daß sie die Einheit wiederum hervorkehren, daß sie die Tonmasse ganz, ungetheilt und dadurch sowohl groß als ruhig, einfach und concentrirt zum Gefühle reden lassen; nur in ihnen ist wahre Totalität, schwere Wucht, Auflösung aller individuellen Bewegungen und Empfindungen in den Strom Einer universellen, allumfassenden, die Harmonie des Weltalls nachbildenden, das Gemüth über alles Einzelne beseligend hinaushebenden, in sich gesät- tigten großen Gesammtstimmung; mit ihnen, mit den einfachern Chören langen wir an beim Ende, bei dem höchsten und letzten Sammel- und Ruhepunct, über den hinaus die Musik uns nichts mehr zu bieten vermag; in ihnen faßt sie alle Kraft, alle Freude, alle Wehmuth, die aufgeboten werden kann oder dargestellt werden soll, zu einem Gesammtbilde zusammen, das selbst, wenn es trauriger Klaggesang ist, die unendlich beruhigende Wirkung auf uns ausübt, die allem Hohen und Großen, aller Vereinigung der Einzelexistenzen und Einzelkräfte zu Einer Totalwirksamkeit eigen ist. Die einfachern Chöre eignen sich wohl auch für die Darstellung erregterer Massenempfindungen, wenn es sich nämlich um eine schlechthin einmüthig bewegte Masse, wie z. B. um Kriegerchöre handelt; das Höchste aber, was sie leisten können, sind doch jene zusammenfassenden und abschließenden Ge- sammtstimmungen, über die hinaus kein weiteres Fortschreiten der musika- lischen Bewegung stattfindet. Allein damit verlieren die streng polyphonen Formen an ihrem Werthe nichts, sie sind da für alle bewegtern und zugleich die einzelnen Individuen oder Theile eines Ganzen lebendiger durchdringen- den Mehrheits- oder Massenempfindungen, sie stellen die Mehrheit oder Masse als eine in ihren Gliedern, Personen, Altern, Geschlechtern von einer Stimmung aufgeregte dar, sie sind dramatischer, wie jene lyrischer, sie führen die Gesammtbewegung der beruhigten Auflösung in Ein großes Ganzes erst entgegen; sie können zwar (wie z. B. Schlußfugen) in vielen Fällen auch selber abschließen, indem auch ihnen in Stimmführung und Rhythmi- strung die Mittel zur allmäligen Herbeiführung eines beruhigenden Total- eindrucks nicht durchaus fehlen, sie sind namentlich dann zum Schlusse ge- eignet, wenn das ganze Tonwerk so lebhaft erregt war, daß eine Abschließung mittelst polyphoner Musik im Gegensatz zum Uebrigen immer noch beruhigend wirkt, allein eigentlich sind sie doch dazu da, die Bewegung in Gang zu bringen, sie in's Weite und Breite auszudehnen, sie zu steigern und zu vermannigfaltigen, sie anschwellen und immer lebendiger wogen und pul- siren zu lassen, bis der Culminationspunct erreicht und daher die Zeit zu einfach großem Ausklingen des Ganzen gekommen ist. Auch in den kleinern mehrstimmigen Tonstücken, in Terzetten u. s. w. zeigt sich dieser Unterschied individuellerer Erregtheit, bei der die Stimmen sich spalten, gegen einander agiren, einander wechselvoll ablösen u. s. f., und ruhigerer, allgemeinerer Haltung, bei der sie zu Einem Gesammtgesange verschmelzen, ohne damit
daß ſie die Einheit wiederum hervorkehren, daß ſie die Tonmaſſe ganz, ungetheilt und dadurch ſowohl groß als ruhig, einfach und concentrirt zum Gefühle reden laſſen; nur in ihnen iſt wahre Totalität, ſchwere Wucht, Auflöſung aller individuellen Bewegungen und Empfindungen in den Strom Einer univerſellen, allumfaſſenden, die Harmonie des Weltalls nachbildenden, das Gemüth über alles Einzelne beſeligend hinaushebenden, in ſich geſät- tigten großen Geſammtſtimmung; mit ihnen, mit den einfachern Chören langen wir an beim Ende, bei dem höchſten und letzten Sammel- und Ruhepunct, über den hinaus die Muſik uns nichts mehr zu bieten vermag; in ihnen faßt ſie alle Kraft, alle Freude, alle Wehmuth, die aufgeboten werden kann oder dargeſtellt werden ſoll, zu einem Geſammtbilde zuſammen, das ſelbſt, wenn es trauriger Klaggeſang iſt, die unendlich beruhigende Wirkung auf uns ausübt, die allem Hohen und Großen, aller Vereinigung der Einzelexiſtenzen und Einzelkräfte zu Einer Totalwirkſamkeit eigen iſt. Die einfachern Chöre eignen ſich wohl auch für die Darſtellung erregterer Maſſenempfindungen, wenn es ſich nämlich um eine ſchlechthin einmüthig bewegte Maſſe, wie z. B. um Kriegerchöre handelt; das Höchſte aber, was ſie leiſten können, ſind doch jene zuſammenfaſſenden und abſchließenden Ge- ſammtſtimmungen, über die hinaus kein weiteres Fortſchreiten der muſika- liſchen Bewegung ſtattfindet. Allein damit verlieren die ſtreng polyphonen Formen an ihrem Werthe nichts, ſie ſind da für alle bewegtern und zugleich die einzelnen Individuen oder Theile eines Ganzen lebendiger durchdringen- den Mehrheits- oder