keiner andern Absicht, als um einem Inhalte, dessen objectiver Charakter keine melodische Composition erlaubt, eine musikalische Fassung zu geben, welche Dasjenige an ihm, was für das Gefühl Bedeutung hat, charakteri- stisch hervorhebt; seelenvoller, in den Inhalt aufgehender Erguß kommt hier nicht zu Stande und ebendeßwegen keine Melodie, keine der musikalischen Empfindung vollen Lauf lassende, stetig dahinfließende, den Text ganz in sich auflösende Tonreihe, aber deßungeachtet eine der Melodie analoge Tonbewegung, die durch ihre ganze Haltung, durch Tempo, Rhythmus, Modulation, durch die Art der Auf- und Abbewegung in Intervallen, der Hebungen und Senkungen, durch Accentuation einzelner Stellen, durch Steigerung des Tones, der innern Bewegung, des Affects, sowie endlich auch durch harmonische Begleitung einen spezifisch musikalischen Ausdruck sowohl der Gesammtstimmung als insbesondere einzelner Hauptmomente erzielt. Gerade diese Hervorhebung einzelner Momente gibt dem erzählenden Recitativ die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit, die ihm an sich der Melodie gegenüber fehlt; eine unvollkommene, zur Ergänzung durch wahrhaft lyrische Musik hintreibende und daher auch nicht populäre, sondern aus Reflexion entstandene Kunstform bleibt dieses Recitativ immer, aber im Einzelnen lebendig charakterisiren und zeichnen kann es, in ausdrucksvollern Stellen und Wendungen dieser Art kehrt es gleichsam immer wieder zu dem musi- kalischen Typus zurück, den es durch seine übrige kältere, gebrochenere Weise aufgeben zu wollen scheint; es ist Rede, die eben anfängt musikalisch zu werden, und die im Ganzen blos den musikalischen Ton überhaupt anschlägt, im Einzelnen aber bereits Ansätze wirklich musikalischer Rhythmik und Melodik aus sich hervortreibt. Das Gleiche findet sodann auch statt bei dem rein lyrischen und dem dramatisch lyrischen Recitativ, nur mit dem Unterschiede, daß es frei von der epischen Breite und Ruhe, die den spezi- fischen Ausdruck mehr nur an einzelnen Stellen hervortreten läßt, von Anfang an concentrirter, bewegter, affectvoller, nüancirter und daher einer durchgehend festgehaltenen, in immer wieder neuen Formen erscheinenden Charakteristik fähiger ist. Diese beiden Recitativgattungen entstehen, wenn die das Innere bewegende Empfindung zwar hervortritt, aber nicht in den stetigen Fluß der Melodie einmündet, entweder weil es (ähnlich wie im epischen Recitativ) um ein deutlicheres, das Einzelne markirter darlegendes Aussprechen des Gefühlsinhalts (z. B. in kirchlichem Gesang) zu thun ist, oder weil die Empfindung sich noch nicht zu einfachem Ausströmen ihrer selbst gesammelt hat, sondern noch zu sehr reflectirend mit ihrem speziellen Inhalt, ihren Motiven beschäftigt, noch zu stürmisch aufgeregt, hinundher- gezogen und -getrieben ist, oder endlich (besonders im Drama) weil der Inhalt neben seinen Gefühlselementen auch andere, mehr der Reflexion an- gehörige enthält, die für einfach melodischen Vortrag sich nicht eignen, so
keiner andern Abſicht, als um einem Inhalte, deſſen objectiver Charakter keine melodiſche Compoſition erlaubt, eine muſikaliſche Faſſung zu geben, welche Dasjenige an ihm, was für das Gefühl Bedeutung hat, charakteri- ſtiſch hervorhebt; ſeelenvoller, in den Inhalt aufgehender Erguß kommt hier nicht zu Stande und ebendeßwegen keine Melodie, keine der muſikaliſchen Empfindung vollen Lauf laſſende, ſtetig dahinfließende, den Text ganz in ſich auflöſende Tonreihe, aber deßungeachtet eine der Melodie analoge Tonbewegung, die durch ihre ganze Haltung, durch Tempo, Rhythmus, Modulation, durch die Art der Auf- und Abbewegung in Intervallen, der Hebungen und Senkungen, durch Accentuation einzelner Stellen, durch Steigerung des Tones, der innern Bewegung, des Affects, ſowie endlich auch durch harmoniſche Begleitung einen ſpezifiſch muſikaliſchen Ausdruck ſowohl der Geſammtſtimmung als insbeſondere einzelner Hauptmomente erzielt. Gerade dieſe Hervorhebung einzelner Momente gibt dem erzählenden Recitativ die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit, die ihm an ſich der Melodie gegenüber fehlt; eine unvollkommene, zur Ergänzung durch wahrhaft lyriſche Muſik hintreibende und daher auch nicht populäre, ſondern aus Reflexion entſtandene Kunſtform bleibt dieſes Recitativ immer, aber im Einzelnen lebendig charakteriſiren und zeichnen kann es, in ausdrucksvollern Stellen und Wendungen dieſer Art kehrt es gleichſam immer wieder zu dem muſi- kaliſchen Typus zurück, den es durch ſeine übrige kältere, gebrochenere Weiſe aufgeben zu wollen ſcheint; es iſt Rede, die eben anfängt muſikaliſch zu