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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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poetische Oper kann daher wohl auch eine tragische, aber nicht eine Tragödie
sein und kann das Tragische nicht zum Hauptstoffe haben, weil nicht jeder
Stoff dieser Art die einfachere Opernbehandlung zuläßt. Ein weiterer Zweifel
könnte darüber entstehen, ob innerhalb der Kategorie der ernsten Oper nicht
ein Unterschied gemacht werden sollte zwischen Opern, in welchen das
Einzelindividuum, und solchen, in denen eine größere Gesammt-
heit
die Hauptperson ist und den Mittelpunct des Ganzen bildet. Das
Oratorium leistet Großes in dieser letztern Gattung (Judas Maccabäus,
Israel in Aegypten); soll die Oper es ihm nicht gleichthun? soll sie nicht
auch Völkergeschicke auf die Bühne bringen und mit den Chören, die sie
dazu aufzubieten hätte, großartigere Wirkungen erstreben, als sie es ge-
wöhnlich thut? Die Frage ist zu bejahen, sofern in dieser Beziehung aller-
dings mehr geschehen kann, als namentlich in der classischen Blüthezeit der
deutschen Oper geschehen ist, aber zu verneinen, sofern damit gemeint wäre,
es sollte geradezu die Gesammtheit statt des Einzelsubjects zum Mittelpunct
der Handlung gemacht werden. Dieß konnte bis jetzt selbst von R. Wagner
nicht versucht werden, weil nur das individuelle Leben so begrenzt und so
bedingt, so beweglich ist, um in dem Wechsel der Activität sowohl als der
Geschicke dargestellt zu werden, ohne welchen es kein Drama und vollends
keine Oper gibt. Es wäre allerdings eine würdige Aufgabe der zukünftigen
Musik, etwa in heroischen Opern, von welcher Gattung ohnedieß für die
Musik mehr zu hoffen ist als von der mythischromantischen, Individuum
und Gesammtheit in eine engere Verbindung zu bringen, in eine Verbindung
wie sie von Händel in seinen Oratorien ausgeführt, von Gluck in kleinerem
Maaßstabe versucht wurde, und wie sie Beethoven bei seiner sinfonia eroica
vorgeschwebt haben mag. Einfach ist die Sache freilich nicht; große Massen
sind für die Oper bald zu schwer, und der tiefpraktische Ernst, der solche
Tonwerke zu durchdringen hätte, könnte sich mit dem Singen, das auf der
Bühne gerade durch seinen Contrast zur gewöhnlichen Stimmungsäußerung
(zur Rede) sich stets als etwas rein Poetisches ausnimmt, leicht als un-
verträglich zeigen; die Frage muß daher eine offene bleiben und ihre Beant-
wortung von künftigen Entwicklungen erwartet werden.

Ueber die Stellung des Orchesters in der Oper ist nach früher
(besonders §. 820) Bemerktem nur beizufügen, daß es nicht blos die Einzel-
gesänge, Arien, Chöre u. s. f. und nicht blos die einzelnen Handlungen
malend, ausführend, verstärkend, sympathisirend begleitet, sondern auch die
beharrliche harmonische Grundlage der großen Opermelodie bildet (vgl. S. 897).
Das Orchester schlingt ein Band der Einheit um das in Scenen, Hand-
lungen und Personen stets wechselnde Ganze; wegen des Ueberwiegens
und Heraustretens des Gefühlsgehalts muß die Oper die Handlung in
eine Reihe von Scenen zerfällen, in welchen das Gefühl sich ausspricht,

poetiſche Oper kann daher wohl auch eine tragiſche, aber nicht eine Tragödie
ſein und kann das Tragiſche nicht zum Hauptſtoffe haben, weil nicht jeder
Stoff dieſer Art die einfachere Opernbehandlung zuläßt. Ein weiterer Zweifel
könnte darüber entſtehen, ob innerhalb der Kategorie der ernſten Oper nicht
ein Unterſchied gemacht werden ſollte zwiſchen Opern, in welchen das
Einzelindividuum, und ſolchen, in denen eine größere Geſammt-
heit
die Hauptperſon iſt und den Mittelpunct des Ganzen bildet. Das
Oratorium leiſtet Großes in dieſer letztern Gattung (Judas Maccabäus,
Israel in Aegypten); ſoll die Oper es ihm nicht gleichthun? ſoll ſie nicht
auch Völkergeſchicke auf die Bühne bringen und mit den Chören, die ſie
dazu aufzubieten hätte, großartigere Wirkungen erſtreben, als ſie es ge-
wöhnlich thut? Die Frage iſt zu bejahen, ſofern in dieſer Beziehung aller-
dings mehr geſchehen kann, als namentlich in der claſſiſchen Blüthezeit der
deutſchen Oper geſchehen iſt, aber zu verneinen, ſofern damit gemeint wäre,
es ſollte geradezu die Geſammtheit ſtatt des Einzelſubjects zum Mittelpunct
der Handlung gemacht werden. Dieß konnte bis jetzt ſelbſt von R. Wagner
nicht verſucht werden, weil nur das individuelle Leben ſo begrenzt und ſo
bedingt, ſo beweglich iſt, um in dem Wechſel der Activität ſowohl als der
Geſchicke dargeſtellt zu werden, ohne welchen es kein Drama und vollends
keine Oper gibt. Es wäre allerdings eine würdige Aufgabe der zukünftigen
Muſik, etwa in heroiſchen Opern, von welcher Gattung ohnedieß für die
Muſik mehr zu hoffen iſt als von der mythiſchromantiſchen, Individuum
und Geſammtheit in eine engere Verbindung zu bringen, in eine Verbindung
wie ſie von Händel in ſeinen Oratorien ausgeführt, von Gluck in kleinerem
Maaßſtabe verſucht wurde, und wie ſie Beethoven bei ſeiner sinfonia eroica
vorgeſchwebt haben mag. Einfach iſt die Sache freilich nicht; große Maſſen
ſind für die Oper bald zu ſchwer, und der tiefpraktiſche Ernſt, der ſolche
Tonwerke zu durchdringen hätte, könnte ſich mit dem Singen, das auf der
Bühne gerade durch ſeinen Contraſt zur gewöhnlichen Stimmungsäußerung
(zur Rede) ſich ſtets als etwas rein Poetiſches ausnimmt, leicht als un-
verträglich zeigen; die Frage muß daher eine offene bleiben und ihre Beant-
wortung von künftigen Entwicklungen erwartet werden.

