und dabei etwa auch die Schlaginstrumente wegläßt, ist als "einfaches Orchester" zu bezeichnen; "volles Orchester" ist eine solche, welche auch die Unterarten (sowie die nothwendigsten Schlaginstrumente) vollständig vereinigt nur mit Ausnahme derjenigen, welche zu besondern, gewöhnlich nicht erforderlichen Wirkungen bestimmt sind, d. h. namentlich der Pracht- und Kraftinstrumente, Posaune, Trommel u. s. w.; "voll" ist ein solches Orchester bereits, weil ihm nichts fehlt zu kräftigem, schönem, mannigfaltig charakteristischem Ausdruck der Stimmungen, mit denen die Kunst in der Regel zu thun hat; die Besetzung dagegen, welche auch die Pracht- und Kraftinstrumente aufnimmt, geht bereits über das Volle, das keine Leere empfinden läßt, hinaus, sie ergibt das "verstärkte Orchester," das schon deßwegen immer Ausnahme ist, weil seine Blas- und Schlaginstrumente selbst den vollzähligst besetzten Chor der Streichinstrumente so überwiegen, daß es eigentlich zwei Orchester, zwei Instrumentalchöre sind, die neben und gegen einander agiren. Im "vollen Orchester" ist es anders, der ebenso straffe als feine Violonen- und Violinenton behauptet hier das Uebergewicht, er umspannt und durchdringt die Tonmasse mit überlegener Kraft und hält sie so zu Einem Ganzen zusammen, daher eben nur dieses volle Orchester auch das normale Orchester ist.
2. Das Orchester wirkt theils als einheitliches Tonganzes, theils, das Prinzip des ein- und mehrstimmigen Satzes in sich aufnehmend, als Neben- und Miteinander der besondern in ihm enthaltenen Instrumente und In- strumentengruppen. Im ersten Falle verschmelzen sich die Schallkräfte und Klangfarben zu Einer "gediegenen" Masse, obwohl auch hier wiederum mannigfache Unterschiede möglich sind, indem die Gediegenheit absolut ist, wenn die Blasinstrumente den Streichorganen untergeordnet werden, aber desto mehr nur relativ wird, je mehr die erstern an der Melodieführung sowie an der Harmoniefüllung selbständig theilnehmen (indem z. B. Hörner und Trompeten nicht unison, z. B. in der Tonica, Dominante, sondern in vollgegliedertem Accorde mittönen). Der Klang dieser Masse, der "Orchester- klang," ist vermöge der Combination aus den beiden Hauptgattungen eine Mischung von Straffheit und Weichheit, von an sich haltender Inten- sität und breit ausströmender Fülle, von tonus und sonus, in welcher eben nach dem so oder anders genommenen Mischungsverhältniß das erste Element das zweite stärker oder nur geringer überwiegt; auch kann das zweite ge- radezu die erste Stelle einnehmen, indem die Streichorgane mit der Rolle der Begleitung des Chors der Blasinstrumente sich begnügen; der Orchester- klang hat so zwei Pole, zwischen denen er sich in mannigfachen Abstufungen hinundherbewegt, obwohl im Ganzen der erste, der intensivere Pol der Schwerpunct ist, der nicht zu lange verlassen werden darf, da auf seiner Einhaltung die Einheit sowie die wahre innerliche Kraft des Orchesters
Vischer's Aesthetik. 4. Band. 69
und dabei etwa auch die Schlaginſtrumente wegläßt, iſt als „einfaches Orcheſter“ zu bezeichnen; „volles Orcheſter“ iſt eine ſolche, welche auch die Unterarten (ſowie die nothwendigſten Schlaginſtrumente) vollſtändig vereinigt nur mit Ausnahme derjenigen, welche zu beſondern, gewöhnlich nicht erforderlichen Wirkungen beſtimmt ſind, d. h. namentlich der Pracht- und Kraftinſtrumente, Poſaune, Trommel u. ſ. w.; „voll“ iſt ein ſolches Orcheſter bereits, weil ihm nichts fehlt zu kräftigem, ſchönem, mannigfaltig charakteriſtiſchem Ausdruck der Stimmungen, mit denen die Kunſt in der Regel zu thun hat; die Beſetzung dagegen, welche auch die Pracht- und Kraftinſtrumente aufnimmt, geht bereits über das Volle, das keine Leere empfinden läßt, hinaus, ſie ergibt das „verſtärkte Orcheſter,“ das ſchon deßwegen immer Ausnahme iſt, weil ſeine Blas- und Schlaginſtrumente ſelbſt den vollzähligſt beſetzten Chor der Streichinſtrumente ſo überwiegen, daß es eigentlich zwei Orcheſter, zwei Inſtrumentalchöre ſind, die neben und gegen einander agiren. Im „vollen Orcheſter“ iſt es anders, der ebenſo ſtraffe als feine Violonen- und Violinenton behauptet hier das Uebergewicht, er umſpannt und durchdringt die Tonmaſſe mit überlegener Kraft und hält ſie ſo zu Einem Ganzen zuſammen, daher eben nur dieſes volle Orcheſter auch das normale Orcheſter iſt.
