seine leichtere und freiere Handhabung überhaupt, theils besonders durch den ausdrucksvollen Wechsel des Forte und Piano, den es seinem Spieler verstattet, sowie auch durch seine dabei doch wie bei allen bisher betrachteten Musikorganen durch das Maaß menschlich individueller Kraft beschränkte Tonstärke. Dieses Instrument ist die Orgel, welche mit weit größerer Fähigkeit für mannigfaltig polyphones Spiel eine ganz eigenthümliche Ge- walt des Tones und eine alle Einmischung des rein Subjectiven schlechthin von sich weisende Objectivität verbindet. Die Orgel ist wieder ein Pfeifen- instrument und damit ein Instrument der frei ein- und ausströmenden Luft, durch welche auch hier ein runder, wenigstens in den höhern Lagen heller, aber unscharfer, nicht eigentlich klarer und ein weniger als bei der Flöte dünner Ton entsteht, letzteres, weil die Pfeifen hier weiter, namentlich kegelförmig gebohrt sind, und weil wohl auch das weiche Metall dem Klange alles Distincte und Spitze benimmt. Der Klangfarbe nach steht somit die Orgel, wie alle Rohrinstrumente, der Menschenstimme sehr nahe; aber eigenthümlich ist ihr einmal dieß, daß die Luft in sie nicht gehaucht, sondern stark eingeblasen wird, sodann daß dieses durch einen Mechanismus bewirkte Einblasen ein schlechthin gleichförmiges ist, so daß der Ton beliebig ausgehalten werden kann, und so lang er dauert unabänderlich sich selbst gleich feststeht, sowie endlich dieß, daß hier dem Aushalten nicht wie bei andern Musikorganen das fließende Schleifen zur Seite steht, sondern die Töne durchaus discret einander ablösen, und zwar noch mehr als beim Clavier, bei welchem doch immer ein leiser Nachhall des eben verlassenen Tones neben dem neu an- geschlagenen forttönt. Auf diesen drei Momenten beruhen zunächst die zwei Haupteigenschaften der Orgel, ihre ideale, hohe durchgreifende Kraft und ihre elementarische, substantielle Objectivität. Ohne gerade eine besonders effectiv einschneidende Tonstärke zu haben, welche vielmehr bei der Orgel im Verhältniß zu den Massen, welche sie aufbietet, klein ist, weil ihr die durch- dringende Klarheit und Schärfe abgeht (s. S. 913), hat doch die Orgel eine Kraft, die allen andern Instrumenten schlechthin versagt ist; zur An- sprache wird sie vom Menschen gebracht, aber in Bewegung wird sie gesetzt nicht von beschränkter menschlicher Lungen- und Muskelkraft, sondern von einer bereitgehaltenen elastischen Luftmasse, die einmal frei gelassen mit dem intensiven, unwiderstehlichen Zuge einer entfesselten Naturkraft wirkt, neben welchem alle menschliche Kraftanstrengung als Null erscheint; wie eine man weiß nicht woher kommende, dem dunkeln Schooß weltbewegender Kräfte entstiegene, geisterhafte höhere Gewalt braust die vollgenommene Orgel, besonders in den Baßtönen, und auch wo nur einzelne, zartere Register erklingen, hat ihr Ton ein bestimmtes, von allem Schwanken und Oscilliren freies Auftreten, das den reinen Contrast bildet zu den nie dieser absoluten Sicherheit und Unwandelbarkeit fähigen Tönen anderer Organe; es ist ein
ſeine leichtere und freiere Handhabung überhaupt, theils beſonders durch den ausdrucksvollen Wechſel des Forte und Piano, den es ſeinem Spieler verſtattet, ſowie auch durch ſeine dabei doch wie bei allen bisher betrachteten Muſikorganen durch das Maaß menſchlich individueller Kraft beſchränkte Tonſtärke. Dieſes Inſtrument iſt die Orgel, welche mit weit größerer Fähigkeit für mannigfaltig polyphones Spiel eine ganz eigenthümliche Ge- walt des Tones und eine alle Einmiſchung des rein Subjectiven ſchlechthin von ſich weiſende Objectivität verbindet. Die Orgel iſt wieder ein Pfeifen- inſtrument und damit ein Inſtrument der frei ein- und ausſtrömenden Luft, durch welche auch hier ein runder, wenigſtens in den höhern Lagen heller, aber unſcharfer, nicht eigentlich klarer und ein weniger als bei der Flöte dünner Ton entſteht, letzteres, weil die Pfeifen hier weiter, namentlich kegelförmig gebohrt ſind, und weil wohl auch das weiche Metall dem Klange alles Diſtincte und Spitze benimmt. Der Klangfarbe nach ſteht ſomit die Orgel, wie alle Rohrinſtrumente, der Menſchenſtimme ſehr nahe; aber eigenthümlich iſt ihr einmal dieß, daß die Luft in ſie nicht gehaucht, ſondern ſtark eingeblaſen wird, ſodann daß dieſes durch einen Mechanismus bewirkte Einblaſen ein ſchlechthin gleichförmiges iſt, ſo daß der Ton beliebig ausgehalten werden kann, und ſo lang er dauert unabänderlich ſich ſelbſt gleich feſtſteht, ſowie endlich dieß, daß hier dem Aushalten nicht wie bei andern Muſikorganen das fließende Schleifen zur Seite ſteht, ſondern die Töne durchaus discret einander ablöſen, und zwar noch mehr als beim Clavier, bei welchem doch immer