Liede neben der Idealität und Weichheit das Naturalistische, das charak- teristischer Individualisirende, ebenso das Anmuthige und nicht minder die Fortführung der Weichheit der Empfindung bis zum Schmelz reiner Senti- mentalität (im guten Sinne des Wortes), die eben im Liede den passenden Ort zu ihrer Aeußerung findet, vor Allem zugehört. Das religiöse Lied fällt unter den oben aufgeführten zwei Hauptklassen der ersten, dem "einfach empfindenden" Liede zu; Einfachheit ist bei aller Innigkeit sein Gesetz; ein religiöses Lied, selbst wenn es nicht von vorn herein zu einem Chorgesang bestimmt ist, muß immer allgemeiner Natur sein, in dem Sinne, daß die Andachtsstimmung den beherrschenden Grundton bildet und daher die speziellere Stimmungsindividualisirung ausgeschlossen bleibt; das Natürlichmenschliche darf sich hier nicht frei in die Weite und Breite ergehen, sondern darf nur erscheinen als aufgelöst in die Idealität des frommen Gefühles überhaupt. Die dem religiösen Liede nicht minder wesentliche Idealität schließt aber ebenso auch ein zu starkes, zu ausdruckreiches Hervortreten des Empfindens selbst aus (vgl. S. 975), die Empfindung darf hier nicht auftreten mit dem Reiz und Schmelz des Schwelgens in sich selbst, des Anmuthiglockenden, des Rührenwollens, und auch das Süße, Weiche, sehnsüchtig oder weh- müthig Zerflossene findet in diesem Gebiete seine Stelle nur unter der Hülle edler Idealität, die das Empfindselige, Sentimentale, Schmachtende von ihm abwehrt; kurz wie durch Naturalismus, so durch überfließende Anmuth und Weichheit wird die Musik weltlich, wogegen auf der andern Seite das weltliche Lied, z. B. wo es ethischen Inhaltes ist oder wo durch die Dichtung eine Mischung beider Gattungen (frommer Kriegesmuth, religiöser Patrio- tismus) an die Hand gegeben ist, durch idealen Charakter sich dem reli- giösen bis zur Ununterscheidbarkeit annähern wird, nur etwa mit Ausnahme der weniger activkräftigen Haltung, die sich im religiösen Lied immer noch irgendwie ausprägen sollte, weil die Ichheit hier nicht auf sich selbst gestellt, sondern vom Gefühl der Abhängigkeit von einer universellern Macht durch- drungen ist. In formeller Beziehung ist es natürlich nicht blos die Ton- folge (nebst Modulation und Harmonie), sondern namentlich auch Rhythmus (und Tempo), in dessen verschiedener Gestaltung jene Unterschiede sich musi- kalisch ausprägen; wie die Tonfolge bald einfachere, gleichförmigere, bald geschwungenere, verschlungenere, in stärkerem Wechsel und Contrast sich hebende und senkende, schärfer und eckiger sich zuspitzende Linien zieht, so ist auch der Rhythmus bald ruhiger, gehaltener, gleichartiger, bald auch energisch, provocirend, leicht, lebendig, springend, wechselvoll, wie der Charakter des einzelnen Tonstücks es erheischt. Eine weitere, zu diesen Stoff- und Stylunterschieden noch hinzukommende Unterscheidung ist die zwischen Liedern für verschiedene Stimmen; die sich hier ergebenden speziellern Unterschiede sind wiederum theils materieller Natur (Männergesang, Kinder-
Liede neben der Idealität und Weichheit das Naturaliſtiſche, das charak- teriſtiſcher Individualiſirende, ebenſo das Anmuthige und nicht minder die Fortführung der Weichheit der Empfindung bis zum Schmelz reiner Senti- mentalität (im guten Sinne des Wortes), die eben im Liede den paſſenden Ort zu ihrer Aeußerung findet, vor Allem zugehört. Das religiöſe Lied fällt unter den oben aufgeführten zwei Hauptklaſſen der erſten, dem „einfach empfindenden“ Liede zu; Einfachheit iſt bei aller Innigkeit ſein Geſetz; ein religiöſes Lied, ſelbſt wenn es nicht von vorn herein zu einem Chorgeſang beſtimmt iſt, muß immer allgemeiner Natur ſein, in dem Sinne, daß die Andachtsſtimmung den beherrſchenden Grundton bildet und daher die ſpeziellere Stimmungsindividualiſirung ausgeſchloſſen bleibt; das Natürlichmenſchliche darf ſich hier nicht frei in die Weite und Breite ergehen, ſondern darf nur erſcheinen als aufgelöst in die Idealität des frommen Gefühles überhaupt. Die dem religiöſen Liede nicht minder weſentliche Idealität ſchließt aber ebenſo auch ein zu ſtarkes, zu ausdruckreiches Hervortreten des Empfindens ſelbſt aus (vgl. S. 975), die Empfindung darf hier nicht auftreten mit dem Reiz und Schmelz des Schwelgens in ſich ſelbſt, des Anmuthiglockenden, des Rührenwollens, und auch das Süße, Weiche, ſehnſüchtig oder weh- müthig Zerfloſſene findet in dieſem Gebiete ſeine Stelle nur unter der Hülle edler Idealität, die das Empfindſelige, Sentimentale, Schmachtende von ihm abwehrt; kurz wie durch Naturaliſmus, ſo durch überfließende Anmuth und Weichheit wird die Muſik weltlich, wogegen auf der andern Seite das weltliche Lied, z. B. wo