Ziel, der Darstellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des Gehalts und Ernstes sie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der monodischen Musik, das schwebende Aufundabirren der Töne ohne feste Baßbasis unbeseitigt, die Melodie ist nur multiplicirt, nicht aber eine Ge- schlossenheit des Kunstwerks in sich selbst erreicht, die es nur erhält, wenn die Harmonie sich auch nach ihrer der Melodie entgegengesetzten Seite, als stützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an diesem Mangel tritt am klarsten hervor, welches an sich doch berechtigte Motiv dieser einseitig polyphonen Kunst zu Grund liegt, es ist die Stimmenfülle und Stimmenselbständigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtsein individueller Selbstberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es ist das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit seiner lebendigmalerischen Mannigfaltigkeit, was der an sich trockenen Kunstform Reiz verleiht und sie sogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz ihrer so abstract scheinenden Systematik. Nirgends tritt das indirect ideali- stische Prinzip, das auf Gestaltenschönheit verzichtet und auf weitem Umweg mit vielen Härten und Schroffheiten eine Gesammtwirkung sucht, so spre- chend heraus und dem direct idealistischen entgegen, es tritt ihm entgegen selber in der Weise der Form, die sonst Hauptmoment des andern Prinzips ist, weil eben diese Form doch das Moment der Individualität, sowie das eines naturalistischern Klang- und Figurenreichthums, zu seiner Berechtigung bringt. Discantus, Auseinandersingen, bei belebtern Stücken auch Fuga, Stimmenjagen (welche erst später zu dem symmetrischer gebauten Stimmgefüge, das die jetzige Fuge darstellt, sich fortbildete), nannte man diese contrapunc- tischen Gesänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verselbständigung und das freie Gegeneinanderspielen der Stimmen der Zeit selbst als das Charakteristische, als das was sie eigentlich wollte, vorschwebte; kommt es doch vor Palestrina so weit, daß man in extremster Opposition gegen die altkirch- liche Monotonie in der Liturgie verschiedene Stücke derselben, ja nebenbei weltliche Melodieen, zusammen und durcheinander singt, weil eben die In- dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr sich fügen will.
§. 825.
Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine Umbildung hauptsächlich der kirchlichen Vocalmusik; sie bringt in sie eine Viel- stimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche sie erst wirk- licher Chorgesang, Musik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem religiösen Inhalte bewegten Gesammtheit wird. Die niederländischen Meister bilden sie in dieser Richtung immer weiter aus, das Moment des rein Musikalischen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erst
Ziel, der Darſtellung lebendiger Gemüthserregung, abzulenken und des Gehalts und Ernſtes ſie zu berauben. Zudem bleibt Ein Mangel der monodiſchen Muſik, das ſchwebende Aufundabirren der Töne ohne feſte Baßbaſis unbeſeitigt, die Melodie iſt nur multiplicirt, nicht aber eine Ge- ſchloſſenheit des Kunſtwerks in ſich ſelbſt erreicht, die es nur erhält, wenn die Harmonie ſich auch nach ihrer der Melodie entgegengeſetzten Seite, als ſtützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an dieſem Mangel tritt am klarſten hervor, welches an ſich doch berechtigte Motiv dieſer einſeitig polyphonen Kunſt zu Grund liegt, es iſt die Stimmenfülle und Stimmenſelbſtändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtſein individueller Selbſtberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es iſt das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit ſeiner lebendigmaleriſchen Mannigfaltigkeit, was der an ſich trockenen Kunſtform Reiz verleiht und ſie ſogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz ihrer ſo abſtract ſcheinenden Syſtematik. Nirgends tritt das indirect ideali- ſtiſche Prinzip, das auf Geſtaltenſchönheit verzichtet und auf weitem Umweg mit vielen Härten und Schroffheiten eine Geſammtwirkung ſucht, ſo ſpre- chend heraus und dem direct idealiſtiſchen entgegen, es tritt ihm entgegen ſelber in der Weiſe der Form, die ſonſt Hauptmoment des andern Prinzips iſt, weil eben dieſe Form doch das Moment der Individualität, ſowie das eines naturaliſtiſchern Klang- und Figurenreichthums, zu ſeiner Berechtigung bringt. Discantus, Auseinanderſingen, bei belebtern Stücken auch Fuga, Stimmenjagen (welche erſt ſpäter zu dem ſymmetriſcher gebauten Stimmgefüge, das die jetzige Fuge darſtellt, ſich fortbildete), nannte man dieſe contrapunc- tiſchen Geſänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verſelbſtändigung und das freie Gegeneinanderſpielen der Stimmen der Zeit ſelbſt als das Charakteriſtiſche, als das was ſie eigentlich wollte, vorſchwebte; kommt es doch vor Paleſtrina ſo weit, daß man in extremſter Oppoſition gegen die altkirch- liche Monotonie in der Liturgie verſchiedene Stücke derſelben, ja nebenbei weltliche Melodieen, zuſammen und durcheinander ſingt, weil eben die In- dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr ſich fügen will.
