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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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besondern Verhältnissen, bei besonders ernster Feierlichkeit die passende ist
und bei steter Wiederholung auch einförmig und ermüdend würde.

Mit der religiösen Musik, auf deren weitere historisch gegebene Formen
(Antiphonien, Litaneien, Lamentationen u. s. w.) der Schluß des §. der
Vollständigkeit wegen kurz hinweist, hat die Vocalmusik quantitativ und
qualitativ ihre höchste Höhe erreicht; eine ihr verwandte "ethische Musik"
(vgl. S. 1003) würde, weil sie doch weniger transscendent wäre, der In-
strumentalmusik mehr Umfang einräumen und daher in die dritte Haupt-
gattung gehören, unter welche Oratorium und Oper fallen; wir gehen
daher zunächst über zur Instrumentalmusik.

b. Die Instrumentalmusik.
§. 805.

Die Körperwelt bietet der Musik eine Reihe von Organen an, welche der
menschlichen Stimme in Bezug auf Weichheit, Innigkeit, Rundung des Tones
nachstehen, aber sie, alle zusammengenommen, übertreffen nicht nur durch größere
Freiheit der Handhabung, durch raschere Beweglichkeit, sondern auch in Bezug
auf Umfang, Kraft, Intensität, Dehnbarkeit des Tons, sowie durch eine den
verschiedenen Stimmungskreisen und Stylarten entsprechende Mannigfaltigkeit
der Klangfarben. Am nächsten stehen in letzterer Rücksicht der Menschenstimme
die Blasinstrumente, am fernsten diejenigen Saiteninstrumente, denen
der Ton durch Anschlagen oder Reißen entlockt wird, wiederum weniger fern
die Streichinstrumente, in denen der Begriff des "Instruments" als eines
allen künstlerischen Zwecken dienenden, vollkommen fügsamen Organes sich am
vollständigsten realisirt. Durch Construction und Klangfarbe stehen die ver-
schiedenen Gattungen und Arten der Instrumente zugleich in spezisischen Be-
ziehungen zu den Hauptelementen der Musik, zu Melodie, Harmonie und
Rhythmus.

Von dem Wesen der Menschenstimme (das gerade durch seinen Contrast
zu dem der Instrumente klar in's Licht gesetzt und daher erst hier spezieller
besprochen wird) gilt in Vergleich mit den äußern Musikorganen Dasselbe,
was in §. 794 ff. von der Vocalmusik überhaupt gesagt wurde. Sie ist
das singende, die Empfindung direct ausströmende, die Bewegungen des
Innern in allen Graden, Stufen, Wechseln, Nüancen mit vollster Unmittel-
barkeit und Wahrheit wiedergebende, bei aller Kraft weich-innig dem Gefühl
sich anschmiegende Organ, das zugleich durch die eigenthümliche Rundung
und Klarheit seines Tones, welcher das eigentlich Scharfe, Spitze, Dünne,

beſondern Verhältniſſen, bei beſonders ernſter Feierlichkeit die paſſende iſt
und bei ſteter Wiederholung auch einförmig und ermüdend würde.

Mit der religiöſen Muſik, auf deren weitere hiſtoriſch gegebene Formen
(Antiphonien, Litaneien, Lamentationen u. ſ. w.) der Schluß des §. der
Vollſtändigkeit wegen kurz hinweist, hat die Vocalmuſik quantitativ und
qualitativ ihre höchſte Höhe erreicht; eine ihr verwandte „ethiſche Muſik“
(vgl. S. 1003) würde, weil ſie doch weniger transſcendent wäre, der In-
ſtrumentalmuſik mehr Umfang einräumen und daher in die dritte Haupt-
gattung gehören, unter welche Oratorium und Oper fallen; wir gehen
daher zunächſt über zur Inſtrumentalmuſik.

β. Die Inſtrumentalmuſik.
§. 805.

Die Körperwelt bietet der Muſik eine Reihe von Organen an, welche der
menſchlichen Stimme in Bezug auf Weichheit, Innigkeit, Rundung des Tones
nachſtehen, aber ſie, alle zuſammengenommen, übertreffen nicht nur durch größere
Freiheit der Handhabung, durch raſchere Beweglichkeit, ſondern auch in Bezug
auf Umfang, Kraft, Intenſität, Dehnbarkeit des Tons, ſowie durch eine den
verſchiedenen Stimmungskreiſen und Stylarten entſprechende Mannigfaltigkeit
der Klangfarben. Am nächſten ſtehen in letzterer Rückſicht der Menſchenſtimme
die Blasinſtrumente, am fernſten diejenigen Saiteninſtrumente, denen
der Ton durch Anſchlagen oder Reißen entlockt wird, wiederum weniger fern
die Streichinſtrumente, in denen der Begriff des „Inſtruments“ als eines
allen künſtleriſchen Zwecken dienenden, vollkommen fügſamen Organes ſich am
vollſtändigſten realiſirt. Durch Conſtruction und Klangfarbe ſtehen die ver-
ſchiedenen Gattungen und Arten der Inſtrumente zugleich in ſpeziſiſchen Be-
ziehungen zu den Hauptelementen der Muſik, zu Melodie, Harmonie und
Rhythmus.