es ethiſchen Inhaltes iſt oder wo durch die Dichtung eine Miſchung beider Gattungen (frommer Kriegesmuth, religiöſer Patrio- tismus) an die Hand gegeben iſt, durch idealen Charakter ſich dem reli- giöſen bis zur Ununterſcheidbarkeit annähern wird, nur etwa mit Ausnahme der weniger activkräftigen Haltung, die ſich im religiöſen Lied immer noch irgendwie ausprägen ſollte, weil die Ichheit hier nicht auf ſich ſelbſt geſtellt, ſondern vom Gefühl der Abhängigkeit von einer univerſellern Macht durch- drungen iſt. In formeller Beziehung iſt es natürlich nicht blos die Ton- folge (nebſt Modulation und Harmonie), ſondern namentlich auch Rhythmus (und Tempo), in deſſen verſchiedener Geſtaltung jene Unterſchiede ſich muſi- kaliſch ausprägen; wie die Tonfolge bald einfachere, gleichförmigere, bald geſchwungenere, verſchlungenere, in ſtärkerem Wechſel und Contraſt ſich hebende und ſenkende, ſchärfer und eckiger ſich zuſpitzende Linien zieht, ſo iſt auch der Rhythmus bald ruhiger, gehaltener, gleichartiger, bald auch energiſch, provocirend, leicht, lebendig, ſpringend, wechſelvoll, wie der Charakter des einzelnen Tonſtücks es erheiſcht. Eine weitere, zu dieſen Stoff- und Stylunterſchieden noch hinzukommende Unterſcheidung iſt die zwiſchen Liedern für verſchiedene Stimmen; die ſich hier ergebenden ſpeziellern Unterſchiede ſind wiederum theils materieller Natur (Männergeſang, Kinder-
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Liede neben der Idealität und Weichheit das Naturaliſtiſche, das charak-
teriſtiſcher Individualiſirende, ebenſo das Anmuthige und nicht minder die
Fortführung der Weichheit der Empfindung bis zum Schmelz reiner Senti-
mentalität (im guten Sinne des Wortes), die eben im Liede den paſſenden
Ort zu ihrer Aeußerung findet, vor Allem zugehört. Das religiöſe Lied
fällt unter den oben aufgeführten zwei Hauptklaſſen der erſten, dem „einfach
empfindenden“ Liede zu; Einfachheit iſt bei aller Innigkeit ſein Geſetz; ein
religiöſes Lied, ſelbſt wenn es nicht von vorn herein zu einem Chorgeſang
beſtimmt iſt, muß immer allgemeiner Natur ſein, in dem Sinne, daß die
Andachtsſtimmung den beherrſchenden Grundton bildet und daher die ſpeziellere
Stimmungsindividualiſirung ausgeſchloſſen bleibt; das Natürlichmenſchliche
darf ſich hier nicht frei in die Weite und Breite ergehen, ſondern darf nur
erſcheinen als aufgelöst in die Idealität des frommen Gefühles überhaupt.
Die dem religiöſen Liede nicht minder weſentliche Idealität ſchließt aber
ebenſo auch ein zu ſtarkes, zu ausdruckreiches Hervortreten des Empfindens
ſelbſt aus (vgl. S. 975), die Empfindung darf hier nicht auftreten mit dem
Reiz und Schmelz des Schwelgens in ſich ſelbſt, des Anmuthiglockenden,
des Rührenwollens, und auch das Süße, Weiche, ſehnſüchtig oder weh-
müthig Zerfloſſene findet in dieſem Gebiete ſeine Stelle nur unter der Hülle
edler Idealität, die das Empfindſelige, Sentimentale, Schmachtende von
ihm abwehrt; kurz wie durch Naturaliſmus, ſo durch überfließende Anmuth
und Weichheit wird die Muſik weltlich, wogegen auf der andern Seite das
weltliche Lied, z. B. wo es ethiſchen Inhaltes iſt oder wo durch die Dichtung
eine Miſchung beider Gattungen (frommer Kriegesmuth, religiöſer Patrio-
tismus) an die Hand gegeben iſt, durch idealen Charakter ſich dem reli-
giöſen bis zur Ununterſcheidbarkeit annähern wird, nur etwa mit Ausnahme
der weniger activkräftigen Haltung, die ſich im religiöſen Lied immer noch
irgendwie ausprägen ſollte, weil die Ichheit hier nicht auf ſich ſelbſt geſtellt,
ſondern vom Gefühl der Abhängigkeit von einer univerſellern Macht durch-
drungen iſt. In formeller Beziehung iſt es natürlich nicht blos die Ton-
folge (nebſt Modulation und Harmonie), ſondern namentlich auch Rhythmus
(und Tempo), in deſſen verſchiedener Geſtaltung jene Unterſchiede ſich muſi-
kaliſch ausprägen; wie die Tonfolge bald einfachere, gleichförmigere, bald
geſchwungenere, verſchlungenere, in ſtärkerem Wechſel und Contraſt ſich
hebende und ſenkende, ſchärfer und eckiger ſich zuſpitzende Linien zieht, ſo
iſt auch der Rhythmus bald ruhiger, gehaltener, gleichartiger, bald auch
energiſch, provocirend, leicht, lebendig, ſpringend, wechſelvoll, wie der
Charakter des einzelnen Tonſtücks es erheiſcht. Eine weitere, zu dieſen
Stoff- und Stylunterſchieden noch hinzukommende Unterſcheidung iſt die
zwiſchen Liedern für verſchiedene Stimmen; die ſich hier ergebenden ſpeziellern
Unterſchiede ſind wiederum theils materieller Natur (Männergeſang, Kinder-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 992. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/230>, abgerufen am 04.12.2024.
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