ſoll. Umfang und ſpezielle Geſtaltung des Einzelnen können beim Rondo
als freierer Muſikform ſehr mannigfaltig ſein. Namentlich iſt große Freiheit
zuläßig bei der Behandlung des Nebenſatzes, welcher ebenſowohl blos die
Form eines unſelbſtändigen, für ſich bedeutungsloſern Tonganges als die
eines dem Hauptgedanken an Gewicht nahezu an die Seite rückenden
„Seitenſatzes“ erhält, je nachdem der Geſammtcharakter des Stückes es
verlangt. Desgleichen kann Ein Nebenſatz genügen oder zu ihm ein zweiter
hinzutreten; der Hauptgedanke kann das eine Mal mit dem erſten, das
andere Mal mit dem zweiten oder auch jedesmal mit beiden zuſammen auf-
treten; die Nebenſätze können ſich erweitern, im Einzelnen ſich verändern,
„Zwiſchenſätze“ zwiſchen ſich und den Hauptgedanken einſchieben, und na-
mentlich der Schluß kann mit dem Hauptgedanken allein oder mit einer
Combination aus ihm und den Nebengedanken gemacht werden.
So naturgemäß und künſtleriſch berechtigt die Rondoform iſt, ſo haften
ihr doch zwei Einſeitigkeiten an, die noch zu weitern Formen forttreiben;
es überwiegt in ihr die Einheit über die Mannigfaltigkeit, und die Mannig-
faltigkeit, ſoweit ſie in den Nebengedanken auftritt, iſt dann doch wiederum
zu frei, zu wenig unter ein beſtimmtes Geſetz geſtellt, zu ſehr der Phantaſie
überlaſſen. Das Ueberwiegen der Einheit führt die Gefahr der Eintönigkeit
und Einförmigkeit ſowohl des muſikaliſchen Inhalts als des Rhythmus mit
ſich; die Freiheit in der Geſtaltung der Nebenſätze benimmt dem Ganzen den
Charakter einer ſtreng gegliederten Kunſtform, ſie läßt es als ein Gedicht mit
Epiſoden erſcheinen, in welchem dieſe letztern einen unverhältnißmäßigen
Raum einnehmen, ſie gibt dem Rondo zwar den eigenthümlichen Reiz
romantiſchpoetiſcher Mannigfaltigkeit und Ungebundenheit, aber ſie ſchließt
es aus den Werken ſtrengern und höhern Styles aus, daher es z. B. im
Ganzen doch beſſer für die Concert- als für die Symphoniegattung ſich
eignet und in bedeutſamern Tonſtücken ſehr oft nicht für ſich allein ange-
wandt, ſondern zu andern Satzformen von ihm übergegangen wird. Kurz,
die Mannigfaltigkeit kommt in ihm einerſeits zu kurz und macht ſich andrer-
ſeits auch wiederum zu ſehr geltend auf Koſten der höhern Einheit des
Gedankens. Dieſe Einſeitigkeit hebt ſich auf in zwei weitern Formen des
cycliſchen Kunſtwerks, einmal in der Variation, und ſodann in den zu
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 956. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/194>, abgerufen am 04.12.2024.
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