Ueber die Stellung des Orcheſters in der Oper iſt nach früher
(beſonders §. 820) Bemerktem nur beizufügen, daß es nicht blos die Einzel-
geſänge, Arien, Chöre u. ſ. f. und nicht blos die einzelnen Handlungen
malend, ausführend, verſtärkend, ſympathiſirend begleitet, ſondern auch die
beharrliche harmoniſche Grundlage der großen Opermelodie bildet (vgl. S. 897).
Das Orcheſter ſchlingt ein Band der Einheit um das in Scenen, Hand-
lungen und Perſonen ſtets wechſelnde Ganze; wegen des Ueberwiegens
und Heraustretens des Gefühlsgehalts muß die Oper die Handlung in
eine Reihe von Scenen zerfällen, in welchen das Gefühl ſich ausſpricht,

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[1121/0359] poetiſche Oper kann daher wohl auch eine tragiſche, aber nicht eine Tragödie ſein und kann das Tragiſche nicht zum Hauptſtoffe haben, weil nicht jeder Stoff dieſer Art die einfachere Opernbehandlung zuläßt. Ein weiterer Zweifel könnte darüber entſtehen, ob innerhalb der Kategorie der ernſten Oper nicht ein Unterſchied gemacht werden ſollte zwiſchen Opern, in welchen das Einzelindividuum, und ſolchen, in denen eine größere Geſammt- heit die Hauptperſon iſt und den Mittelpunct des Ganzen bildet. Das Oratorium leiſtet Großes in dieſer letztern Gattung (Judas Maccabäus, Israel in Aegypten); ſoll die Oper es ihm nicht gleichthun? ſoll ſie nicht auch Völkergeſchicke auf die Bühne bringen und mit den Chören, die ſie dazu aufzubieten hätte, großartigere Wirkungen erſtreben, als ſie es ge- wöhnlich thut? Die Frage iſt zu bejahen, ſofern in dieſer Beziehung aller- dings mehr geſchehen kann, als namentlich in der claſſiſchen Blüthezeit der deutſchen Oper geſchehen iſt, aber zu verneinen, ſofern damit gemeint wäre, es ſollte geradezu die Geſammtheit ſtatt des Einzelſubjects zum Mittelpunct der Handlung gemacht werden. Dieß konnte bis jetzt ſelbſt von R. Wagner nicht verſucht werden, weil nur das individuelle Leben ſo begrenzt und ſo bedingt, ſo beweglich iſt, um in dem Wechſel der Activität ſowohl als der Geſchicke dargeſtellt zu werden, ohne welchen es kein Drama und vollends keine Oper gibt. Es wäre allerdings eine würdige Aufgabe der zukünftigen Muſik, etwa in heroiſchen Opern, von welcher Gattung ohnedieß für die Muſik mehr zu hoffen iſt als von der mythiſchromantiſchen, Individuum und Geſammtheit in eine engere Verbindung zu bringen, in eine Verbindung wie ſie von Händel in ſeinen Oratorien ausgeführt, von Gluck in kleinerem Maaßſtabe verſucht wurde, und wie ſie Beethoven bei ſeiner sinfonia eroica vorgeſchwebt haben mag. Einfach iſt die Sache freilich nicht; große Maſſen ſind für die Oper bald zu ſchwer, und der tiefpraktiſche Ernſt, der ſolche Tonwerke zu durchdringen hätte, könnte ſich mit dem Singen, das auf der Bühne gerade durch ſeinen Contraſt zur gewöhnlichen Stimmungsäußerung (zur Rede) ſich ſtets als etwas rein Poetiſches ausnimmt, leicht als un- verträglich zeigen; die Frage muß daher eine offene bleiben und ihre Beant- wortung von künftigen Entwicklungen erwartet werden. Ueber die Stellung des Orcheſters in der Oper iſt nach früher (beſonders §. 820) Bemerktem nur beizufügen, daß es nicht blos die Einzel- geſänge, Arien, Chöre u. ſ. f. und nicht blos die einzelnen Handlungen malend, ausführend, verſtärkend, ſympathiſirend begleitet, ſondern auch die beharrliche harmoniſche Grundlage der großen Opermelodie bildet (vgl. S. 897). Das Orcheſter ſchlingt ein Band der Einheit um das in Scenen, Hand- lungen und Perſonen ſtets wechſelnde Ganze; wegen des Ueberwiegens und Heraustretens des Gefühlsgehalts muß die Oper die Handlung in eine Reihe von Scenen zerfällen, in welchen das Gefühl ſich ausſpricht,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1121. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/359>, abgerufen am 24.11.2024.