ein leiſer Nachhall des eben verlaſſenen Tones neben dem neu an- geſchlagenen forttönt. Auf dieſen drei Momenten beruhen zunächſt die zwei Haupteigenſchaften der Orgel, ihre ideale, hohe durchgreifende Kraft und ihre elementariſche, ſubſtantielle Objectivität. Ohne gerade eine beſonders effectiv einſchneidende Tonſtärke zu haben, welche vielmehr bei der Orgel im Verhältniß zu den Maſſen, welche ſie aufbietet, klein iſt, weil ihr die durch- dringende Klarheit und Schärfe abgeht (ſ. S. 913), hat doch die Orgel eine Kraft, die allen andern Inſtrumenten ſchlechthin verſagt iſt; zur An- ſprache wird ſie vom Menſchen gebracht, aber in Bewegung wird ſie geſetzt nicht von beſchränkter menſchlicher Lungen- und Muskelkraft, ſondern von einer bereitgehaltenen elaſtiſchen Luftmaſſe, die einmal frei gelaſſen mit dem intenſiven, unwiderſtehlichen Zuge einer entfeſſelten Naturkraft wirkt, neben welchem alle menſchliche Kraftanſtrengung als Null erſcheint; wie eine man weiß nicht woher kommende, dem dunkeln Schooß weltbewegender Kräfte entſtiegene, geiſterhafte höhere Gewalt braust die vollgenommene Orgel, beſonders in den Baßtönen, und auch wo nur einzelne, zartere Regiſter erklingen, hat ihr Ton ein beſtimmtes, von allem Schwanken und Oscilliren freies Auftreten, das den reinen Contraſt bildet zu den nie dieſer abſoluten Sicherheit und Unwandelbarkeit fähigen Tönen anderer Organe; es iſt ein
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[1042/0280]
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den ausdrucksvollen Wechſel des Forte und Piano, den es ſeinem Spieler
verſtattet, ſowie auch durch ſeine dabei doch wie bei allen bisher betrachteten
Muſikorganen durch das Maaß menſchlich individueller Kraft beſchränkte
Tonſtärke. Dieſes Inſtrument iſt die Orgel, welche mit weit größerer
Fähigkeit für mannigfaltig polyphones Spiel eine ganz eigenthümliche Ge-
walt des Tones und eine alle Einmiſchung des rein Subjectiven ſchlechthin
von ſich weiſende Objectivität verbindet. Die Orgel iſt wieder ein Pfeifen-
inſtrument und damit ein Inſtrument der frei ein- und ausſtrömenden Luft,
durch welche auch hier ein runder, wenigſtens in den höhern Lagen heller, aber
unſcharfer, nicht eigentlich klarer und ein weniger als bei der Flöte dünner Ton
entſteht, letzteres, weil die Pfeifen hier weiter, namentlich kegelförmig gebohrt
ſind, und weil wohl auch das weiche Metall dem Klange alles Diſtincte und
Spitze benimmt. Der Klangfarbe nach ſteht ſomit die Orgel, wie alle
Rohrinſtrumente, der Menſchenſtimme ſehr nahe; aber eigenthümlich iſt ihr
einmal dieß, daß die Luft in ſie nicht gehaucht, ſondern ſtark eingeblaſen
wird, ſodann daß dieſes durch einen Mechanismus bewirkte Einblaſen ein
ſchlechthin gleichförmiges iſt, ſo daß der Ton beliebig ausgehalten werden
kann, und ſo lang er dauert unabänderlich ſich ſelbſt gleich feſtſteht, ſowie
endlich dieß, daß hier dem Aushalten nicht wie bei andern Muſikorganen
das fließende Schleifen zur Seite ſteht, ſondern die Töne durchaus discret
einander ablöſen, und zwar noch mehr als beim Clavier, bei welchem doch
immer ein leiſer Nachhall des eben verlaſſenen Tones neben dem neu an-
geſchlagenen forttönt. Auf dieſen drei Momenten beruhen zunächſt die zwei
Haupteigenſchaften der Orgel, ihre ideale, hohe durchgreifende Kraft und
ihre elementariſche, ſubſtantielle Objectivität. Ohne gerade eine beſonders
effectiv einſchneidende Tonſtärke zu haben, welche vielmehr bei der Orgel im
Verhältniß zu den Maſſen, welche ſie aufbietet, klein iſt, weil ihr die durch-
dringende Klarheit und Schärfe abgeht (ſ. S. 913), hat doch die Orgel
eine Kraft, die allen andern Inſtrumenten ſchlechthin verſagt iſt; zur An-
ſprache wird ſie vom Menſchen gebracht, aber in Bewegung wird ſie geſetzt
nicht von beſchränkter menſchlicher Lungen- und Muskelkraft, ſondern von
einer bereitgehaltenen elaſtiſchen Luftmaſſe, die einmal frei gelaſſen mit dem
intenſiven, unwiderſtehlichen Zuge einer entfeſſelten Naturkraft wirkt, neben
welchem alle menſchliche Kraftanſtrengung als Null erſcheint; wie eine man
weiß nicht woher kommende, dem dunkeln Schooß weltbewegender Kräfte
entſtiegene, geiſterhafte höhere Gewalt braust die vollgenommene Orgel,
beſonders in den Baßtönen, und auch wo nur einzelne, zartere Regiſter
erklingen, hat ihr Ton ein beſtimmtes, von allem Schwanken und Oscilliren
freies Auftreten, das den reinen Contraſt bildet zu den nie dieſer abſoluten
Sicherheit und Unwandelbarkeit fähigen Tönen anderer Organe; es iſt ein
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1042. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/280>, abgerufen am 22.11.2024.
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