dem pantomimischen Drama mit Instrumentalbegleitung, einer Form, die durch sich selbst auf einen engen Kreis poetischer Darstellungen beschränkt ist, der Musik aber allerdings Stoff zu charakteristischen Compositionen gewähren kann.
§. 821.
1.
Wenn das dramatische Tonwerk über die Schilderung einfacherer und beschränkterer Vorgänge zur eigentlichen "Handlung" von größerem Umfang und von concreter Entwicklung sich ausdehnt, welche das Product der Charaktere einer Mehrheit in ihr zusammentreffender Personen und bestimmter Verhältnisse und Situationen, in denen sie sich finden, ist und ihrem ganzen Verlaufe nach 2.bis zu ihrem nothwendigen Abschlusse zur Darstellung kommt, so ist hiemit die Oper gegeben. Die Musik ist in der Oper Selbstzweck, nicht bloßes Mittel zu einer Verschärfung oder Verdeutlichung des dramatischen Ausdrucks, und die Anlage des Drama's muß daher der Musik zu freier Entfaltung ihrer selbst, d. h. zu ungehemmter Gefühlsmalerei, die ihr Wesen ist, Raum gewähren. Andrerseits ist der Zweck der Oper eine rein dramatische, Handlung und zwar eben diese bestimmte Handlung zu musikalischem Ausdruck erhebende Musik, der dramatische Ausdruck also Grundgesetz der Opernmusik. Beide Forderungen finden ihre Vereinigung und Vermittlung darin, daß die Oper so angelegt ist, daß in der Handlung, im Drama selbst der Gefühlsgehalt das Ueberwiegende und überall Heraustretende ist, das Drama somit selbst einen musikalischen Aus- druck, der überall Gefühl in reichen Formen und Farben oder in freier Ent- faltung der Mittel der Musik malt, nicht nur zuläßt, sondern geradezu fordert.
1. Kleinere Formen, wie die Scene, die nur eine einzelne dramatische Situation oder (wie die Ode-symphonie Columbus von F. David) eine Reihe solcher musikalisch, wiewohl ohne theatralische Darstellung (somit noch in der Art des Oratoriums) veranschaulicht, das Sing- und Liederspiel, das Vaudeville (Singspiel, das vorzugsweise Volkslieder in sich auf- nimmt), können als Uebergangsstufen zwischen Oratorium sowie zwischen reiner Vocalmusik und Oper wohl für sich bestehen, aber sie bilden keine Hauptgattung, weil es ihnen an einer sich in sich verwickelnden und ver- tiefenden Handlung fehlt; sie heben nur den Gefühlsgehalt einzelner Mo- mente heraus, sie sind Situationsbilder (§. 711) oder Reihen von solchen und lassen daher auch mit der Musik den Dialog abwechseln, sobald die lyrischen Momente vorüber sind und die Handlung, d. h. das was sie an Handlung haben und dem es an musikalisch zu schildernder innerer drama- tischer Erregtheit und Bedeutsamkeit fehlt, wieder ihren Verlauf nimmt. Um musikalisch darstellbar zu sein, muß, wie schon §. 820 bemerkt ist, die Handlung stärkern Gefühlsgehalt, höhere Eindringlichkeit und Nachdrück-
dem pantomimiſchen Drama mit Inſtrumentalbegleitung, einer Form, die durch ſich ſelbſt auf einen engen Kreis poetiſcher Darſtellungen beſchränkt iſt, der Muſik aber allerdings Stoff zu charakteriſtiſchen Compoſitionen gewähren kann.
§. 821.
1.
Wenn das dramatiſche Tonwerk über die Schilderung einfacherer und beſchränkterer Vorgänge zur eigentlichen „Handlung“ von größerem Umfang und von concreter Entwicklung ſich ausdehnt, welche das Product der Charaktere einer Mehrheit in ihr zuſammentreffender Perſonen und beſtimmter Verhältniſſe und Situationen, in denen ſie ſich finden, iſt und ihrem ganzen Verlaufe nach 2.bis zu ihrem nothwendigen Abſchluſſe zur Darſtellung kommt, ſo iſt hiemit die Oper gegeben. Die Muſik iſt in der Oper Selbſtzweck, nicht bloßes Mittel zu einer Verſchärfung oder Verdeutlichung des dramatiſchen Ausdrucks, und die Anlage des Drama’s muß daher der Muſik zu freier Entfaltung ihrer ſelbſt, d. h. zu ungehemmter Gefühlsmalerei, die ihr Weſen iſt, Raum gewähren. Andrerſeits iſt der Zweck der Oper eine rein dramatiſche, Handlung und zwar eben dieſe beſtimmte Handlung zu muſikaliſchem Ausdruck erhebende Muſik, der dramatiſche Ausdruck alſo Grundgeſetz der Opernmuſik. Beide Forderungen finden ihre Vereinigung und Vermittlung darin, daß die Oper ſo angelegt iſt, daß in der Handlung, im Drama ſelbſt der Gefühlsgehalt das Ueberwiegende und überall Heraustretende iſt, das Drama ſomit ſelbſt einen muſikaliſchen Aus- druck, der überall Gefühl in reichen Formen und Farben oder in freier Ent- faltung der Mittel der Muſik malt, nicht nur zuläßt, ſondern geradezu fordert.