werden, und die im Ganzen blos den muſikaliſchen Ton überhaupt anſchlägt, im Einzelnen aber bereits Anſätze wirklich muſikaliſcher Rhythmik und Melodik aus ſich hervortreibt. Das Gleiche findet ſodann auch ſtatt bei dem rein lyriſchen und dem dramatiſch lyriſchen Recitativ, nur mit dem Unterſchiede, daß es frei von der epiſchen Breite und Ruhe, die den ſpezi- fiſchen Ausdruck mehr nur an einzelnen Stellen hervortreten läßt, von Anfang an concentrirter, bewegter, affectvoller, nüancirter und daher einer durchgehend feſtgehaltenen, in immer wieder neuen Formen erſcheinenden Charakteriſtik fähiger iſt. Dieſe beiden Recitativgattungen entſtehen, wenn die das Innere bewegende Empfindung zwar hervortritt, aber nicht in den ſtetigen Fluß der Melodie einmündet, entweder weil es (ähnlich wie im epiſchen Recitativ) um ein deutlicheres, das Einzelne markirter darlegendes Ausſprechen des Gefühlsinhalts (z. B. in kirchlichem Geſang) zu thun iſt, oder weil die Empfindung ſich noch nicht zu einfachem Ausſtrömen ihrer ſelbſt geſammelt hat, ſondern noch zu ſehr reflectirend mit ihrem ſpeziellen Inhalt, ihren Motiven beſchäftigt, noch zu ſtürmiſch aufgeregt, hinundher- gezogen und -getrieben iſt, oder endlich (beſonders im Drama) weil der Inhalt neben ſeinen Gefühlselementen auch andere, mehr der Reflexion an- gehörige enthält, die für einfach melodiſchen Vortrag ſich nicht eignen, ſo
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keiner andern Abſicht, als um einem Inhalte, deſſen objectiver Charakter
keine melodiſche Compoſition erlaubt, eine muſikaliſche Faſſung zu geben,
welche Dasjenige an ihm, was für das Gefühl Bedeutung hat, charakteri-
ſtiſch hervorhebt; ſeelenvoller, in den Inhalt aufgehender Erguß kommt hier
nicht zu Stande und ebendeßwegen keine Melodie, keine der muſikaliſchen
Empfindung vollen Lauf laſſende, ſtetig dahinfließende, den Text ganz in
ſich auflöſende Tonreihe, aber deßungeachtet eine der Melodie analoge
Tonbewegung, die durch ihre ganze Haltung, durch Tempo, Rhythmus,
Modulation, durch die Art der Auf- und Abbewegung in Intervallen, der
Hebungen und Senkungen, durch Accentuation einzelner Stellen, durch
Steigerung des Tones, der innern Bewegung, des Affects, ſowie endlich
auch durch harmoniſche Begleitung einen ſpezifiſch muſikaliſchen Ausdruck
ſowohl der Geſammtſtimmung als insbeſondere einzelner Hauptmomente
erzielt. Gerade dieſe Hervorhebung einzelner Momente gibt dem erzählenden
Recitativ die Lebendigkeit und Mannigfaltigkeit, die ihm an ſich der Melodie
gegenüber fehlt; eine unvollkommene, zur Ergänzung durch wahrhaft lyriſche
Muſik hintreibende und daher auch nicht populäre, ſondern aus Reflexion
entſtandene Kunſtform bleibt dieſes Recitativ immer, aber im Einzelnen
lebendig charakteriſiren und zeichnen kann es, in ausdrucksvollern Stellen
und Wendungen dieſer Art kehrt es gleichſam immer wieder zu dem muſi-
kaliſchen Typus zurück, den es durch ſeine übrige kältere, gebrochenere Weiſe
aufgeben zu wollen ſcheint; es iſt Rede, die eben anfängt muſikaliſch zu
werden, und die im Ganzen blos den muſikaliſchen Ton überhaupt anſchlägt,
im Einzelnen aber bereits Anſätze wirklich muſikaliſcher Rhythmik und Melodik
aus ſich hervortreibt. Das Gleiche findet ſodann auch ſtatt bei dem rein
lyriſchen und dem dramatiſch lyriſchen Recitativ, nur mit dem
Unterſchiede, daß es frei von der epiſchen Breite und Ruhe, die den ſpezi-
fiſchen Ausdruck mehr nur an einzelnen Stellen hervortreten läßt, von
Anfang an concentrirter, bewegter, affectvoller, nüancirter und daher einer
durchgehend feſtgehaltenen, in immer wieder neuen Formen erſcheinenden
Charakteriſtik fähiger iſt. Dieſe beiden Recitativgattungen entſtehen, wenn
die das Innere bewegende Empfindung zwar hervortritt, aber nicht in den
ſtetigen Fluß der Melodie einmündet, entweder weil es (ähnlich wie im
epiſchen Recitativ) um ein deutlicheres, das Einzelne markirter darlegendes
Ausſprechen des Gefühlsinhalts (z. B. in kirchlichem Geſang) zu thun iſt,
oder weil die Empfindung ſich noch nicht zu einfachem Ausſtrömen ihrer
ſelbſt geſammelt hat, ſondern noch zu ſehr reflectirend mit ihrem ſpeziellen
Inhalt, ihren Motiven beſchäftigt, noch zu ſtürmiſch aufgeregt, hinundher-
gezogen und -getrieben iſt, oder endlich (beſonders im Drama) weil der
Inhalt neben ſeinen Gefühlselementen auch andere, mehr der Reflexion an-
gehörige enthält, die für einfach melodiſchen Vortrag ſich nicht eignen, ſo
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1000. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/238>, abgerufen am 04.12.2024.
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