§. 825.
Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine Umbildung hauptſächlich der kirchlichen Vocalmuſik; ſie bringt in ſie eine Viel- ſtimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche ſie erſt wirk- licher Chorgeſang, Muſik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem religiöſen Inhalte bewegten Geſammtheit wird. Die niederländiſchen Meiſter bilden ſie in dieſer Richtung immer weiter aus, das Moment des rein Muſikaliſchen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erſt
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Baßbaſis unbeſeitigt, die Melodie iſt nur multiplicirt, nicht aber eine Ge-
ſchloſſenheit des Kunſtwerks in ſich ſelbſt erreicht, die es nur erhält, wenn
die Harmonie ſich auch nach ihrer der Melodie entgegengeſetzten Seite, als
ſtützende und begleitende Unterlage ausbildet. Allein gerade an dieſem
Mangel tritt am klarſten hervor, welches an ſich doch berechtigte Motiv
dieſer einſeitig polyphonen Kunſt zu Grund liegt, es iſt die Stimmenfülle
und Stimmenſelbſtändigkeit, an welcher jene immer mehr zum Bewußtſein
individueller Selbſtberechtigung heranreifende Zeit ihre Freude hat, es iſt
das in einander und um einander herum Spielen der Stimmen mit ſeiner
lebendigmaleriſchen Mannigfaltigkeit, was der an ſich trockenen Kunſtform
Reiz verleiht und ſie ſogar populär macht im Madrigale (§. 803) trotz
ihrer ſo abſtract ſcheinenden Syſtematik. Nirgends tritt das indirect ideali-
ſtiſche Prinzip, das auf Geſtaltenſchönheit verzichtet und auf weitem Umweg
mit vielen Härten und Schroffheiten eine Geſammtwirkung ſucht, ſo ſpre-
chend heraus und dem direct idealiſtiſchen entgegen, es tritt ihm entgegen
ſelber in der Weiſe der Form, die ſonſt Hauptmoment des andern Prinzips
iſt, weil eben dieſe Form doch das Moment der Individualität, ſowie das
eines naturaliſtiſchern Klang- und Figurenreichthums, zu ſeiner Berechtigung
bringt. Discantus, Auseinanderſingen, bei belebtern Stücken auch Fuga,
Stimmenjagen (welche erſt ſpäter zu dem ſymmetriſcher gebauten Stimmgefüge,
das die jetzige Fuge darſtellt, ſich fortbildete), nannte man dieſe contrapunc-
tiſchen Geſänge, zum deutlichen Beweis, daß eben die Verſelbſtändigung
und das freie Gegeneinanderſpielen der Stimmen der Zeit ſelbſt als das
Charakteriſtiſche, als das was ſie eigentlich wollte, vorſchwebte; kommt es doch
vor Paleſtrina ſo weit, daß man in extremſter Oppoſition gegen die altkirch-
liche Monotonie in der Liturgie verſchiedene Stücke derſelben, ja nebenbei
weltliche Melodieen, zuſammen und durcheinander ſingt, weil eben die In-
dividualität dem monotonen Concentus um keinen Preis mehr ſich fügen will.
§. 825.
Die Harmonie und Polyphonie bewirkt im fünfzehnten Jahrhundert eine
Umbildung hauptſächlich der kirchlichen Vocalmuſik; ſie bringt in ſie eine Viel-
ſtimmigkeit, Figurirung und Stimmenverflechtung, durch welche ſie erſt wirk-
licher Chorgeſang, Muſik einer in ihren einzelnen Gliedern lebendig von dem
religiöſen Inhalte bewegten Geſammtheit wird. Die niederländiſchen
Meiſter bilden ſie in dieſer Richtung immer weiter aus, das Moment des
rein Muſikaliſchen kommt allmälig wieder zur Berechtigung, obwohl erſt
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Vischer, Friedrich Theodor von: Ästhetik oder Wissenschaft des Schönen. Bd. 3,2,4. Stuttgart, 1857, S. 1133. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/vischer_aesthetik030204_1857/371>, abgerufen am 18.12.2024.
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