zu allgemeiner Natur sind; nur von der Arie empfangen wir den Eindruck des vollkommenen, reine Form und charakteristische Wahrheit, Gefühlsinnig- keit und scharfe psychologische Entwicklung der einzelnen Gefühlsmomente in sich verknüpfenden Kunstwerks der Vocalmusik. Recitation ist indirecter, Declamation directer Idealismus, das Lied und die Arie vereinigen beide, neigen sich nach der einen oder andern Seite vorzugsweise hin, nur wie- derum beide in verschiedener Weise, das Lied hat zu wenig Raum, um beide Elemente zu umfassenderer Entfaltung kommen zu lassen, die Arie aber geht zunächst ein in die ganze Breite und concrete Bestimmtheit des indirecten Idealismus, weiß aber doch wiederum mittelst ihrer periodischen Gliederung, mittelst ihrer innigen Verbindung und flüssigen Verschmelzung der Theile das hohe, klare, einfach schöne Gepräge directer Idealisirung demselben auf- zudrücken. Die verschiedenen Formen der Arie ergeben sich einfach daraus, daß sie entweder lyrische oder dramatische Arie ist, und daß sich die eine oder andere entweder mehr dem Liede oder dem Recitativ und Sprechgesang annähert; im ersten Falle findet strophen- oder rondoartige Ausführung, Wiederholung, Entwicklung der Gedanken und abgemessenere Periodisirung ihre Stelle, wogegen im zweiten der einfache Ausdruck des Inhaltes das Ueberwiegende ist. Welche Form anzuwenden sei, ergibt sich im einzelnen Falle aus ihrem Zweck und aus der Situation, in der sie gesungen wird (vgl. S. 955). Ganz falsch ist es natürlich, der Arie, die sich ganz den jeweiligen individuellen Empfindungen anzuschmiegen hat, eine feste allge- meingültige Form geben und z. B. vorschreiben zu wollen, daß und wie einzelne Hauptgedanken wiederholt werden sollen; das Eigenthümliche der Arie ist vielmehr, keine Form, d. h. wohl Form (rein musikalische, melo- dische Form), aber nicht irgend eine bestimmte Form zu haben, sondern die Form ganz dem Inhalt gemäß zu bemessen. Die Wiederholung wird stets am Platze sein, wenn die Situation so ist, daß das Individuum als von einer Empfindung beherrscht, immer wieder auf sie zurückkommend erscheint; auch in solchen Fällen, wo ja die Wiederholung gerade höchst dramatisch ist, sie als undramatisch, den Gang der Handlung störend zu bezeichnen, wäre ein absolutes Mißverständniß einer modernen, einseitig den dramatischen Fortschritt betonenden Richtung, die, wenn sie folgerichtig sein wollte, auch aus dem Drama alle Exposition der Gedanken und Gefühle verbannen und aus ihm ein wahres Todtengerippe, eine geist- und leblose Folge von Begebenheiten und Situationen zu machen versuchen müßte. Das Richtige über diese Frage liegt schon bei Mozart vor, der sich, die bekannten Bra- vourarien abgerechnet, von aller Schulform emancipirt und ganz nach Erfor- derniß der einzelnen Fälle Arien theils von liedartiger, streng periodisirter, wie- derholender, theils von ganz freier, lediglich dem Ausdruck folgender Form componirt, übrigens auch in Arien der letztern Art keineswegs pedantisch
zu allgemeiner Natur ſind; nur von der Arie empfangen wir den Eindruck des vollkommenen, reine Form und charakteriſtiſche Wahrheit, Gefühlsinnig- keit und ſcharfe pſychologiſche Entwicklung der einzelnen Gefühlsmomente in ſich verknüpfenden Kunſtwerks der Vocalmuſik. Recitation iſt indirecter, Declamation directer Idealiſmus, das Lied und die Arie vereinigen beide, neigen ſich nach der einen oder andern Seite vorzugsweiſe hin, nur wie- derum beide in verſchiedener Weiſe, das Lied hat zu wenig Raum, um beide Elemente zu umfaſſenderer Entfaltung kommen zu laſſen, die Arie aber geht zunächſt ein in die ganze Breite und concrete Beſtimmtheit des indirecten Idealiſmus, weiß aber doch wiederum mittelſt ihrer periodiſchen Gliederung, mittelſt ihrer innigen Verbindung und flüſſigen Verſchmelzung der Theile das hohe, klare, einfach ſchöne Gepräge directer Idealiſirung demſelben auf- zudrücken. Die verſchiedenen Formen der Arie ergeben ſich einfach daraus, daß ſie entweder lyriſche oder dramatiſche Arie iſt, und daß ſich die eine oder andere entweder mehr dem Liede oder dem Recitativ und Sprechgeſang annähert; im erſten Falle findet ſtrophen- oder rondoartige Ausführung, Wiederholung, Entwicklung der Gedanken und abgemeſſenere Periodiſirung ihre Stelle, wogegen im zweiten der einfache Ausdruck des Inhaltes das Ueberwiegende iſt. Welche Form anzuwenden ſei, ergibt ſich im einzelnen Falle aus ihrem Zweck und aus der Situation, in der ſie geſungen wird (vgl. S. 955). Ganz falſch iſt es natürlich, der Arie, die ſich ganz den jeweiligen individuellen Empfindungen anzuſchmiegen hat, eine feſte allge- meingültige Form