2. Das Orcheſter wirkt theils als einheitliches Tonganzes, theils, das Prinzip des ein- und mehrſtimmigen Satzes in ſich aufnehmend, als Neben- und Miteinander der beſondern in ihm enthaltenen Inſtrumente und In- ſtrumentengruppen. Im erſten Falle verſchmelzen ſich die Schallkräfte und Klangfarben zu Einer „gediegenen“ Maſſe, obwohl auch hier wiederum mannigfache Unterſchiede möglich ſind, indem die Gediegenheit abſolut iſt, wenn die Blasinſtrumente den Streichorganen untergeordnet werden, aber deſto mehr nur relativ wird, je mehr die erſtern an der Melodieführung ſowie an der Harmoniefüllung ſelbſtändig theilnehmen (indem z. B. Hörner und Trompeten nicht uniſon, z. B. in der Tonica, Dominante, ſondern in vollgegliedertem Accorde mittönen). Der Klang dieſer Maſſe, der „Orcheſter- klang,“ iſt vermöge der Combination aus den beiden Hauptgattungen eine Miſchung von Straffheit und Weichheit, von an ſich haltender Inten- ſität und breit ausſtrömender Fülle, von tonus und sonus, in welcher eben nach dem ſo oder anders genommenen Miſchungsverhältniß das erſte Element das zweite ſtärker oder nur geringer überwiegt; auch kann das zweite ge- radezu die erſte Stelle einnehmen, indem die Streichorgane mit der Rolle der Begleitung des Chors der Blasinſtrumente ſich begnügen; der Orcheſter- klang hat ſo zwei Pole, zwiſchen denen er ſich in mannigfachen Abſtufungen hinundherbewegt, obwohl im Ganzen der erſte, der intenſivere Pol der Schwerpunct iſt, der nicht zu lange verlaſſen werden darf, da auf ſeiner Einhaltung die Einheit ſowie die wahre innerliche Kraft des Orcheſters
Viſcher’s Aeſthetik. 4. Band. 69
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und dabei etwa auch die Schlaginſtrumente wegläßt, iſt als „einfaches
Orcheſter“ zu bezeichnen; „volles Orcheſter“ iſt eine ſolche, welche
auch die Unterarten (ſowie die nothwendigſten Schlaginſtrumente) vollſtändig
vereinigt nur mit Ausnahme derjenigen, welche zu beſondern, gewöhnlich
nicht erforderlichen Wirkungen beſtimmt ſind, d. h. namentlich der Pracht-
und Kraftinſtrumente, Poſaune, Trommel u. ſ. w.; „voll“ iſt ein ſolches
Orcheſter bereits, weil ihm nichts fehlt zu kräftigem, ſchönem, mannigfaltig
charakteriſtiſchem Ausdruck der Stimmungen, mit denen die Kunſt in der
Regel zu thun hat; die Beſetzung dagegen, welche auch die Pracht- und
Kraftinſtrumente aufnimmt, geht bereits über das Volle, das keine Leere
empfinden läßt, hinaus, ſie ergibt das „verſtärkte Orcheſter,“ das
ſchon deßwegen immer Ausnahme iſt, weil ſeine Blas- und Schlaginſtrumente
ſelbſt den vollzähligſt beſetzten Chor der Streichinſtrumente ſo überwiegen,
daß es eigentlich zwei Orcheſter, zwei Inſtrumentalchöre ſind, die neben und
gegen einander agiren. Im „vollen Orcheſter“ iſt es anders, der ebenſo
ſtraffe als feine Violonen- und Violinenton behauptet hier das Uebergewicht,
er umſpannt und durchdringt die Tonmaſſe mit überlegener Kraft und hält
ſie ſo zu Einem Ganzen zuſammen, daher eben nur dieſes volle Orcheſter
auch das normale Orcheſter iſt.
2. Das Orcheſter wirkt theils als einheitliches Tonganzes, theils, das
Prinzip des ein- und mehrſtimmigen Satzes in ſich aufnehmend, als Neben-
und Miteinander der beſondern in ihm enthaltenen Inſtrumente und In-
ſtrumentengruppen. Im erſten Falle verſchmelzen ſich die Schallkräfte und
Klangfarben zu Einer „gediegenen“ Maſſe, obwohl auch hier wiederum
mannigfache Unterſchiede möglich ſind, indem die Gediegenheit abſolut iſt,
wenn die Blasinſtrumente den Streichorganen untergeordnet werden, aber
deſto mehr nur relativ wird, je mehr die erſtern an der Melodieführung
ſowie an der Harmoniefüllung ſelbſtändig theilnehmen (indem z. B. Hörner
und Trompeten nicht uniſon, z. B. in der Tonica, Dominante, ſondern in
vollgegliedertem Accorde mittönen). Der Klang dieſer Maſſe, der „Orcheſter-
klang,“ iſt vermöge der Combination aus den beiden Hauptgattungen
eine Miſchung von Straffheit und Weichheit, von an ſich haltender Inten-
ſität und breit ausſtrömender Fülle, von tonus und sonus, in welcher eben
nach dem ſo oder anders genommenen Miſchungsverhältniß das erſte Element
das zweite ſtärker oder nur geringer überwiegt; auch kann das zweite ge-
radezu die erſte Stelle einnehmen, indem die Streichorgane mit der Rolle
der Begleitung des Chors der Blasinſtrumente ſich begnügen; der Orcheſter-
klang hat ſo zwei Pole, zwiſchen denen er ſich in mannigfachen Abſtufungen
hinundherbewegt, obwohl im Ganzen der erſte, der intenſivere Pol der
Schwerpunct iſt, der nicht zu lange verlaſſen werden darf, da auf ſeiner
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1063. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/301>, abgerufen am 21.11.2024.
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