1. Kleinere Formen, wie die Scene, die nur eine einzelne dramatiſche Situation oder (wie die Ode-ſymphonie Columbus von F. David) eine Reihe ſolcher muſikaliſch, wiewohl ohne theatraliſche Darſtellung (ſomit noch in der Art des Oratoriums) veranſchaulicht, das Sing- und Liederſpiel, das Vaudeville (Singſpiel, das vorzugsweiſe Volkslieder in ſich auf- nimmt), können als Uebergangsſtufen zwiſchen Oratorium ſowie zwiſchen reiner Vocalmuſik und Oper wohl für ſich beſtehen, aber ſie bilden keine Hauptgattung, weil es ihnen an einer ſich in ſich verwickelnden und ver- tiefenden Handlung fehlt; ſie heben nur den Gefühlsgehalt einzelner Mo- mente heraus, ſie ſind Situationsbilder (§. 711) oder Reihen von ſolchen und laſſen daher auch mit der Muſik den Dialog abwechſeln, ſobald die lyriſchen Momente vorüber ſind und die Handlung, d. h. das was ſie an Handlung haben und dem es an muſikaliſch zu ſchildernder innerer drama- tiſcher Erregtheit und Bedeutſamkeit fehlt, wieder ihren Verlauf nimmt. Um muſikaliſch darſtellbar zu ſein, muß, wie ſchon §. 820 bemerkt iſt, die Handlung ſtärkern Gefühlsgehalt, höhere Eindringlichkeit und Nachdrück-
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[1112/0350]
dem pantomimiſchen Drama mit Inſtrumentalbegleitung, einer Form, die
durch ſich ſelbſt auf einen engen Kreis poetiſcher Darſtellungen beſchränkt
iſt, der Muſik aber allerdings Stoff zu charakteriſtiſchen Compoſitionen
gewähren kann.
§. 821.
Wenn das dramatiſche Tonwerk über die Schilderung einfacherer und
beſchränkterer Vorgänge zur eigentlichen „Handlung“ von größerem Umfang und
von concreter Entwicklung ſich ausdehnt, welche das Product der Charaktere
einer Mehrheit in ihr zuſammentreffender Perſonen und beſtimmter Verhältniſſe
und Situationen, in denen ſie ſich finden, iſt und ihrem ganzen Verlaufe nach
bis zu ihrem nothwendigen Abſchluſſe zur Darſtellung kommt, ſo iſt hiemit die
Oper gegeben. Die Muſik iſt in der Oper Selbſtzweck, nicht bloßes Mittel zu
einer Verſchärfung oder Verdeutlichung des dramatiſchen Ausdrucks, und die
Anlage des Drama’s muß daher der Muſik zu freier Entfaltung ihrer ſelbſt,
d. h. zu ungehemmter Gefühlsmalerei, die ihr Weſen iſt, Raum gewähren.
Andrerſeits iſt der Zweck der Oper eine rein dramatiſche, Handlung und zwar
eben dieſe beſtimmte Handlung zu muſikaliſchem Ausdruck erhebende Muſik,
der dramatiſche Ausdruck alſo Grundgeſetz der Opernmuſik. Beide Forderungen
finden ihre Vereinigung und Vermittlung darin, daß die Oper ſo angelegt iſt,
daß in der Handlung, im Drama ſelbſt der Gefühlsgehalt das Ueberwiegende
und überall Heraustretende iſt, das Drama ſomit ſelbſt einen muſikaliſchen Aus-
druck, der überall Gefühl in reichen Formen und Farben oder in freier Ent-
faltung der Mittel der Muſik malt, nicht nur zuläßt, ſondern geradezu fordert.
1. Kleinere Formen, wie die Scene, die nur eine einzelne dramatiſche
Situation oder (wie die Ode-ſymphonie Columbus von F. David) eine
Reihe ſolcher muſikaliſch, wiewohl ohne theatraliſche Darſtellung (ſomit noch
in der Art des Oratoriums) veranſchaulicht, das Sing- und Liederſpiel,
das Vaudeville (Singſpiel, das vorzugsweiſe Volkslieder in ſich auf-
nimmt), können als Uebergangsſtufen zwiſchen Oratorium ſowie zwiſchen
reiner Vocalmuſik und Oper wohl für ſich beſtehen, aber ſie bilden keine
Hauptgattung, weil es ihnen an einer ſich in ſich verwickelnden und ver-
tiefenden Handlung fehlt; ſie heben nur den Gefühlsgehalt einzelner Mo-
mente heraus, ſie ſind Situationsbilder (§. 711) oder Reihen von ſolchen
und laſſen daher auch mit der Muſik den Dialog abwechſeln, ſobald die
lyriſchen Momente vorüber ſind und die Handlung, d. h. das was ſie an
Handlung haben und dem es an muſikaliſch zu ſchildernder innerer drama-
tiſcher Erregtheit und Bedeutſamkeit fehlt, wieder ihren Verlauf nimmt.
Um muſikaliſch darſtellbar zu ſein, muß, wie ſchon §. 820 bemerkt iſt, die
Handlung ſtärkern Gefühlsgehalt, höhere Eindringlichkeit und Nachdrück-
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1112. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/350>, abgerufen am 21.11.2024.
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