objectiv ist als der Gegenstand, der ihn hervorruft. Ja auch die Empfin- dung selbst darf sie nicht zu stark, nicht zu scharf, nicht zu detaillirt heraus- treten lassen, wenn sie nicht schwer und dumpf oder weich und süßlich oder peinlich schneidend oder regel- und einheitslos werden soll; gerade dieses Sinnlichnaturalistische (vgl. S. 872) hat die Kunst der Empfindung abzu- streifen, sie hat den Beruf die Empfindung immer zugleich zu idealisiren (vgl. S. 903), sie sowohl in beweglichere, leichtere, gefällige, als in kräf- tiger stylisirte und wohlgegliederte Formen zu erheben; sie stellt zwar einer Kunst wie die Architectur gegenüber "den Ausdruck über die Form" (S. 928), d. h. über bestimmte, numerisch exacte Form, aber nicht über die Form überhaupt, sie ist desto mehr an die Gesetze der Idealität, des Maaßes, der Unterordnung des Details unter das Ganze gebunden, je weniger sie der Hinstellung einer festen, anschaulichen Einzelgestalt fähig ist. Die Frage, ob und wieweit die Musik malen dürfe, ist jedoch hiemit noch nicht abge- macht; die Musik muß doch auch in gewissem Sinne objectiv darstellen, da sonst aller Charakter, aller bestimmtere Stimmungsgehalt, alle drama- tische Belebung verloren ginge, und wenn wir sagen, nicht die Dinge, sondern ihren Eindruck solle sie schildern, so ist ja im Eindruck, in der vom Ding erregten Empfindung das Ding selbst als Ursache, als Anlaß, als das was eben dieser Empfindung ihren bestimmten Inhalt, ihren Charakter, ihre Farbe (Schrecken, Grauen u. s. w.) gibt, auch mitgesetzt, folglich darf nicht nur, sondern muß gemalt werden, wie z. B. Haydn zu Anfang der Schöpfung das Chaos, das Aufflammen des Lichtes zu malen nicht unter- lassen konnte, wenn er seinen Gegenstand vollkommen musikalisch wieder- geben wollte. Allein gerade in diesem Einwand liegt auch die Lösung der Frage; der Wiederhall des Dinges in der Empfindung ist doch nicht mehr das ganze und reine Ding selbst, die Empfindung wird zwar bestimmt und so oder so gefärbt durch das Ding, aber sie hat von ihm doch nur ein allgemeines Bild, einen allgemeinen Reflex in sich, dem eben die spezifisch- sinnliche Bestimmtheit, z. B. daß ein schreckendes Geräusch gerade Donner oder ein Grauenerregendes gerade eine Sandwüste oder ein Ermuthigendes gerade eine herbeieilende Reiterschaar ist, bereits abgestreift ist. Diesen vom Ding in die Empfindung miteingehenden allgemeinen Reflex braucht die Musik zwar nicht nothwendig und überall zu malen, wenn sie nur die Empfindung selbst recht malt, sie kann ihn aber allerdings auch mitmalen, wenn sie ausdrücklich, ernst- oder scherzhaft, sich objectiver- als gewöhnlich halten will, aber sie darf ihn doch nur mitmalen, wie z. B. Haydn's Chaos nicht blos Chaosvorstellung sein will, sondern ebensosehr Veranschaulichung einer feierlich erwartungsvollen Stimmung, eines dumpfen Webens und Hinundherwogens der Empfindung, die keinen bestimmten Gegenstand vor sich hat, sondern nur erst nebelhafte Gestalten sich erheben und durcheinan-
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 63
objectiv iſt als der Gegenſtand, der ihn hervorruft. Ja auch die Empfin- dung ſelbſt darf ſie nicht zu ſtark, nicht zu ſcharf, nicht zu detaillirt heraus- treten laſſen, wenn ſie nicht ſchwer und dumpf oder weich und ſüßlich oder peinlich ſchneidend oder regel- und einheitslos werden ſoll; gerade dieſes Sinnlichnaturaliſtiſche (vgl. S. 872) hat die Kunſt der Empfindung abzu- ſtreifen, ſie hat den Beruf die Empfindung immer zugleich zu idealiſiren (vgl. S. 903), ſie ſowohl in beweglichere, leichtere, gefällige, als in kräf- tiger ſtyliſirte und wohlgegliederte Formen zu erheben; ſie ſtellt zwar einer Kunſt wie die Architectur gegenüber „den Ausdruck über die Form“ (S. 928), d. h. über beſtimmte, numeriſch exacte Form, aber nicht über die Form überhaupt, ſie iſt deſto mehr an die Geſetze der Idealität, des Maaßes, der Unterordnung des Details unter das Ganze gebunden, je weniger ſie der Hinſtellung einer feſten, anſchaulichen Einzelgeſtalt fähig iſt. Die Frage, ob und wieweit die Muſik malen dürfe, iſt jedoch hiemit noch nicht abge- macht; die Muſik muß doch auch in gewiſſem Sinne objectiv darſtellen, da ſonſt aller Charakter, aller beſtimmtere Stimmungsgehalt, alle drama- tiſche Belebung verloren ginge, und wenn wir ſagen, nicht die Dinge, ſondern ihren Eindruck ſolle ſie ſchildern, ſo iſt ja im Eindruck, in der vom Ding erregten Empfindung das Ding ſelbſt als Urſache, als Anlaß, als das was eben dieſer Empfindung ihren beſtimmten Inhalt, ihren Charakter, ihre Farbe (Schrecken, Grauen u. ſ. w.) gibt, auch mitgeſetzt, folglich darf nicht nur, ſondern muß gemalt werden, wie z. B. Haydn zu Anfang der