Maſſenempfindungen, ſie ſtellen die Mehrheit oder Maſſe als eine in ihren Gliedern, Perſonen, Altern, Geſchlechtern von einer Stimmung aufgeregte dar, ſie ſind dramatiſcher, wie jene lyriſcher, ſie führen die Geſammtbewegung der beruhigten Auflöſung in Ein großes Ganzes erſt entgegen; ſie können zwar (wie z. B. Schlußfugen) in vielen Fällen auch ſelber abſchließen, indem auch ihnen in Stimmführung und Rhythmi- ſtrung die Mittel zur allmäligen Herbeiführung eines beruhigenden Total- eindrucks nicht durchaus fehlen, ſie ſind namentlich dann zum Schluſſe ge- eignet, wenn das ganze Tonwerk ſo lebhaft erregt war, daß eine Abſchließung mittelſt polyphoner Muſik im Gegenſatz zum Uebrigen immer noch beruhigend wirkt, allein eigentlich ſind ſie doch dazu da, die Bewegung in Gang zu bringen, ſie in’s Weite und Breite auszudehnen, ſie zu ſteigern und zu vermannigfaltigen, ſie anſchwellen und immer lebendiger wogen und pul- ſiren zu laſſen, bis der Culminationspunct erreicht und daher die Zeit zu einfach großem Ausklingen des Ganzen gekommen iſt. Auch in den kleinern mehrſtimmigen Tonſtücken, in Terzetten u. ſ. w. zeigt ſich dieſer Unterſchied individuellerer Erregtheit, bei der die Stimmen ſich ſpalten, gegen einander agiren, einander wechſelvoll ablöſen u. ſ. f., und ruhigerer, allgemeinerer Haltung, bei der ſie zu Einem Geſammtgeſange verſchmelzen, ohne damit
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[1013/0251]
daß ſie die Einheit wiederum hervorkehren, daß ſie die Tonmaſſe ganz,
ungetheilt und dadurch ſowohl groß als ruhig, einfach und concentrirt zum
Gefühle reden laſſen; nur in ihnen iſt wahre Totalität, ſchwere Wucht,
Auflöſung aller individuellen Bewegungen und Empfindungen in den Strom
Einer univerſellen, allumfaſſenden, die Harmonie des Weltalls nachbildenden,
das Gemüth über alles Einzelne beſeligend hinaushebenden, in ſich geſät-
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langen wir an beim Ende, bei dem höchſten und letzten Sammel- und
Ruhepunct, über den hinaus die Muſik uns nichts mehr zu bieten vermag;
in ihnen faßt ſie alle Kraft, alle Freude, alle Wehmuth, die aufgeboten
werden kann oder dargeſtellt werden ſoll, zu einem Geſammtbilde zuſammen,
das ſelbſt, wenn es trauriger Klaggeſang iſt, die unendlich beruhigende
Wirkung auf uns ausübt, die allem Hohen und Großen, aller Vereinigung
der Einzelexiſtenzen und Einzelkräfte zu Einer Totalwirkſamkeit eigen iſt.
Die einfachern Chöre eignen ſich wohl auch für die Darſtellung erregterer
Maſſenempfindungen, wenn es ſich nämlich um eine ſchlechthin einmüthig
bewegte Maſſe, wie z. B. um Kriegerchöre handelt; das Höchſte aber, was
ſie leiſten können, ſind doch jene zuſammenfaſſenden und abſchließenden Ge-
ſammtſtimmungen, über die hinaus kein weiteres Fortſchreiten der muſika-
liſchen Bewegung ſtattfindet. Allein damit verlieren die ſtreng polyphonen
Formen an ihrem Werthe nichts, ſie ſind da für alle bewegtern und zugleich
die einzelnen Individuen oder Theile eines Ganzen lebendiger durchdringen-
den Mehrheits- oder Maſſenempfindungen, ſie ſtellen die Mehrheit oder
Maſſe als eine in ihren Gliedern, Perſonen, Altern, Geſchlechtern von einer
Stimmung aufgeregte dar, ſie ſind dramatiſcher, wie jene lyriſcher, ſie führen
die Geſammtbewegung der beruhigten Auflöſung in Ein großes Ganzes
erſt entgegen; ſie können zwar (wie z. B. Schlußfugen) in vielen Fällen
auch ſelber abſchließen, indem auch ihnen in Stimmführung und Rhythmi-
ſtrung die Mittel zur allmäligen Herbeiführung eines beruhigenden Total-
eindrucks nicht durchaus fehlen, ſie ſind namentlich dann zum Schluſſe ge-
eignet, wenn das ganze Tonwerk ſo lebhaft erregt war, daß eine Abſchließung
mittelſt polyphoner Muſik im Gegenſatz zum Uebrigen immer noch beruhigend
wirkt, allein eigentlich ſind ſie doch dazu da, die Bewegung in Gang zu
bringen, ſie in’s Weite und Breite auszudehnen, ſie zu ſteigern und zu
vermannigfaltigen, ſie anſchwellen und immer lebendiger wogen und pul-
ſiren zu laſſen, bis der Culminationspunct erreicht und daher die Zeit zu
einfach großem Ausklingen des Ganzen gekommen iſt. Auch in den kleinern
mehrſtimmigen Tonſtücken, in Terzetten u. ſ. w. zeigt ſich dieſer Unterſchied
individuellerer Erregtheit, bei der die Stimmen ſich ſpalten, gegen einander
agiren, einander wechſelvoll ablöſen u. ſ. f., und ruhigerer, allgemeinerer
Haltung, bei der ſie zu Einem Geſammtgeſange verſchmelzen, ohne damit
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1013. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/251>, abgerufen am 21.11.2024.
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