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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857.

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freiem Aufschwung, in ungetrübtem Wohlgefühl individuellen Daseins allein
befriedigten Empfindungsweise, der aber auch deßwegen nicht auffallen darf,
weil die Alten in Ermanglung der harmonischen Ausdrucksmittel solche in
der Tonbewegung selbst suchen und daher diejenigen Tongeschlechter bevor-
zugen mußten, welche bereits an sich concrete Farbe haben und dieselbe auch
der unisonen Melodie mittheilen. Eine solche Musik des unmittelbarsten
Idealismus war natürlich blos dadurch auf die Länge möglich, daß sie keine
weitern Ansprüche machte als die, einerseits den Stimmungsausdruck der
dramatischen und lyrischen Poesie zu verstärken, zu schärfen, zu heben,
rhythmisch zu beleben, jeder Art von Feier gleichsam als letzten, den Stim-
mungscharakter symbolisch klar bezeichnenden Umriß noch die Töne der einen
oder andern Scala in melodischer Bewegung beizugeben, andrerseits aber
eben durch diese feste und klare Tonsymbolik, sowie durch das feste Takt-
maaß, durch die Einfachheit des unisonen Klanges, durch die gehaltene und
gemessene, wenig Intervallwechsel zulassende Melodiebewegung den Stim-
mungsausdruck zu idealisiren, ihm im Gegensatz zu allem Naturalismus
leidenschaftlicher Erregtheit die Geschlossenheit in sich selbst, die höhere geistige
Ruhe zu verleihen, welche der plastische Sinn des Hellenenthums von der
Kunst als eine Pflicht forderte, weil sie auch das stärker erregte Leben in
festem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Gesetzmäßigkeit darstellen sollte
(wovon selbst nicht die bewegtere dithyrambische Weise, sondern nur die
orgiastische Musik dionysischer Culte eine Ausnahme machte); die Musik
wirkte nur zum Ganzen mit, als belebendes und als maaßgebendes Element
zugleich, und sie blieb daher melodischrhythmische Declamation und Beglei-
tungsmusik, sie trat nur wenig aus dieser Stellung heraus, die sie fest-
halten mußte, wenn nicht die mit ihr untrennbar verflochtene Dramatik
und Lyrik selbst zu Grund gehen sollte. Das naturgemäße Bedürfniß nach
concreterer Belebung der Musik durch Harmonie machte sich auch geltend;
die Monodie wurde bereits mit höhern und tiefern Octaven-, Quint-,
Quartklängen der Lyra begleitet; aber weiter zu gehen, auch die andern,
die sogen. diaphonischen Intervalle, wie die Terz, anzuwenden oder gar den
Zwei- zum Dreiklang zu erweitern, dieß gelang nicht oder fand es, wenn
es versucht ward, Mißbilligung; was die klare Durchsichtigkeit der Musik
alterirte, galt dem griechischen Ohre als verletzend, und auch die Versuche
diaphonische Intervalle anzuwenden hatten wohl mehr das Streben nach
größerer Mannigfaltigkeit, namentlich der Instrumentenmusik, als ein Be-
dürfniß nach gefühlreicherer Erwärmung der unisonen Musik zu ihrer Grund-
lage; die Musik sollte ja überhaupt die Gefühle nicht aufregen, nicht schmelzend
auf das Gemüth wirken, sondern dem das Gemüth erfassenden musikalischen
Stimmungsausdruck stets zugleich Bestimmtheit, klare Form, festes Maaß,
geregelte Bewegung geben und so in derselben Art vor Allem beruhigen,

freiem Aufſchwung, in ungetrübtem Wohlgefühl individuellen Daſeins allein
befriedigten Empfindungsweiſe, der aber auch deßwegen nicht auffallen darf,
weil die Alten in Ermanglung der harmoniſchen Ausdrucksmittel ſolche in
der Tonbewegung ſelbſt ſuchen und daher diejenigen Tongeſchlechter bevor-
zugen mußten, welche bereits an ſich concrete Farbe haben und dieſelbe auch
der uniſonen Melodie mittheilen. Eine ſolche Muſik des unmittelbarſten
Idealiſmus war natürlich blos dadurch auf die Länge möglich, daß ſie keine
weitern Anſprüche machte als die, einerſeits den Stimmungsausdruck der
dramatiſchen und lyriſchen Poeſie zu verſtärken, zu ſchärfen, zu heben,
rhythmiſch zu beleben, jeder Art von Feier gleichſam als letzten, den Stim-
mungscharakter ſymboliſch klar bezeichnenden Umriß noch die Töne der einen
oder andern Scala in melodiſcher Bewegung beizugeben, andrerſeits aber
eben durch dieſe feſte und klare Tonſymbolik, ſowie durch das feſte Takt-
maaß, durch die Einfachheit des uniſonen Klanges, durch die gehaltene und
gemeſſene, wenig Intervallwechſel zulaſſende Melodiebewegung den Stim-
mungsausdruck zu idealiſiren, ihm im Gegenſatz zu allem Naturalismus
leidenſchaftlicher Erregtheit die Geſchloſſenheit in ſich ſelbſt, die höhere geiſtige
Ruhe zu verleihen, welche der plaſtiſche Sinn des Hellenenthums von der
Kunſt als eine Pflicht forderte, weil ſie auch das ſtärker erregte Leben in
feſtem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Geſetzmäßigkeit darſtellen ſollte
(wovon ſelbſt nicht die bewegtere dithyrambiſche Weiſe, ſondern nur die
orgiaſtiſche Muſik dionyſiſcher Culte eine Ausnahme machte); die Muſik
wirkte nur zum Ganzen mit, als belebendes und als maaßgebendes Element
zugleich, und ſie blieb daher melodiſchrhythmiſche Declamation und Beglei-
tungsmuſik, ſie trat nur wenig aus dieſer Stellung heraus, die ſie feſt-
halten mußte, wenn nicht die mit ihr untrennbar verflochtene Dramatik
und Lyrik ſelbſt zu Grund gehen ſollte. Das naturgemäße Bedürfniß nach
concreterer Belebung der Muſik durch Harmonie machte ſich auch geltend;
die Monodie wurde bereits mit höhern und tiefern Octaven-, Quint-,
Quartklängen der Lyra begleitet; aber weiter zu gehen, auch die andern,
die ſogen. diaphoniſchen Intervalle, wie die Terz, anzuwenden oder gar den
Zwei- zum Dreiklang zu erweitern, dieß gelang nicht oder fand es, wenn
es verſucht ward, Mißbilligung; was die klare Durchſichtigkeit der Muſik
alterirte, galt dem griechiſchen Ohre als verletzend, und auch die Verſuche
diaphoniſche Intervalle anzuwenden hatten wohl mehr das Streben nach
größerer Mannigfaltigkeit, namentlich der Inſtrumentenmuſik, als ein Be-
dürfniß nach gefühlreicherer Erwärmung der uniſonen Muſik zu ihrer Grund-
lage; die Muſik ſollte ja überhaupt die Gefühle nicht aufregen, nicht ſchmelzend
auf das Gemüth wirken, ſondern dem das Gemüth erfaſſenden muſikaliſchen
Stimmungsausdruck ſtets zugleich Beſtimmtheit, klare Form, feſtes Maaß,
geregelte Bewegung geben und ſo in derſelben Art vor Allem beruhigen,