Schöpfung das Chaos, das Aufflammen des Lichtes zu malen nicht unter- laſſen konnte, wenn er ſeinen Gegenſtand vollkommen muſikaliſch wieder- geben wollte. Allein gerade in dieſem Einwand liegt auch die Löſung der Frage; der Wiederhall des Dinges in der Empfindung iſt doch nicht mehr das ganze und reine Ding ſelbſt, die Empfindung wird zwar beſtimmt und ſo oder ſo gefärbt durch das Ding, aber ſie hat von ihm doch nur ein allgemeines Bild, einen allgemeinen Reflex in ſich, dem eben die ſpezifiſch- ſinnliche Beſtimmtheit, z. B. daß ein ſchreckendes Geräuſch gerade Donner oder ein Grauenerregendes gerade eine Sandwüſte oder ein Ermuthigendes gerade eine herbeieilende Reiterſchaar iſt, bereits abgeſtreift iſt. Dieſen vom Ding in die Empfindung miteingehenden allgemeinen Reflex braucht die Muſik zwar nicht nothwendig und überall zu malen, wenn ſie nur die Empfindung ſelbſt recht malt, ſie kann ihn aber allerdings auch mitmalen, wenn ſie ausdrücklich, ernſt- oder ſcherzhaft, ſich objectiver- als gewöhnlich halten will, aber ſie darf ihn doch nur mitmalen, wie z. B. Haydn’s Chaos nicht blos Chaosvorſtellung ſein will, ſondern ebenſoſehr Veranſchaulichung einer feierlich erwartungsvollen Stimmung, eines dumpfen Webens und Hinundherwogens der Empfindung, die keinen beſtimmten Gegenſtand vor ſich hat, ſondern nur erſt nebelhafte Geſtalten ſich erheben und durcheinan-
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 63
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objectiv iſt als der Gegenſtand, der ihn hervorruft. Ja auch die Empfin-
dung ſelbſt darf ſie nicht zu ſtark, nicht zu ſcharf, nicht zu detaillirt heraus-
treten laſſen, wenn ſie nicht ſchwer und dumpf oder weich und ſüßlich oder
peinlich ſchneidend oder regel- und einheitslos werden ſoll; gerade dieſes
Sinnlichnaturaliſtiſche (vgl. S. 872) hat die Kunſt der Empfindung abzu-
ſtreifen, ſie hat den Beruf die Empfindung immer zugleich zu idealiſiren
(vgl. S. 903), ſie ſowohl in beweglichere, leichtere, gefällige, als in kräf-
tiger ſtyliſirte und wohlgegliederte Formen zu erheben; ſie ſtellt zwar einer
Kunſt wie die Architectur gegenüber „den Ausdruck über die Form“ (S. 928),
d. h. über beſtimmte, numeriſch exacte Form, aber nicht über die Form
überhaupt, ſie iſt deſto mehr an die Geſetze der Idealität, des Maaßes,
der Unterordnung des Details unter das Ganze gebunden, je weniger ſie
der Hinſtellung einer feſten, anſchaulichen Einzelgeſtalt fähig iſt. Die Frage,
ob und wieweit die Muſik malen dürfe, iſt jedoch hiemit noch nicht abge-
macht; die Muſik muß doch auch in gewiſſem Sinne objectiv darſtellen,
da ſonſt aller Charakter, aller beſtimmtere Stimmungsgehalt, alle drama-
tiſche Belebung verloren ginge, und wenn wir ſagen, nicht die Dinge,
ſondern ihren Eindruck ſolle ſie ſchildern, ſo iſt ja im Eindruck, in der vom
Ding erregten Empfindung das Ding ſelbſt als Urſache, als Anlaß, als
das was eben dieſer Empfindung ihren beſtimmten Inhalt, ihren Charakter,
ihre Farbe (Schrecken, Grauen u. ſ. w.) gibt, auch mitgeſetzt, folglich darf
nicht nur, ſondern muß gemalt werden, wie z. B. Haydn zu Anfang der
Schöpfung das Chaos, das Aufflammen des Lichtes zu malen nicht unter-
laſſen konnte, wenn er ſeinen Gegenſtand vollkommen muſikaliſch wieder-
geben wollte. Allein gerade in dieſem Einwand liegt auch die Löſung der
Frage; der Wiederhall des Dinges in der Empfindung iſt doch nicht mehr
das ganze und reine Ding ſelbſt, die Empfindung wird zwar beſtimmt und
ſo oder ſo gefärbt durch das Ding, aber ſie hat von ihm doch nur ein
allgemeines Bild, einen allgemeinen Reflex in ſich, dem eben die ſpezifiſch-
ſinnliche Beſtimmtheit, z. B. daß ein ſchreckendes Geräuſch gerade Donner
oder ein Grauenerregendes gerade eine Sandwüſte oder ein Ermuthigendes
gerade eine herbeieilende Reiterſchaar iſt, bereits abgeſtreift iſt. Dieſen vom
Ding in die Empfindung miteingehenden allgemeinen Reflex braucht die
Muſik zwar nicht nothwendig und überall zu malen, wenn ſie nur die
Empfindung ſelbſt recht malt, ſie kann ihn aber allerdings auch mitmalen,
wenn ſie ausdrücklich, ernſt- oder ſcherzhaft, ſich objectiver- als gewöhnlich
halten will, aber ſie darf ihn doch nur mitmalen, wie z. B. Haydn’s Chaos
nicht blos Chaosvorſtellung ſein will, ſondern ebenſoſehr Veranſchaulichung
einer feierlich erwartungsvollen Stimmung, eines dumpfen Webens und
Hinundherwogens der Empfindung, die keinen beſtimmten Gegenſtand vor
ſich hat, ſondern nur erſt nebelhafte Geſtalten ſich erheben und durcheinan-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 967. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/205>, abgerufen am 04.12.2024.
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