geben und z. B. vorſchreiben zu wollen, daß und wie einzelne Hauptgedanken wiederholt werden ſollen; das Eigenthümliche der Arie iſt vielmehr, keine Form, d. h. wohl Form (rein muſikaliſche, melo- diſche Form), aber nicht irgend eine beſtimmte Form zu haben, ſondern die Form ganz dem Inhalt gemäß zu bemeſſen. Die Wiederholung wird ſtets am Platze ſein, wenn die Situation ſo iſt, daß das Individuum als von einer Empfindung beherrſcht, immer wieder auf ſie zurückkommend erſcheint; auch in ſolchen Fällen, wo ja die Wiederholung gerade höchſt dramatiſch iſt, ſie als undramatiſch, den Gang der Handlung ſtörend zu bezeichnen, wäre ein abſolutes Mißverſtändniß einer modernen, einſeitig den dramatiſchen Fortſchritt betonenden Richtung, die, wenn ſie folgerichtig ſein wollte, auch aus dem Drama alle Expoſition der Gedanken und Gefühle verbannen und aus ihm ein wahres Todtengerippe, eine geiſt- und lebloſe Folge von Begebenheiten und Situationen zu machen verſuchen müßte. Das Richtige über dieſe Frage liegt ſchon bei Mozart vor, der ſich, die bekannten Bra- vourarien abgerechnet, von aller Schulform emancipirt und ganz nach Erfor- derniß der einzelnen Fälle Arien theils von liedartiger, ſtreng periodiſirter, wie- derholender, theils von ganz freier, lediglich dem Ausdruck folgender Form componirt, übrigens auch in Arien der letztern Art keineswegs pedantiſch
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[1005/0243]
zu allgemeiner Natur ſind; nur von der Arie empfangen wir den Eindruck
des vollkommenen, reine Form und charakteriſtiſche Wahrheit, Gefühlsinnig-
keit und ſcharfe pſychologiſche Entwicklung der einzelnen Gefühlsmomente
in ſich verknüpfenden Kunſtwerks der Vocalmuſik. Recitation iſt indirecter,
Declamation directer Idealiſmus, das Lied und die Arie vereinigen beide,
neigen ſich nach der einen oder andern Seite vorzugsweiſe hin, nur wie-
derum beide in verſchiedener Weiſe, das Lied hat zu wenig Raum, um beide
Elemente zu umfaſſenderer Entfaltung kommen zu laſſen, die Arie aber geht
zunächſt ein in die ganze Breite und concrete Beſtimmtheit des indirecten
Idealiſmus, weiß aber doch wiederum mittelſt ihrer periodiſchen Gliederung,
mittelſt ihrer innigen Verbindung und flüſſigen Verſchmelzung der Theile
das hohe, klare, einfach ſchöne Gepräge directer Idealiſirung demſelben auf-
zudrücken. Die verſchiedenen Formen der Arie ergeben ſich einfach daraus,
daß ſie entweder lyriſche oder dramatiſche Arie iſt, und daß ſich die eine
oder andere entweder mehr dem Liede oder dem Recitativ und Sprechgeſang
annähert; im erſten Falle findet ſtrophen- oder rondoartige Ausführung,
Wiederholung, Entwicklung der Gedanken und abgemeſſenere Periodiſirung
ihre Stelle, wogegen im zweiten der einfache Ausdruck des Inhaltes das
Ueberwiegende iſt. Welche Form anzuwenden ſei, ergibt ſich im einzelnen
Falle aus ihrem Zweck und aus der Situation, in der ſie geſungen wird
(vgl. S. 955). Ganz falſch iſt es natürlich, der Arie, die ſich ganz den
jeweiligen individuellen Empfindungen anzuſchmiegen hat, eine feſte allge-
meingültige Form geben und z. B. vorſchreiben zu wollen, daß und wie
einzelne Hauptgedanken wiederholt werden ſollen; das Eigenthümliche der
Arie iſt vielmehr, keine Form, d. h. wohl Form (rein muſikaliſche, melo-
diſche Form), aber nicht irgend eine beſtimmte Form zu haben, ſondern die
Form ganz dem Inhalt gemäß zu bemeſſen. Die Wiederholung wird ſtets
am Platze ſein, wenn die Situation ſo iſt, daß das Individuum als von
einer Empfindung beherrſcht, immer wieder auf ſie zurückkommend erſcheint;
auch in ſolchen Fällen, wo ja die Wiederholung gerade höchſt dramatiſch iſt,
ſie als undramatiſch, den Gang der Handlung ſtörend zu bezeichnen, wäre
ein abſolutes Mißverſtändniß einer modernen, einſeitig den dramatiſchen
Fortſchritt betonenden Richtung, die, wenn ſie folgerichtig ſein wollte, auch
aus dem Drama alle Expoſition der Gedanken und Gefühle verbannen
und aus ihm ein wahres Todtengerippe, eine geiſt- und lebloſe Folge von
Begebenheiten und Situationen zu machen verſuchen müßte. Das Richtige
über dieſe Frage liegt ſchon bei Mozart vor, der ſich, die bekannten Bra-
vourarien abgerechnet, von aller Schulform emancipirt und ganz nach Erfor-
derniß der einzelnen Fälle Arien theils von liedartiger, ſtreng periodiſirter, wie-
derholender, theils von ganz freier, lediglich dem Ausdruck folgender Form
componirt, übrigens auch in Arien der letztern Art keineswegs pedantiſch
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1005. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/243>, abgerufen am 04.12.2024.
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