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[1128/0366] freiem Aufſchwung, in ungetrübtem Wohlgefühl individuellen Daſeins allein befriedigten Empfindungsweiſe, der aber auch deßwegen nicht auffallen darf, weil die Alten in Ermanglung der harmoniſchen Ausdrucksmittel ſolche in der Tonbewegung ſelbſt ſuchen und daher diejenigen Tongeſchlechter bevor- zugen mußten, welche bereits an ſich concrete Farbe haben und dieſelbe auch der uniſonen Melodie mittheilen. Eine ſolche Muſik des unmittelbarſten Idealiſmus war natürlich blos dadurch auf die Länge möglich, daß ſie keine weitern Anſprüche machte als die, einerſeits den Stimmungsausdruck der dramatiſchen und lyriſchen Poeſie zu verſtärken, zu ſchärfen, zu heben, rhythmiſch zu beleben, jeder Art von Feier gleichſam als letzten, den Stim- mungscharakter ſymboliſch klar bezeichnenden Umriß noch die Töne der einen oder andern Scala in melodiſcher Bewegung beizugeben, andrerſeits aber eben durch dieſe feſte und klare Tonſymbolik, ſowie durch das feſte Takt- maaß, durch die Einfachheit des uniſonen Klanges, durch die gehaltene und gemeſſene, wenig Intervallwechſel zulaſſende Melodiebewegung den Stim- mungsausdruck zu idealiſiren, ihm im Gegenſatz zu allem Naturalismus leidenſchaftlicher Erregtheit die Geſchloſſenheit in ſich ſelbſt, die höhere geiſtige Ruhe zu verleihen, welche der plaſtiſche Sinn des Hellenenthums von der Kunſt als eine Pflicht forderte, weil ſie auch das ſtärker erregte Leben in feſtem, allgemeingültigem Maaß, in idealer Geſetzmäßigkeit darſtellen ſollte (wovon ſelbſt nicht die bewegtere dithyrambiſche Weiſe, ſondern nur die orgiaſtiſche Muſik dionyſiſcher Culte eine Ausnahme machte); die Muſik wirkte nur zum Ganzen mit, als belebendes und als maaßgebendes Element zugleich, und ſie blieb daher melodiſchrhythmiſche Declamation und Beglei- tungsmuſik, ſie trat nur wenig aus dieſer Stellung heraus, die ſie feſt- halten mußte, wenn nicht die mit ihr untrennbar verflochtene Dramatik und Lyrik ſelbſt zu Grund gehen ſollte. Das naturgemäße Bedürfniß nach concreterer Belebung der Muſik durch Harmonie machte ſich auch geltend; die Monodie wurde bereits mit höhern und tiefern Octaven-, Quint-, Quartklängen der Lyra begleitet; aber weiter zu gehen, auch die andern, die ſogen. diaphoniſchen Intervalle, wie die Terz, anzuwenden oder gar den Zwei- zum Dreiklang zu erweitern, dieß gelang nicht oder fand es, wenn es verſucht ward, Mißbilligung; was die klare Durchſichtigkeit der Muſik alterirte, galt dem griechiſchen Ohre als verletzend, und auch die Verſuche diaphoniſche Intervalle anzuwenden hatten wohl mehr das Streben nach größerer Mannigfaltigkeit, namentlich der Inſtrumentenmuſik, als ein Be- dürfniß nach gefühlreicherer Erwärmung der uniſonen Muſik zu ihrer Grund- lage; die Muſik ſollte ja überhaupt die Gefühle nicht aufregen, nicht ſchmelzend auf das Gemüth wirken, ſondern dem das Gemüth erfaſſenden muſikaliſchen Stimmungsausdruck ſtets zugleich Beſtimmtheit, klare Form, feſtes Maaß, geregelte Bewegung geben und ſo in derſelben Art vor Allem beruhigen,

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Zitationshilfe: Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1128. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/366>, abgerufen am 21.11.2024.