Von dem Weſen der Menſchenſtimme (das gerade durch ſeinen Contraſt
zu dem der Inſtrumente klar in’s Licht geſetzt und daher erſt hier ſpezieller
beſprochen wird) gilt in Vergleich mit den äußern Muſikorganen Daſſelbe,
was in §. 794 ff. von der Vocalmuſik überhaupt geſagt wurde. Sie iſt
das ſingende, die Empfindung direct ausſtrömende, die Bewegungen des
Innern in allen Graden, Stufen, Wechſeln, Nüancen mit vollſter Unmittel-
barkeit und Wahrheit wiedergebende, bei aller Kraft weich-innig dem Gefühl
ſich anſchmiegende Organ, das zugleich durch die eigenthümliche Rundung
und Klarheit ſeines Tones, welcher das eigentlich Scharfe, Spitze, Dünne,

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[1023/0261] beſondern Verhältniſſen, bei beſonders ernſter Feierlichkeit die paſſende iſt und bei ſteter Wiederholung auch einförmig und ermüdend würde. Mit der religiöſen Muſik, auf deren weitere hiſtoriſch gegebene Formen (Antiphonien, Litaneien, Lamentationen u. ſ. w.) der Schluß des §. der Vollſtändigkeit wegen kurz hinweist, hat die Vocalmuſik quantitativ und qualitativ ihre höchſte Höhe erreicht; eine ihr verwandte „ethiſche Muſik“ (vgl. S. 1003) würde, weil ſie doch weniger transſcendent wäre, der In- ſtrumentalmuſik mehr Umfang einräumen und daher in die dritte Haupt- gattung gehören, unter welche Oratorium und Oper fallen; wir gehen daher zunächſt über zur Inſtrumentalmuſik. β. Die Inſtrumentalmuſik. §. 805. Die Körperwelt bietet der Muſik eine Reihe von Organen an, welche der menſchlichen Stimme in Bezug auf Weichheit, Innigkeit, Rundung des Tones nachſtehen, aber ſie, alle zuſammengenommen, übertreffen nicht nur durch größere Freiheit der Handhabung, durch raſchere Beweglichkeit, ſondern auch in Bezug auf Umfang, Kraft, Intenſität, Dehnbarkeit des Tons, ſowie durch eine den verſchiedenen Stimmungskreiſen und Stylarten entſprechende Mannigfaltigkeit der Klangfarben. Am nächſten ſtehen in letzterer Rückſicht der Menſchenſtimme die Blasinſtrumente, am fernſten diejenigen Saiteninſtrumente, denen der Ton durch Anſchlagen oder Reißen entlockt wird, wiederum weniger fern die Streichinſtrumente, in denen der Begriff des „Inſtruments“ als eines allen künſtleriſchen Zwecken dienenden, vollkommen fügſamen Organes ſich am vollſtändigſten realiſirt. Durch Conſtruction und Klangfarbe ſtehen die ver- ſchiedenen Gattungen und Arten der Inſtrumente zugleich in ſpeziſiſchen Be- ziehungen zu den Hauptelementen der Muſik, zu Melodie, Harmonie und Rhythmus. Von dem Weſen der Menſchenſtimme (das gerade durch ſeinen Contraſt zu dem der Inſtrumente klar in’s Licht geſetzt und daher erſt hier ſpezieller beſprochen wird) gilt in Vergleich mit den äußern Muſikorganen Daſſelbe, was in §. 794 ff. von der Vocalmuſik überhaupt geſagt wurde. Sie iſt das ſingende, die Empfindung direct ausſtrömende, die Bewegungen des Innern in allen Graden, Stufen, Wechſeln, Nüancen mit vollſter Unmittel- barkeit und Wahrheit wiedergebende, bei aller Kraft weich-innig dem Gefühl ſich anſchmiegende Organ, das zugleich durch die eigenthümliche Rundung und Klarheit ſeines Tones, welcher das eigentlich Scharfe, Spitze, Dünne,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1023. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/261>, abgerufen am 21.11.2024.